„Warum sind Männer der gesunde Menschenverstand?“

Der Band „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ versammelt teils zum ersten Mal ins Deutsche übertragene Kurzgeschichten der brasilianischen Autorin Clarice Lispector

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 25. Mai 1940 erschien die erste Erzählung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector, Der Triumph, in einer Zeitschrift. Sie war 20 Jahre alt, studierte Jura in Río de Janeiro und publizierte von Zeit zu Zeit ein paar kurze Geschichten oder hob sie in einer Schublade auf. Die frühen Texte erschienen nie als Buch, obwohl die Autorin bereits 1944 einen sensationellen Roman vorlegte: Nahe dem wilden Herzen, der in Rio und São Paulo für Aufsehen sorgte und Leserinnen weltweit bis heute fasziniert. In den 1970er Jahren wurde das bis dahin publizierte Werk zur Bibel feministischer Bewegungen, insbesondere in Frankreich. Clarice Lispector, die Virginia Woolf Brasiliens, die Katherine Mansfield Brasiliens, die Ikone Brasiliens: bildhübsch, geheimnisvoll, legendär, berühmt, rebellisch, depressiv, zuletzt selbstzerstörerisch.

Als sie zwei Jahre alt war, emigrierte die jüdische Familie aus Angst vor den Pogromen aus der Ukraine nach Nordbrasilien, zwölf Jahre später siedelte sie nach Río über. Es war eine ärmliche Kindheit, die familiären Bindungen kompliziert, die Eltern sprachen zu Hause nur Jiddisch. Das heranwachsende Mädchen fühlte sich nie wirklich zugehörig oder integriert, weder zur Familie noch zur neuen Heimat. Stets hatte sie eine Außenseiterrolle, beobachtete wachsam ihre Umgebung und sezierte das gesellschaftliche Miteinander, vor allem das Verhältnis von Männern und Frauen. In ihren Erzählungen und Romanen liefert sie subtile Analysen, die Schlussfolgerungen zieht der Leser.  

Bereits die erste Geschichte, Der Triumph, versetzt uns zurück in die Zeit des traditionellen, reglementierten Geschlechterverhältnisses: Die Frau ist verantwortlich für Haus und Kinder, der Mann sichert den Lebensunterhalt, beide akzeptieren ihre Rolle, denn so wurden sie erzogen, so machen es alle. Auch Luísa, die Protagonistin, findet das ganz normal. Als der Ehemann, ein glückloser Schriftsteller, sie nach einem Streit mit heftigen Vorwürfen verlässt, bricht die Welt für sie zusammen. Aber: Auf seinem Schreibtisch findet sie eine Notiz, eine Art Selbstanschuldigung, die sie überrascht und ihr die Zuversicht gibt, die stärkere zu sein: Sie lacht.

Rebellionen, gesuchte oder solche, die sich unvermittelt ergeben, charakterisieren die Mehrzahl dieser Geschichten in Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Die Frauen brechen unvermutet aus dem wohlgeordneten, behüteten Elternhaus oder der Ehe aus, ohne ersichtlichen Grund, sie wollen sich einen größeren Freiraum erobern oder etwas Neues erleben. Was sich angestaut hat, was unbewusst als Enge und Einengung empfunden wird, stört auf einmal den häuslichen Frieden und die Routine: Ein Blinder kaut Kaugummi und blickt die Frau mit der Einkauftasche an der Bushaltestelle an. Sie spürt, wie sie den Boden verliert, eine Krise kommt (Liebe). Etliche Protagonistinnen sind Heranwachsende, haben Probleme, sind unsicher (Gertrudes bittet um Rat). Zwölf Jahre Ehe wiegen wie kiloweise Blei – also möchte die Frau ihre Freiheit zurückgewinnen, ein Schiff nehmen, weggehen, bevor sie abends wieder nach Hause zurückkehrt (Die Flucht).

Gerne werden diese Anstrengungen, sich aus den festen Strukturen zu lösen, von den Ehemännern als Symptome einer Krankheit gedeutet. Wie bedrückend Familiäre Verbindungen sind, stellen alle erleichtert fest, wenn die Mutter nach dem Besuch bei Tochter und Schwiegersohn wieder abreist. Schlimmer noch ist das Familienglück: die ganze Familie findet sich einmal im Jahr zusammen, um den Geburtstag der betagten Mutter – schon 89 – zu feiern. Jeder kann den anderen kaum ertragen, die angeheirateten Partner sind einander in herzlicher Abneigung und Neid verbunden. Auch soziale Probleme werden angedeutet: das junge Mädchen, das in falschen Schuhen zu einer guten Schule gehen muss (Kostbarkeit) oder die alte Frau, die aus ihrem Haus verstoßen wird und eine neue Schlafstelle suchen muss (Reise nach Petrópolis). Manchmal hilft nur ein Mord weiter (Die Lösung). Die Assoziation von Hausfrau und sonntäglichem Suppenhuhn ist besonders boshaft (Die Henne).

Viele der frühesten Erzählungen sind deutlich mehr als Fingerübungen einer angehenden Schriftstellerin. Und aus der Schublade der nie zuvor gedruckten Texte wird ein Ausblick hervorgekramt:

Die Zukunft, die wir hier eröffnen wollen, ist eine Schnur aus Metall. Etwas vorsätzlich Reduziertes. Von all unserem Leben wird nichts bleiben als diese Schnur. …. Besiegt von Jahrhunderten der Leidenschaft, besiegt von einer Liebe, die nutzlos war, besiegt von einer Unaufrichtigkeit, die keine Früchte trug – investieren wir in Aufrichtigkeit, die rentabler ist, und schaffen die Schnur aus dem aufrichtigsten Metall.
(Eröffnungsrede)

Diese Erzählungen üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf. Von Text zu Text steigert sich die Bewunderung: Clarice Lispector ist und bleibt ein Fixstern am Literaturhimmel. Dank der feinfühligen und ausgezeichneten Übersetzung von Luis Ruby ist dieser erste Band der Erzählungen ein großes Leseglück.

Titelbild

Clarice Lispector: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I.
Herausgegeben von Benjamin Moser.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby.
Penguin Verlag, München 2019.
413 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600947

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