Gräser, Wolken, Wind

Eine Dramaturgie der Vielen in Jörn Etzolds „Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft“

Von Bart PhilipsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bart Philipsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“ Die oft zitierten Verse stammen aus Friedrich Hölderlins Friedensfeier, sehr wahrscheinlich einem der von ihm selber in einem Brief an seinen Verleger Friedrich Wilmans als „Vaterländische Gesänge“ bezeichneten längeren Gedichte, die er gerne – so der Brief – „besonders gedruckt“ sehen möchte. Gemeint ist: jeder dieser Gesänge in gesondertem, separatem Druck, „weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehen soll oder die Zeit“. Der Friedensfeier-Gesang entsprach allerdings dieser Beschreibung; der direkte Anlass war der Frieden von Lunéville im Februar 1801, von dem Hölderlin sehr viel erwartete. Die inhaltliche Bezogenheit der Gesänge auf den Zeitgeist legitimierte den besonderen editorischen Wunsch. Sowohl  die  im Gedicht  in Aussicht gestellte kollektive Kommunikationsutopie („bald sind wir aber Gesang“) als auch deren Antizipation in der Gestaltung der Gedichte als Gesänge selbst lassen vermuten, dass Hölderlin die Texte nicht als Gedichte in einem Band für den einsamen Leser, sondern gleichsam als Partituren und Skripte für gemeinschaftliche – das heißt auch öffentliche, mündliche – Auftritte aufgefasst hatte.

Indem er immer noch im gleichen Brief vom „hohen und reinen Frohlocken vaterländischer Gesänge“ spricht, schwingt in dem Wort „Gesang“ auch eine lange Tradition von feierlicher kollektiver Kommunikation mit: über die jubilierenden Chöre der christlichen Gemeinde zurück zu den ekstatischen Bocksgesängen, aus denen die Chöre der antiken Tragödie entstanden. Auf dieser Folie wollte Hölderlin, so scheint es,  ein auf Gegenwart und Zukunft bezogenes durchaus performatives Literaturmodell entwickeln; inmitten der zu hoch gespannten Hoffnungen, unter diesen auch die auf republikanische Reformen im eigenen Land, versuchte er sich als öffentlich-politischer Dichter zu profilieren: „Statt offener Gemein(d)e sing’ ich Gesang“.

Dass die Reinschrift der Friedensfeier erst 1954 in einem Londoner Antiquariat auftauchte und darauf in der Hölderlin-Forschung einen „Streit um die Friedensfeier“ auslöste, mag symptomatisch sein für das Schicksal von Hölderlins kollektiv-öffentlichem Literaturprogramm. Nach einer kurzen, aber intensiven Rezeption in der literarischen Moderne und dem für die Nachkriegsrezeption nicht gerade förderlichen Missbrauch durch die nationalsozialistische Kulturpolitik wurde Hölderlins Werk in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immerhin zum Gegenstand einer sehr anspruchsvollen akademischen – sowohl philosophischen als auch editorischen und textanalytischen – Forschungstradition. Diese wurde ebenfalls stark durch die in den 1970er Jahren begonnene Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) von D. E. Sattler (abgeschlossen 2008) gefördert. Sattlers revolutionäre Editionsweise, die Hölderlins wuchernde Schreibprozesse mit peinlicher Akribie rekonstruiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, ging jedoch mit dem unverhohlenen politischen Willen einher, Hölderlin erneut als poetischen Kritiker des Zeitgeists zu präsentieren.

In der ohnehin schon politisch bewegten Zeit der späten 70er verstärkte diese Überschneidung von Philologie und Ideologie- beziehungsweise Zeitkritik die schon im Zuge der 68er-Bewegung angefangene links-progressive Politisierung der Hölderlin-Rezeption. Klaus Michael Grübers szenische Hyperion-Lektüre Winterreise (1977) in dem von den Nazis erbauten Olympiastadion sowie seine Empedokles-Inszenierung Empedokles Hölderlin lesen, zufällig im gleichen Jahr 1975 wie der Anfang von Sattlers Frankfurter Hölderlin-Edition, waren heftig und kontrovers in der Öffentlichkeit diskutierte Ereignisse. Sie machten die Hölderlin-Texte und -Lektüren buchstäblich zum hörbaren und sichtbaren Medium einer Zeitkritik. 

Die Mediatisierung von Hölderlins Werk hat jedoch nicht sehr lange gedauert. Die von Sattler gewollte Freisetzung des emanzipatorischen Potentials von Hölderlins Texten hat durch die editorische Akribie der FHA die Leserinnen und Leser  – darunter sogar nicht wenig akademisch tätige Germanistinnen und Germanisten – eher abgeschreckt als eingeladen. So wundert es nicht, dass noch in der ebenfalls anlässlich des Jubiläumsjahres erschienenen Biografie des sensiblen Lesers Rüdiger Safranski und trotz des vielversprechenden Titels Komm! Ins Offene, Freund! Hölderlin auf der letzten Seite apostrophiert wird als das, was er immer weniger sein wollte: „Priester der Poesie“, einer der „mehr von Göttern ward als er verdauen konnte“, „uns ferngerückt“. Ein tragisch Gescheiterter also.

Jörn Etzolds Monografie Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft widerspricht dieser fortdauernden Rezeption Hölderlins als eines verirrten, weltfremden und letztendlich gescheiterten Lyrikers. Stattdessen versucht der Autor in sorgfältigen Lektüren zu zeigen, wie Hölderlins poetischer Werdegang, statt nur sein eigenes Scheitern als Dichter widerzuspiegeln, vielmehr seine poetische Auseinandersetzung mit einem problematisch gewordenen Dichterbild sowie die Möglichkeiten einer zukünftigen, nicht länger von individuellen Vermittlerfiguren getragenen öffentlichen „Sangart“ reflektiert und durcharbeitet. Der ambitionierten Arbeit, die neue Analysen von Hölderlins Trauerspielprojekt über Empedokles, seinen Texten zur Theorie des Tragischen sowie den späten „Gesängen“ umfasst, liegt aber eine überraschende These zugrunde: „Hölderlins Poetologie des Raumes […] war auch ein Denken der Bühne.“ Etzold möchte die Texte – mehr oder weniger Hölderlins Spätwerk – als „Arbeit an einem Theater verstehen, das auf den Bühnen seiner Zeit keinen Ort finden könnte.“ Die traditionelle Sichtweise, die Hölderlin an erster Stelle als Lyriker betrachtet, dessen Versuch sich mit dem Trauerspiel über Empedokles und später mit Sophokles-Übersetzungen als Theaterautor zu etablieren als misslungener Seitenweg zu betrachten sei, wird dadurch radikal umgekehrt.

Etzold knüpft an diese Umkehrung der Perspektive erneut eine entschieden politische Lektüre, indem er gleichzeitig mit Hölderlins schrittweiser Absage an tragische Helden als souveräne, zum Selbstopfer neigende Vermittlerfiguren (wie sie durch die konservative Rezeption im Umkreis Stefan Georges verklärt wurden) die Entwicklung einer modernen Dramaturgie „der Vielen für Viele unter den Bedingungen der radikalen Endlichkeit “ aufdeckt. Leitmotivisch für diese Perspektive wirkt Hölderlins Brief an den Freund Isaac von Sinclair vom 24.12.1798: „Es ist auch gut und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden“. In Hölderlins Dramaturgie zeichnet sich laut Etzold, der sich hierfür zunächst auf Martin Heideggers und Walter Benjamins Hölderlin-Lektüren bezieht, ein theatralischer Zeitraum (eine „Gegend“) jenseits (oder diesseits) der klassischen Repräsentationsbühne (der „Guckkastenbühne“) ab, in dem sich eine „Politik der vielen endlichen Singularitäten“ durchsetzen könnte. Mit Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy spricht er von einer „kommenden Demokratie“, die Hölderlins Dramaturgie konsequent nur zögernd und antizipierend, im rhythmischen Intervall oder in der „Zäsur“ von Gespräch und Gesang ankündigt – nicht darstellt.

Die von Hölderlin selber verwendete Bezeichnung „Gesänge“ liest Etzold ausdrücklich als Rückverweis auf den Ursprung der Tragödie im Chorgesang sowie auf deren Funktion in christlichen Diskursen, als Gesänge und Chöre der Gemeinde und deren Bezug zum Chor der Heiligen, kurz: als Hinweis auf eine ausgesprochen performative, auf einer gemeinsamen Aufführungspraxis basierende „Sangart“. Nicht weniger einflussreich für Hölderlins Begriff des Gesangs und des Chors und nicht zuletzt für die mit dem Primat der Aufführbarkeit verknüpfte politische Dimension war aber Jean-Jacques Rousseaus Konzept der bürgerlichen Feste am Ufer des Genfer Sees. Rousseau verwirft zusammen mit Denis Diderot die Bühne, die in den verschiedensten Ausprägungen der Ort der Repräsentation von Souveränität gewesen war; aber wo Diderot die Alternative in dem Dispositiv des bürgerlichen Schauspiels sieht, sucht Rousseau nach einer nicht-mehr-dramatischen, nicht einmal mehr theatralischen Feier der Volkssouveränität. Hölderlin, so zeigt Etzold in den Kernkapiteln seiner Monografie, entwickelt ein durchaus theatralisches Modell des Zögerns und des Aufschubs, das die Verwirklichung einer solchen – demokratischen oder „republikanischen“ – Selbstdarstellung des Volkes in eine Zukunft verlegt, um die auch bei Rousseau nicht gelöste Frage nach der nichtvereinheitlichenden, herrschaftslosen Verbindung der „Vielen“ oder der „multitude“ (ein Hinweis auf die politische Philosophie von Michael Hardt und Antonio Negri) weiterhin stellen zu können.

Aber – und auch hier versucht Etzold neue Wege zu bahnen – das Viele oder die Vielen umfassen in Hölderlins Spätwerk nicht nur die immer mehr zurücktretenden menschlichen Figuren und humanistischen Figurationen, sondern auch andere „Akteure“ (Bruno Latours Das Parlament der Dinge lässt grüßen), durch die der Mensch nicht unbedingt ersetzt,  aber wenigstens zurückversetzt wird in eine „Gegend“, in der er nur als ein Lebewesen unter anderen erscheint (und verschwindet). Darum sei Hölderlins Bühne, so  Etzold, auch die Bühne der Zeit, der vergehenden Zeit, die das Erscheinen und Verschwinden der vielen Lebensformen und Seinsweisen wörtlich „rhythmisiert“.

Die zentralen Kapitel über die  drei Empedokles-Entwürfe, die späten Gesänge (mit exemplarischen Lektüren von Der Ister und Mnemosyne) und die Theorie des Tragischen (im Besonderen in den Anmerkungen zu den Sophokles-Übersetzungen) entfalten in beeindruckenden und erhellenden Detailanalysen, die sich hier nicht pauschal zusammenfassen lassen, die verschiedenen Aspekte und Dimensionen der zugrundeliegenden Hypothese: dass sich im  Spätwerk vor allem eine nicht-mehr-dramatische Theatralität und Performanz abzeichnet, die Platz und Zeit einräumt für ein zukünftiges Zusammenleben der „Vielen“, deren endliche Singularität nicht aufgehoben werden soll und  auch nicht von einzelnen Vermittlerfiguren mit ihrem katastrophalen Hang zum Propheten- und Märtyrertum repräsentiert werden kann; dass somit die Bühne Hölderlins auch die Bühne der Zeit (verstanden als vergehende Zeit, Vergänglichkeit, Endlichkeit) schlechthin ist; und dass schließlich jenseits der selbstverständlichen anthropozentrischen humanistischen Auffassung der Tragödie und des Dramas, mit ihrer entsprechenden Ökonomie von Raum und Zeit und ihrer Logik (heroischen) Handelns sich ein Zeitraum eröffnet, in dem eine viel mehr, Vieles und Viele ohne Unterschied umfassende Ökologie der Lebensformen „anstimmen“ könnte.

Ob die Verfilmungen der Empedokles-Entwürfe durch Jean-Marie Straub und Danièlle Huillet aus den 1980er Jahren, in denen durch das natürliche Setting „andere Akteure bedeutsam werden, der Wind, die Bewegungen der Wolken, wandernde Schatten auf Erde, das Wehen des Grases“, das überzeugendste Beispiel dieser „Ökologie der Vielen“ liefern, darüber lässt sich diskutieren. Die späten Gesangsentwürfe, die von Etzold nur kurz angerissen werden, bieten womöglich andere und bessere Belege einer solchen post-anthropozentrischen beziehungsweise -humanistischen Perspektive. Eine völlig andere, aber dringende Frage wäre diese: Ob und wie Hölderlins andere Akteure, die Vielen, in einer Zeit, in der Souveränität, selbsterklärtes Propheten- und Märtyrertum sowie sich wenig um Singularitäten kümmernde Autorität wieder Konjunktur zu haben scheinen und ihre selbstkonstruierten Bühnen besetzen, noch gehört werden können. „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen“ (Hälfte des Lebens).

Titelbild

Jörn Etzold: Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019.
403 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770563920

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