Wenn der Tod jede Ordnung zerstört

Marieke Lucas Rijnevelds verstörender Roman „Was man sät“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz vor Weihnachten bemerkt das zwölfjährige Mädchen Jas, dass ihr Vater ihr Kaninchen mästet, um es als Weihnachtsbraten zu nutzen. Daraufhin betet sie, Gott möge ihren Bruder Matthies anstelle des Kaninchens nehmen. Als dieser im Eis einbricht und ertrinkt, ist sich Jas sicher, dass sie die Schuld an seinem Tod trägt.

In poetischer Sprache malt Marieke Lucas Rijneveld in ihrem neuen Roman Was man sät zunächst das Bild eines Bauernhofes hinter dem holländischen Deich, mit Kühen, Kälbern, Maulwurfshügeln und Traktoren. Wenn Jas im Licht der Nordsee liegt und wartet, bis es still wird, dann spürt der Leser die Ruhe. Rijneveld führt den Leser mit „Fireballs“-Kaugummikugeln, „The Sims“ und dem Snake-Spiel der ersten Mobiltelefone zurück in die ihm vertrauten 1990er Jahre. Sie stellt die streng gläubige, orthodox-kalvinistische Familie, die aus den Eltern, Jas, ihrem zweiten Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna besteht, vor. Virtuos erschafft sie eine bekannt anmutende, familiäre, dichte Atmosphäre, die vom Tode des Jungen erschüttert wird. Nur scheinbar setzt die Familie ihren Alltag fort. Auch wenn die Eltern streiten, sie bemühen sich doch um Normalität. Auf dem ins Wanken geratenen Boden der Landidylle gedeiht aber vor allem Gewalt. Die hernach folgenden Ereignisse hallen erschreckend hart und nachhaltig wider.

Denn nach dem Tod von Matthies vermischt Jas Träume und Tagträume mit der Realität. Jas glaubt, dass ihre Mutter Juden im Keller versteckt hält, die gefüttert werden müssen. Der Tod wird zu ihrem Begleiter. Sie sagt, sie werde „dunkel, immer dunkler“; sie sieht Fabelwesen und Zeichen: Ihre Mutter kann nichts mehr essen, magert ab und bekommt braune Flecken. „Alter macht einen mit der Zeit faulig“, resümiert Jas eisig. Der Vater weicht seiner Frau und seinen Kindern aus. Wer von der harten Arbeit auf dem Hof einen krummen Rücken bekommt, ist schon im Begriff, sich in Richtung Erde zu schuften, ist Jas überzeugt und stellt sich die Frage, ob ihr Bruder tot ist „oder ist der Tod dein Bruder?“

Sogar die Nahrung führt den Kindern die Vergänglichkeit vor Augen. Brot kommt in diesem Haushalt auch mit blauweißen Schimmelspuren noch auf den Tisch. Jas hat deswegen eine unbändige, sie fast gänzlich kontrollierende Angst vor „Kotze“ und „Durchfall“. Der Vater macht deutlich, dass „Übergeben eine überjährige Sünde“ ist, „die der Körper loswerden musste“. Und als Jas längere Zeit keinen Stuhlgang hat, schiebt er ihr seinen Finger in den Po, um die Darmaktivität zu steigern. Immer schwerer fällt es, sich auf die in drastischer Sprache geschilderten schrecklichen Geschehnisse und sexuellen Experimente der Heranwachsenden einzulassen. Jas muss zusehen, wie ihr Bruder ihre kleine Schwester mit einem Besamungsgerät für Kühe missbraucht. „Fürchtet euch nicht“, zitiert sie dabei aus der Bibel und erschrickt vor den Schreien des Kindes. Man müsse eben manchmal Opfer bringen, „so wie Gott Abraham auftrug, Isaak zu opfern“, denkt sie.

Die Kinder tun so, als wären sie fröhlich. Doch schließlich sagt Hanna, sie wisse nicht mehr, wie das geht. Auf der einen Seite führen die Teenager verschämte Gespräche über „Pisse“ und „das Tittenkriegen“. Andererseits erklärt Jas beinahe erwachsen: „Außer Nahrung und Kleidung brauchen wir auch Zuwendung. Das scheinen sie [die Eltern; d.V.] immer mehr zu vergessen.“ Wut und Aggressionen kommen auf. Und an der Nase ihres fluchenden Bruders Obbe wird bald Blut von einem Aufprall auf dem Küchenboden kleben.

Die psychische und physische Gewalt, der die Kinder auf dem Hof ausgesetzt sind und die sie untereinander ausüben, schnürt dem Leser wieder und wieder den Atem ab. Im letzten der drei Akte, in die das Buch unterteilt ist, gipfeln die Kapitel in immer neuen gewaltvollen Höhepunkten. Mit einem Traum beginnt mehrfach ein neuer Abschnitt und somit zugleich ein neuer Anlauf auf etwas, das kaum ertragen werden kann. Das Wechselspiel aus Traum, trügerischer Ruhe und neuem Gewaltausbruch verstärkt die Wirkung auf den Leser noch. Und schon die Vorahnung, welches „Opfer“ die Kinder bringen wollen, lässt den Atem stocken.

Marieke Lucas Rijneveld kennt keine Gnade mit dem Leser und kündigt dies schon mit einem Gedicht des niederländischen Schriftstellers Jan Wolkers an, dessen Verse in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. In seinen Werken befasste sich auch Wolkers intensiv mit Tod und Sexualität. In jenem dem Roman vorangestellten Gedicht heißt es, dass „messerscharfe Windstöße“ den Glauben dessen brechen werden, „der flüchten will aus diesem grausamen Beginn“. Der Leser kann nicht fliehen und wird von den verstörenden Ereignissen im Kuhstall und Bauernhof umfangen. Rijneveld lässt auch ihre Protagonisten nicht aus der erdrückenden Enge des Hofes fliehen. Sie packen ihre Sachen, radeln los, kommen aber nicht weit. Es gibt keinen Ausweg von diesem Hof – nicht für die erkrankten Kühe, die geschlachtet werden müssen, nicht für die Protagonisten, die in der Ausweglosigkeit verzweifeln und sich mit einer Heftzwecke selbst kasteien, und auch nicht für den Leser, der Jas zuschauen und zuhören muss, während alle Ordnungssysteme von Kirche über Ärzte bis zur Familie im Roman versagen und zermalmt werden.

Es ist nicht möglich, sich dem rauschhaften Sog zu entziehen und den Roman von Marieke Lucas Rijneveld beiseite zu legen. Jas spricht im Roman über die Neugierde, „den Tod zu sehen und zu verstehen“. Es ist nur fraglich, ob der Leser stark genug ist, sich ebenfalls dieser Neugierde hinzugeben und der Gewalt und dem düsteren Grauen zu begegnen.

Titelbild

Marieke Lucas Rijneveld: Was man sät. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
318 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428979

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