Exzentrische Bahnen

Friedrich Hölderlin und die Moderne

Von Achim GeisenhanslükeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Achim Geisenhanslüke

1. Hölderlin und die Moderne

Als die Herausgeber von Text + Kritik kurz vor der Jahrtausendwende renommierte Lyriker der Gegenwart wie Durs Grünbein, Thomas Kling, Barbara Köhler, Friederike Mayröcker und Peter Waterhouse aufforderten, für einen Sonderband zur Lyrik des 20. Jahrhunderts 50 repräsentative Gedichte auszuwählen, fand sich auch Friedrich Hölderlins Hälfte des Lebens aufgeführt ­­– ­ein Text, der zum ersten Mal im Jahr 1805 veröffentlicht worden ist und auf den ersten Blick kaum ins Programm passen wollte (vgl. Text + Kritik, 1999). Dass ein Gedicht aus der Sattelzeit um 1800 in den Kanon der literarischen Moderne im engeren Sinne aufgenommen wird, ist zunächst sicherlich ein ungewöhnlicher Vorgang. Rechtfertigen lässt er sich jedoch nicht allein durch die Bedeutung, die Hölderlin für die Lyriker des 20. Jahrhunderts von Rainer Maria Rilke und Georg Trakl bis zu Paul Celan und Mayröcker gewonnen hat. In vielerlei Hinsicht ist Hölderlin selbst ein Dichter des 20. Jahrhunderts, nach Jahrzehnten des Vergessens wiederentdeckt durch den George-Kreis und in der Folge immer wieder Gegenstand editorischer wie literaturgeschichtlicher und literaturtheoretischer Streitfragen. Stellt sich darüber hinaus die Frage, inwiefern die poetischen Verfahren, mit denen Hölderlin operiert, bereits ins 20. Jahrhunderte weisen – die Präsenz seiner Formsprache bei Celan, Mayröcker, Johannes Bobrowski und vielen anderen spricht dafür –, dann wird die Sache jedoch uneindeutiger. Zweifellos ist Hölderlin ein Dichter der Moderne, ja vielleicht sogar der Dichter der Moderne par excellence. Aber was heißt das eigentlich: Dichter der Moderne?

Die Einschätzung von Hölderlin als moderner Dichter ist ambivalent, weil der Begriff der Moderne selbst uneindeutig ist. Wie schon Jürgen Habermas in Der philosophische Diskurs der Moderne im Blick auf Hölderlins Studienfreund Georg Wilhelm Friedrich Hegel gezeigt hat, meint die moderne Zeit immer die eigene Zeit in ihrer jeweiligen gegenwärtigen Bestimmtheit als Überwindung der alten Zeit (Habermas 1988, 13f). Historisch lässt sich der Begriff der Moderne auf drei ganz unterschiedliche Epochenschwellen beziehen: auf die Neuzeit um 1500, die Sattelzeit um 1800 und, insbesondere in ästhetischen Zusammenhängen, auf die Jahrhundertwende um 1900. Im Fall Hölderlins kommen zunächst zwei Schwellenzeiten in Betracht: der literarische Diskurs um 1800, an dem er selbst durch die Ausbildung einer höchst eigenwilligen Position partizipiert hat, die sich in die gängige Unterscheidung von Klassik und Romantik nicht einfügen lässt, und die Jahrhundertwende, innerhalb derer seine Position zuerst überhaupt als eine ernstzunehmende wahrgenommen wurde. Ein moderner Dichter ist Hölderlin daher in einem doppelten Sinn: Zum einen, weil er als Dichter wie als Theoretiker trotz vieler Affinitäten eine Alternative bietet sowohl zu klassischen Formen, wie sie etwa Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Hegel verkörpern, als auch zu romantischen Modellen, wie sie Friedrich Schlegel, Novalis und andere vorgelegt haben. Zum anderen aber, weil er gerade durch das gewaltsame Aufsprengen klassischer und romantischer Formen zum Vorbild für die Dichtung des 20. Jahrhunderts hat werden können, die ihn folgerichtig als einen der ihren anerkennt.

Ambivalent ist die weit verbreitete Einschätzung von Hölderlin als paradigmatischer Dichter der Moderne, weil beide Begriffe der Moderne, der der Sattelzeit um 1800 und der der Jahrhundertwende, sich nicht einfach ineinander auflösen lassen. So wie sich die Kennzeichnung von Hölderlin als Dichter des 20. Jahrhunderts immer auf seine reale historische Verortung in der Zeit um 1800 verwiesen sieht, so muss die Verortung Hölderlins zwischen Klassik und Romantik umgekehrt das Moment in den Blick nehmen, das in seiner Zeit nicht einfach aufging und gerade dafür verantwortlich ist, dass Hölderlin anders als seine Zeitgenossen Schiller, Goethe oder Novalis eine Option auch für das 20. Jahrhundert geblieben ist. Was in der Auseinandersetzung mit Hölderlin nicht vergessen werden darf, ist die einfache Tatsache, dass er immer ein Dichter bleibt, der sich historisch auf der Schwelle zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert bewegt hat und erst aus dieser Schwellenerfahrung heraus zu einer Form der Dichtung fortgeschritten ist, die dann auch in der Zeit um 1900 und darüber hinaus bis in die Gegenwart hinein von Bestand bleiben konnte. Die doppelte Bestimmung Hölderlins als Dichter der Moderne zwischen der Sattelzeit um 1800 und der Jahrhundertwende prägt so eine eigentümlich dialektische Konstellation aus, die danach verlangt, stets beide Pole aufeinander zu beziehen, ohne sie in eins fallen zu lassen.

2. Antike und Moderne: „ Hälfte des Lebens“

Die diffizile Ausgangssituation, die schon mit der Frage nach Hölderlins historischer Verortung angezeigt ist, lässt sich an jenem Gedicht veranschaulichen, das den Herausgebern von Text + Kritik zufolge Eingang in den Kanon der 50 paradigmatischen Gedichte des 20. Jahrhunderts gefunden hat, an Hälfte des Lebens:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
 

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

(Hölderlin 1992, 445)

Wie schon Winfried Menninghaus gezeigt hat, kann das Gedicht nicht nur als Zeichen einer midlife crisis gelesen werden, die schon der Titel andeutet (Menninghaus 2005, 13f). Zwar verweist dieser unüberhörbar auf den Beginn von Dantes Commedia („Nel mezzo del camin di nostra vita“) und damit auf den dritten Begriff der Moderne, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Menninghaus spricht dem Gedicht darüber hinaus jedoch eine poetologische Dimension zu, die schon in der klaren Aufteilung in zwei Hälften und der Leerzeile zwischen ihnen als dem eigentlichen Ort des Sprechens angezeigt ist. Als ein poetologisches und darüber hinaus in einem paradigmatischen Sinne modernes Gedicht lässt sich Hälfte des Lebens verstehen, da es in der ersten Strophe ein antikes Schönheitsideal präsentiert, das sowohl bildlich als auch syntaktisch von einer vollkommen Harmonie geprägt ist, dem jedoch die zweite Strophe ein disharmonisches Bild entgegensetzt, das die Naturerfüllung der ersten Strophe zurücknimmt und so radikal in Frage stellt. Dass der Sprecher erst in der zweiten Strophe im „mir“ und „ich“ explizit auftritt, weist zudem darauf hin, dass der im Gedicht angesprochene Standort des Ichs keineswegs im idealischen Bild der ersten Strophe zu verorten ist, sondern in der Bewegung der Entfremdung und Erkaltung, die die zweite Strophe zum Ausdruck bringt. Anders als noch bei Schiller geht es nicht um eine Idealisierung der griechischen Antike, sondern um eine Neubestimmung der Poesie aus einer Erfahrung der Jetztzeit heraus, die sich nicht in die Vergangenheit zurücksehnt, sondern die eigene Wege zu gehen sucht. 

Hölderlins Dichtung ist so von einer Dialektik zwischen Antike und Moderne geprägt, die sich Peter Szondi zufolge der Verschränkung von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie in seinem Werk ablesen lässt (Szondi 1978, 367-407). Hölderlin folgt der Querelle des Anciens et des Modernes, um sie dialektisch zu überwinden: Hatte die griechische Poesie, wie Hegel und Hölderlin überzeugt sind, in der Form der Tragödie ihre Erfüllung gefunden, so fordert die moderne Poesie nach einer eigenen, davon unterschiedenen Form. Hölderlin sucht sie zunächst im Kontext der Tragödie selbst, indem er sich darum bemüht, mit dem Tod des Empedokles eine eigene dramatische Form zu finden. Aus dem Scheitern seiner Bemühungen zieht er ebenso radikale wie produktive Konsequenzen: Die lyrischen Bestandteile der antiken Tragödie, die Chorlieder, wie die Anknüpfung an Pindar führen ihn zu den neuen hymnischen Formen, die sein Spätwerk bestimmen. Anstelle des gattungspoetisch und geschichtsphilosophisch begründeten Vorrangs der antiken Tragödie, wie ihn noch Hegel in seiner Ästhetik zu begründen versucht, gewinnt bei Hölderlin die Lyrik eine paradigmatische Funktion für die Moderne – eine Lyrik, die geschichtsphilosophisch auf der Differenz zwischen Antike und Moderne beharrt und zugleich in ihrer eigenen Formbestimmtheit gattungspoetische Grenzen außer Kraft zu setzen sucht. Zu einem modernen Dichter wird Hölderlin, indem er sich jenseits des Postulats der Nachahmung der Antike mit den alten Mustern kritisch auseinandersetzt, um daraus eine poetische Logik zu entwickeln, die eigenen Gesetzen gehorcht und so neue Formen des Dichtens in Szene zu setzen vermag.

Hölderlins späte Dichtung, die ihn zu jenem Paradigma der Moderne hat werden lassen, als das er heute noch wahrgenommen wird, ist nicht nur von einer kritischen Auseinandersetzung mit der griechischen und in weit geringerem Ausmaße der römischen Antike gekennzeichnet. Sie verhält sich kritisch auch zu den Mustern der eigenen Zeit. Schon in den frühen Tübinger Hymnen an Friedrich Gottlieb Klopstock und Schiller geschult, entwickelt Hölderlin in seinen späten Hymnen komplexe freirhythmische Gebilde, die die Vorbilder weiterführen und überschreiten. Wo die französische Lyrik der Moderne von Charles Baudelaire bis zu Arthur Rimbaud und darüber hinaus im 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte Treue zur traditionellen Form des Alexandriners bewahrt hat, bevor sie sich von seinen Fesseln zu lösen vermochte, da entwickelt Hölderlin schon früh lyrische Formen, die sich – wiederum dialektisch vermittelt – von formalen und metrischen Vorgaben freizumachen versuchen, indem sie die sichere handwerkliche Beherrschung der Regeln mit deren Auflösung verbinden: Als an Klopstock wie an Pindar geschulter Hymnendichter findet Hölderlin zu einem neuen und in vielerlei Hinsicht unerhörten Ton, der in seinen Dichtungen wie Übersetzungen zu Lebenszeiten nur als dem Wahnsinn geschuldetes Abweichen von traditionellen Formen verstanden werden konnte, bis dieses scheinbare in die Irre gehen mit dem Zerbrechen klassischer Muster in der Zeit der Jahrhundertwende wiederentdeckt werden konnte. Die kritische Rückwendung zur Antike und die Absetzung von erfolgreichen Konkurrenzmodellen der eigenen Zeit, die sich in einer Eigenständigkeit äußert, die kaum noch zeitgenössischen Vorgaben entsprach und von diesen daher auch als solche nicht akzeptiert werden konnte, begründet Hölderlins singuläre Stellung in der Dichtung seiner Zeit und zugleich seine Modernität über diese hinaus.

3. Exzentrische Bahnen

Anders als in seinem eigenen war Hölderlin im 20. Jahrhundert daher ein gern gesehener Gast. Das gilt nicht nur für den enthusiastischen Empfang, dem ihm Stefan George, Rilke und andere zu Beginn der Jahrhundertwende bereitet haben. In ganz unterschiedliche Richtungen hineinwirkend, ist Hölderlin im 20. Jahrhundert auch zur bestimmenden Vorlage von poetologischen, philosophischen und politischen Interpretationsanstrengungen geworden. Für konservative Denker wie George oder Martin Heidegger ist er ebenso zum Vorbild geworden wie für die kritischen Intellektuellen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Auch postmoderne Denker wie Paul de Man, Jacques Derrida und Philippe Lacoue-Labarthe haben in Hölderlin einen ihrer bevorzugten Ansprechpartner gefunden. Der Streit, der sich vor diesem Hintergrund im 20. Jahrhundert um das Vorbild Hölderlin entzündet, ist nicht allein ein philosophischer, er ist zugleich ein politischer: Wo George und Heidegger Hölderlin ganz an die Idee der Privilegierung der deutschen Dichtung in der Geschichte des Abendlandes binden, da erkennen Benjamin und Adorno in Hölderlin ein revolutionäres Potential, das mit der Forderung nach einer Entfesselung titanischer Naturkräfte bereits auf Karl Marx vorausweist.

Dass Hölderlin das Interesse der Philosophie weckt, ist kaum überraschend, liegen doch die philosophischen Wurzeln seines Denkens auf der Hand. Mit den Zimmergenossen des Tübinger Stifts Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel entwickelt er schon früh ein ästhetisches Programm, das davon ausgeht, so die gemeinsame Überzeugung, die Hegel in Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus festgehalten hat, dass „der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist“ (Hegel 1971, 235). Hölderlin steht so für eine ästhetische Philosophie der Moderne ein, von der sich Schelling und Hegel dann zunehmend verabschiedet haben, während seine eigenen Anstrengungen dahin führten, die Ästhetik durch eine Poetik zu überwinden, in der der Theorie der Dichtung ebenso ein Platz zukommt wie der Dichtkunst selbst. Anders als Schelling und Hegel ist Hölderlin kein Philosoph im genuinen Sinne, aber die ästhetischen und poetologischen Grundlagen seiner Dichtung verfügen über einen philosophischen Gehalt, der seine Position zugleich zu einer Alternative zu den großen Systementwürfen seiner Tübinger Freunde werden lässt.

Heidegger, der die enthusiastische Rezeption Hölderlins von Seiten des George-Kreises teilt und weiterführt, geht es dagegen darum, Hölderlin ganz aus dem Kontext des Idealismus und des verpönten dialektischen Denkens herauszulösen. In seinen Schriften, insbesondere den Vorlesungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, wird Heidegger nicht müde, ein Zwiegespräch mit Hölderlin zu inszenieren, das auf der inneren Verbundenheit von Dichten und Denken seit der griechischen Antike beruhen soll. Hölderlin wird Heidegger zur einzigen Stimme, die sich der mit der griechischen Philosophie einsetzenden Seinsvergessenheit entgegenstemmt und damit zum Begründer einer Affinität, die allein zwischen der griechischen und der deutschen Sprache waltet: Heidegger hellenisiert und germanisiert Hölderlin zugleich. Was er damit übersieht, ist nicht nur die kritische Dimension der Auseinandersetzung mit der Antike, die Hölderlins Werk bestimmt – die Einsicht, dass der moderne Dichter nicht mehr wie die antiken Vorbilder verfahren kann –, sondern auch seine Kritik Deutschlands, die in der berühmten Deutschlandschelte aus dem Hyperion ihren beredten Ausdruck gefunden hat: „Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen.“ (Hölderlin 1992, 754)

Einen Ausweg aus dieser Zerrissenheit sucht Hölderlin keineswegs, wie Heidegger es suggeriert, aus einer von Germanien bestimmten Vaterlandsidee heraus. Wie Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni gezeigt haben, ist Hölderlins Spätwerk vielmehr gerade durch eine zwischen Auftrag und Verzicht oszillierende „Aufgabe des Vaterlandes“ (vgl. Bennholt-Thomsen 2004) bestimmt, die sich weniger an der Antike als vielmehr am postrevolutionären Frankreich orientiert. Die Philosophen, die Hölderlin in diesem Zusammenhang inspirieren, sind neben Platon vor allem Baruch de Spinoza und Jean-Jacques Rousseau – beides politische Denker, die für eine Revolution der Denkungsarten einstehen, die auch Hölderlin in seinem Versuch einer Revolution der dichterischen Sprache verfolgt.

Hölderlins Philosophie lässt sich daher kaum von seinen politischen Überzeugungen trennen. Wie Hegel, so war er ein entschiedener Anhänger der Französischen Revolution, und wie andere Intellektuelle seiner Zeit trieb ihn die Frage umher, wie auch in Deutschland französische Verhältnisse geschaffen werden könnten. Nicht nach Griechenland führten ihn seine Wege, sondern nach Frankreich. Der kurze Aufenthalt in Bordeaux, den Hölderlin in seinem späten Gedicht Andenken festgehalten hat, ist daher ein Schlüsselmoment seiner Werkbiografie: Nach Deutschland zurückgekehrt, erinnert sich der Dichter an seinem eigenen Geburtstag nach einem Jahr noch einmal der französischen Stadt, die ihm nicht zur Heimat werden konnte, um endgültig Abschied von ihr zu nehmen. Das Gedicht gibt ein präzises Panorama der Stadt und des Flusses, der sie durchzieht, um in der titelgebenden Erinnerungsbewegung am Ende an dem Ort anzugelangen, an dem die Gironde ins Meer mündet. Die berühmten letzten Verse lauten:

Es nehmet aber
Und giebt Gedächtniß die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

(Hölderlin 1992, 457)

Das heroische Bild der Seefahrt, das er in Andenken wie in anderen Texten aus der Zeit wie dem Entwurf Kolomb aufruft, kann Hölderlin ebenso wenig genügen wie die Erfüllung durch die Liebe, die ausgeblieben ist. Was nach den vielfachen Privationen, die Hölderlin in seinem Leben erfahren musste, allein noch bleibt, ist die Dichtung – eine Dichtung, die, wie schon die Anmerkungen zu den Sophokles-Übersetzungen es festhalten, allerdings exzentrische Bahnen verfolgt, Bahnen, wie Alexander Honold gezeigt hat, „im Sinne einer fliehenden Linie, die für keine zurechtweisende Rückbewegung mehr erreichbar ist“ (Honold 2005, 47). Die exzentrischen Bahnen, denen sein Leben und Werk gefolgt ist, werden so zu Fluchtlinien im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari: Hölderlins Fluchtlinie Griechenland lautet dementsprechend auch der Titel von Jürgen Links gerade erschienener Hölderlin-Monografie (Link 2020).

Wie Link zeigt, bleibt Hölderlins Werk auch 2020 und darüber hinaus eine Herausforderung für die Forschung, weil es den Leser zu einer nie enden wollenden Spurensuche auffordert, die gängige Zuschreibungen immer wieder in Frage stellt. Die Modernität Hölderlins in der geopolitischen Spannung zwischen Griechenland, Frankreich und Deutschland besteht – so wenig wie die Paul Celans – demzufolge nicht in dem so häufig beschworenen hermetischen Charakter seiner Texte, sondern in der Verknüpfung von Poesie, Politik und Geschichte, wie sie die späten Hymnen epochemachend vollziehen. Hölderlins Andenken, einer der letzten Texte, den er vollenden konnte, vollzieht in diesem Sinne eine Bewegung, die durch die Erinnerung hindurch zugleich ins Offene, Unbegrenzte, Ungebundene, in die Moderne hinein führt.

 

Literaturverzeichnis

Bennholdt-Thomsen, Anke und Guzzoni, Alfredo: Analecta Hölderliniana II. Die Aufgabe des Vaterlandes. Würzburg 2004. 

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1988.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796 oder 1797). In: Ders.: Werke 1. Frühe Schriften. Frankfurt am Main 1971, S. 234-236.

Honold, Alexander: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005.

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe I. Herausgegeben von Michael Knaupp. München 1992.

Link, Jürgen: Hölderlins Fluchtlinie Griechenland. Göttingen 2020.

Menninghaus, Winfried: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik. Frankfurt am Main 2005.

Szondi, Peter: Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. In: Schriften I. Frankfurt am Main 1978, S. 367-407.

Text + Kritik. Sonderband: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1999.