„Den ganzen Stendhal für ein Hölderlinsches Gedicht“

Zu einer produktiven Rezeption im Frühwerk Ernst Jüngers

Von Alexander GrebeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Grebe

Angeekelt sei er, schreibt Friedrich Hölderlin im Herbst 1792 seinem Freund Christian Ludwig Neuffer, „über die andern Neuigkeiten in der Welt“ (Hölderlin 1992, Bd. 3, 96). Gemeint waren die grausamen Septembermorde in den Pariser Gefängnissen, denen auch Marie-Louise von Savoyen-Carignan, genannt Prinzessin de Lamballe, zum Opfer gefallen war. Obersthofmeisterin der Königin war sie gewesen, vom revolutionären Mob misshandelt und enthauptet. Der junge Stipendiat des Tübinger Stifts beginnt zu zweifeln. Erzürnt, enttäuscht; endlich ernüchtert klingen die weiteren Briefe.

Hölderlins Sympathie mit den Ideen der Revolution war lange kein Gegenstand der Forschung, nicht in Deutschland zumindest, nicht in Tübingen, wo die Hölderlin-Gesellschaft tagt, in dunkleren Tagen mit Joseph Goebbels als Schirmherren gegründet. Das änderte sich, ein Markstein sicher Robert Minders große Rede Hölderlin unter den Deutschen, die der Professor des Collège de France am 8. Juni 1965 vor der Gesellschaft hält. Zum Missfallen der Anwesenden, kann vermutet werden, erwartete man doch Erbauliches über Hölderlin, den „Reinsten der Reinen“ (Minder 1966, 25), der wie kaum ein anderer Dichter hierzulande Gegenstand politischer Vereinnahmungen geworden war. Weithin fielen noch die Schatten einer pervertierten Germanistik, derer man sich ins Licht einer werkästhetischen Innerlichkeit entzogen hatte. Und nun Hölderlin als Rousseauist, als gescheiterter Jakobiner?

Drei Tage zuvor, nur knapp 70 Kilometer entfernt, beschäftigt sich auch Ernst Jünger mit den Anfängen der Grande Terreur. In der alten Oberförsterei in Wilflingen, es laufen die Vorbereitungen zur Reise nach Asien, liest Jünger die Memoiren von Cécile de Courtot, der dame d’atour der Prinzessin de Lamballe. Am 5. Juni 1965 notiert er in sein Tagebuch, die Ermordung der treuen Anhängerin Marie Antoinettes markiere „einen der absoluten Tiefpunkte der Geschichte: da wirds ganz dunkel“ (Jünger 1982, 32). So dunkel, dass selbst Jünger, den ein berühmtes Urteil Thomas Manns als „eiskalten Genüssling des Barbarismus“ (Mann 1963, 464) charakterisiert, vorschlägt, man solle Einzelheiten des Massakers „wie Hebbel das Wort ‚Rippe‘ aus den Büchern auskratzen“ (Jünger 1982, 32).

Wenngleich die Mann’sche Abqualifizierung zum Ästheten nicht ohne Hintersinn erfolgte – fiel sie doch in die Debatte um Exil und „Innere Emigration“ – ist sie nicht falsch: Jüngers ästhetisches Interesse hat das Politische stets überragt. Forschungsgeschichtlich bedeutete das jedoch auch: Wie man Hölderlin nicht politisch lesen wollte, las man Jünger nicht ästhetisch.

In Frankreich, freilich unverfänglicher, wurde und wird der Fall Jünger anders verhandelt. Ausgerechnet die frühe Kriegsprosa wurde mit einer Pléiade-Ausgabe geehrt – nicht aber, nebenbei bemerkt, das Werk Thomas Manns. Jünger war ein Liebling germanophiler Franzosen, Frankreich und seine Literatur eine Leidenschaft Jüngers. In der Spätphase seines Nationalismus der 1920er Jahre, in seinem erstem „literarischen“ Werk, Das abenteuerliche Herz, bestätigt eine Ausnahme die Regel: Ausgehend von einem Verdikt Stendhals, die übrigen Europäer seien außerstande, ein einziges den gallischen Büchern gleichrangiges hervorzubringen, führt Jünger einen zunächst hochprovokativ anmutenden Vergleich an: Die französische Romantik verhalte sich zur deutschen wie ein Glas Sekt zu einem Trunk aus einer Waldquelle. Nun hat jener „Schilderer von Weinen“ (Benn/Jünger 2006, 119), wie Gottfried Benn ihn einmal brieflich nannte, auch seinen Sekt geschätzt. Was der Franzose in De lAmour aber mitunter über die Liebe schreibe, könne dergestalt auch in einer preußischen Dienstvorschrift über den Kampf um Festungen stehen; eine solche fasste Jünger seinerzeit ab. Provokativ – neben der sommelierischen Charakterfrage – muss vor allem aber die Wendung ins Zeitgeschichtliche gewirkt haben: Durch jene Dienstvorschrift habe sich Jünger „für den nächsten Krieg“ seine „bescheidenen Verdienste erworben“ (Jünger 1979, 133) – wodurch mit heiterem, literarisch-essayistischen Ton die Nachkriegs- zur Vorkriegszeit umgewertet ist.

Eine Fortführung des Krieges im kulturellen Raum, so mag man diese Verschaltung literarischer und historisch-politischer Gedanken lesen. Als „deutschen Spezialfall“ (ebd., 134) will Jünger die zukünftige Rolle in Europa denn auch sehen und, programmatisch gewendet, seine Leser sehen lehren. Von da scheint der Schritt nicht groß zurück auf den deutschen Sonderweg, noch vom Schlagbaum Versailles versperrt, so sahen es nicht nur die Berliner Nationalisten jener Jahre. Dass das „Maßnehmen am geheimen, zu Paris aufbewahrten Urmeter der Zivilisation“ (ebd., 135) dann auch noch als nihilistischer Akt gefasst wird, dass das noch den nationellen Impetus trägt, sicher. Doch transformiert sich das antizivilisatorische Moment genau dort, wo Jünger den Weg zur „deutschen Wirklichkeit“ (ebd., 134) beschreiten will: im Feld der Literatur.

„Wir hatten unsere Ursprache noch gar nicht sprechen gelernt ­– um dies zu können, müssen wir zuerst bei uns selbst in die Schule gehen“ (ebd.). Die Ursprache als Zugang zu verlorener und zukünftiger Herrlichkeit ist freilich ein literarischer Topos. Und Jünger kennt dessen Verkünder. Einen künftigen Krieg zu gewinnen, lohne ohnehin nur, wenn die Deutschen bis dahin gelernt haben sollten, „den ganzen Stendhal für ein einziges Hölderlinsches Gedicht, für eine einzige Hymne an die Nacht, für einen einzigen Absatz der kabbalistischen Prosa Hamanns dranzugeben“ (ebd., 133).

Wie genau der Durchbruch zur deutschen Wirklichkeit gelingen sollte, das schreibt Jünger bezeichnenderweise nicht. Der klaffende Zwischenraum, der dem Zitat folgt und den Text typografisch in zwei Teile trennt, spricht nicht nur Bände, er wird auch in den folgenden 70 Jahren vom Autor mit solchen gefüllt. Stattdessen wird nun wieder vom Krieg gesprochen, der retrospektiv als nihilistischer Akt gedeutet wird, als gemeinschaftlich-europäischer wohlgemerkt: als Aufgabe des Jahrhunderts, deren Ziel das Überschreiten eines „magischen Nullpunkts“ (ebd., 135) sei. Und das ist zuvorderst – so die Volte des Textes – nicht mehr weltgeschichtlicher Auftrag des Frontsoldaten.

Man mag sich nun selbst einer martialischen Rhetorik bedienen, von einer Verlagerung in die Kampfzone des Geistes sprechen, oder jenen spekulativen Psychologisierungen, Jünger befriedige nun als Dichter hier nachgerade seinen Auserwähltheitsdünkel. Das kann auch stimmen, nur nivelliert es nicht die literarische Stoßrichtung. An solchen Textstellen wird verständlich, wie ein Joseph Goebbels sich nicht wie früher am trivialhegelianischen Soldatismus Jüngers laben konnte, sondern dessen sukzessive Verschiebung hin zum Literarischen bemerken musste. Denn die Prämisse der geschichtlichen Notwendigkeit des Krieges, jenes „konzentrische Wüten gegen einen geheimen Mittelpunkt“ (ebd., 133), bedarf nun des Vorstoßes zu eben diesem, der, so scheint es, über die Literatur geleistet werden soll. Jünger insinuiert hier, über die Lektüre Hölderlins, Novalis und Johann Georg Hamanns sich jenem Mittelpunkt angenähert zu haben. Der eigentlich nihilistische Akt kommt ihm erst hernach „immer sinnvoller vor“ (ebd., 133).

Eine ästhetische Erziehung quasi, die im Jüngerschen Duktus der Zeit nach einer Schule nationalchauvinistischer Couleur klingt. Nur, setzt man den Text in sein Recht, verlassen diese „Schule“ keine Exaministen mit Hölderlin im Tornister, um fröhlich auf dem deutschen Sonderweg dem Tod fürs Vaterland entgegenzumarschieren. Der Germanist Goebbels (Promotion mit rite superato, etwa einer guten Vier), der für die Hölderlin-Gesellschaft solcherarts ideologisierende Feldausgaben zum Ziel ausrief, hat das bemerkt. Nicht „blutvolles Erleben“ wie in der Kriegsprosa stecke dahinter, sondern „Tinte, Literatur“ (Goebbels 2006, 344), wie er am 7. Oktober 1929 zur Lektüre des Abenteuerlichen Herzens notiert. Anschlussfähig, jener apolitischen Tendenz zum Trotz, wäre nun eine nationalistische Rezeption der drei zu Lehrern erkorenen Dichter gewesen. Nur hatten Hölderlin, Novalis und Hamann keine arminische, sondern eine adamitische Ursprache im Sinn.

Wie eine zeitgenössische Lektüre aussehen konnte, hatte der ungleich unverdächtigere Max Kommerell in seiner nur ein Jahr zuvor erschienenen Studie Der Dichter als Führer in der Deutschen Klassik gezeigt: „Keiner der Dichter und Wortführer seiner Zeit“, so Kommerell, „hat dem Deutschen ein so ungeheures Anrecht auf Macht […] verleihen können“ (Kommerell 1928: 477). Damit waren nicht nur ein Deutungspotential, sondern jene Gedanken Hölderlins als „wegweisend“ für das deutsche Volk ausgesprochen (ebd., 477) – noch einmal: wegweisend für die Zukunft des Jahres 1928. Kommerells hoch ideologische Lesart ließe sich als Vorwegnahme des Jünger’schen Programms verstehen, der Bewusstwerdung der Deutschen mit Hölderlin als Lehrer. Gegen die Fährnisse der Zeit, erfährt sich das deutsche Volk als „vorm Untergang gefeit: dem Volk, dem ein Bild seiner selbst ward ist sein Bestand auf Jahrhunderte verbürgt“ (ebd., 477).

Spätestens um 1801 sei Hölderlin zum „deutschesten Dichter deutschesten Schicksals“ (ebd., 478) geworden, in neuem Dichtertum sein Streben nur auf Vaterland richtend, wie der berühmte Brief an Casimir Ulrich Boehlendorff zeige. In diesem verkündet Hölderlin, „seit den Griechen wieder […] vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen“ (Hölderlin 1992, Bd. 3, 467). Von genau diesem Zitat und seiner Deutung ausgehend hat Ulrich Gaier in paradigmatischer Weise derartige deutschnationale Vereinnahmungen offengelegt (Gaier 1986/87).

Zunächst scheint das dem Programm Jüngers zu entsprechen: Wer Hölderlin zu lesen imstande sei, findet auch den Weg zur „deutschen Wirklichkeit“. Wie unweit drastischer dies bei Kommerell ausfällt, zeigt die Rezeption eines berühmten Hexameter-Hymnus: „Die Geheimkunde von deutscher Zukunft, die der Archipelagus für uns birgt, ist die Vergöttlichung eines ganzen Volkes im Krieg“ (Kommerell 1928, 474). Der Krieg ist – vice versa – bei Kommerell nicht nur Ausgangs-, sondern Mittelpunkt der Überlegung. Denn „die Lehre Hölderlins“, so der damalige Sekretär Stefan Georges, führt „durch den Krieg das Volk ein zu obern Wirklichkeit“ (ebd., 474). Wenngleich Kommerell keinesfalls zu den Exponenten jener Germanistik der 1930er Jahre gehört, die Hölderlin zum Propheten des Dritten Reiches hypostasierte, wird hier deutlich, wie naheliegend eine solche Lesart war.

Ausgerechnet den Archipelagus aber las Jünger anders. Fünf Jahre später war die „geistige“ Wirklichkeit eine politische geworden. Goebbels war Minister in Adolf Hitlers Kabinett, Thomas Mann in die Schweiz emigriert und Jünger hatte es, aller nationalistischen Konvergenzen zum Trotz, geschafft, in die „Zone der Kopfschüsse“ zu geraten, wie der Völkische Beobachter schrieb. Dem neuen Staat die Mitarbeit verweigernd, zog sich Jünger sukzessive aus dem Kulturbetrieb zurück. Das „anarchische“ Außenseitertum, das neben dem Krieger und dem Arbeiter eine der großen Gestalten seines Œuvres wurde, scheint im Bericht über die Dalmatien-Reise von 1932 präfiguriert. Im Dalmatinischen Aufenthalt wird die Einsamkeit und die Erinnerung zu Ort und Modus der Reflexion. Der Text ist von der Jünger-Forschung kaum beachtet worden. Dem heroischen Realisten Jünger, der sich an der Kontingenzerfahrung der Stahlgewitter abarbeitete, wurden die Iternarien lange als romantischer Eskapismus, folglich als werkästhetische Inkohärenz ausgelegt.

Jünger beginnt seinen Text mit der fast beiläufigen Bemerkung, ein falsches Bild des kroatischen Küstenstrichs gehabt zu haben: Das karge Land erscheint ihm als fleischloser „Knochenbau“ einer Landschaft, dessen „geheime Kräfte“ erst retrospektiv hervortreten: „es belebt sich in der Erinnerung und ruft ein Gefühl von Heimweh hervor“ (Jünger 1934, 11). Das eigentlich Tote wird erst in der Erinnerung belebt. Es ist dabei nicht nur dichterisches Programm des schreibenden Ichs, das sich nun mit Heimweh an Dalmatien erinnert. Auch das reisende Ich des Textes erinnert sich stetig an Verlorengegangenes. Die Topografie, die Tierwelt, die Sozialität; was auch erfahren wird, mündet in wehmütiger Erinnerung an eine verlorene Heimat, gleich ob Jünger über Schinken, das Patriarchat oder die österreichische Monarchie spricht. Mit letzterer indes sei „eine Form des Lebensgenusses zerstört, […] als sich der alte Kameradenkreis eines Tages […] in Polen, Tschechen, Serben, Slowaken, Kroaten und Italiener gespalten hatte“ (ebd., 14). Bei Soldatenbünden, das zeigt auch Jüngers Protest gegen den Ausschluss jüdischer Kameraden, kam das Nationelle schnell an eine Grenze. „Für uns, die wir wieder vor der Bildung von Imperien stehen“ – für das Deutsche Reich 1934 heißt das – aber ist jene alte Welt „wie ein Fossil, aus dessen erhaltenen Knochen man den Aufbau einer andersartigen Welt errät“ – und nun erreicht die Reflexion ihren neuralgischen Punkt – „einer Welt, die hinter, aber vielleicht auch schon wieder jenseits der Moderne liegt“ (ebd.). Damit ist ein geschichtsphilosophisches Modell ausgesprochen, das proteisch im Text wiederkehrt. Denn jenseits der Moderne, das kann auch heißen: jenseits der modernen Imperien. Jünger beschreibt hier keine Spenglerische Kulturmorphologie, sondern eine dichterische Erkenntnistheorie: Die dichterische Reflexion, die Erinnerung, ist eine Erinnerung doppelter Faktur, sie erinnert nicht nur Erlebtes, Verlorenes, sondern er-innert sich, an was einst war und sein wird. Sie ahnt das Zukünftige. Erinnerung und Ahnung, das konnte Jünger so bei Novalis und Hölderlin lesen.

Das Knochengerüst der Landschaft, vom Dichter in der Erinnerung als verlorene Heimat belebt, die Erzählung als knöchernes Fossil vergangener und zukünftiger Geschichte. Ein drittes Mal, deutlicher noch, taucht die Metapher auf: Der Stein als Knochengerüst „im Körper der Erde“ (ebd.: 20). Hinter einem natürlichen „Wall aus unzähligen Steinen zusammengefügt“ spürt Jünger „den Atem der längeren Kreisläufe, und der Augenblick fliegt wie im saturnischen Alter dahin“ (ebd.). Das saturnische Alter nun ist nichts anderes als das goldene Zeitalter, das triadische Geschichtsmodell. Der Augenblick, ein ewiger.

Im Anspielungsgewitter des Textes mag das untergehen. Die durchkomponierte Gestaltung spricht allerdings dafür, dem mehr Bedeutung als bisher getan zuzumessen. So erhalten auch die vielgestaltigen Naturbeobachtungen eine im Archipelagus vorgezeichnete Funktion. Wie Hölderlin die Offenheit zur Natur hin zur Voraussetzung für die Entstehung einer wahrhaftigen Kultur macht, führt diese Jünger in den „Zustand der unbegrenzten Symphatie“ (ebd.: 28). Die Tiere Apolls, der Schiffer, die Delphinszene – bis in die Motivik hinein scheint das im Hymnus Hölderlins vorgebildet.

Wenn Jünger nun fragt, wer „das Glück dieser Einblicke“ (ebd., 24) zuerst entdeckt habe; Stendhal, Barthold Heinrich Brockes oder Albrecht Dürer, dann ist nicht nur der zuvor gescholtene Stendhal wieder in die Reihe der Großen gestellt, sondern natürlich auch der Autor des Textes selbst. Der Prononcierteste allerdings, der „die unvergängliche Schönheit der Inselwelten im innersten Sinne erkannt“ (ebd., 35) hat ist: Hölderlin. Als einziges direktes Zitat des Textes schließt Jünger mit eineinhalb Zeilen aus dem Archipelagus: „Alle leben sie noch, die Heroenmütter, die Inseln, / Blühend von Jahr zu Jahr…“ (ebd.).

Es sollte nunmehr klar sein, dass es Jünger nicht um einen Nachweis seiner Bildung oder dichterischer Kongenialität zu tun ist. Der Archipelagus erscheint hier vielmehr als Prätext. Er tut dies in einer nahezu diametralen Lesart zu der Kommerells. Nicht als Kriegshymnus wird er wahrgenommen, nicht die epischen Partien der Seeschlacht, die Hölderlin schildert, stehen im Vordergrund. Was Jünger repliziert, ist das Modell einer verlorenen, ursprungsnahen Einheit, der sich, im Modus „goldner Zeiten Erinnerung“ (Hölderlin 1992, Bd. 1, 253), wie es im Gedicht heißt, erinnert wird. In der als defizitär erfahrenen Gegenwart – in den Worten Jüngers: der Moderne – erinnert und ahnt das lyrische Ich ein idealisches Vor- und Nachher. In „außerordentlicher Einsamkeit“, schreibt Jünger, als außerhalb der Ordnungen ist das zu lesen. Zugespitzt: In der Alleinheit der Inseln wird die All-einheit der Welt erfahren. Und die bedeutet, ins Historische, Politische gewendet, eine Distanzierung von eben jenem seiner Zeit. Vervollständigt man die Verse – die Doppelpunkte, die Jünger mitzitiert, fordern das heraus – heißt es im Archipelagus weiter:

und wenn zu Zeiten, vom Abgrund
Losgelassen, die Flamme der Nacht, das untre Gewitter,
Eine der holden ergriff, und die Sterbende dir in den Schoß sank,
Göttlicher! du, du dauertest aus, denn über den dunklen
Tiefen ist manches schon dir auf und untergegangen.
(Ebd., 253)

Vielleicht sah Jünger seine nationalen sozialistischen Ideen von den Nationalsozialisten usurpiert und wandte sich so dezidiert von der ephemeren Tagespolitik ab. Letztlich spielt es für den Text keine Rolle, ob es eine Frage des Geschmacks, der Integrität oder der Eitelkeit war. Die an die stoische Ataraxie gemahnende Erkenntnis des Beständigen im Wandel, die Jünger biografisch vollzogen zu haben scheint, findet hier ein textuelles Äquivalent. In der Art, wie er Hölderlin rezipiert, bestätigt sich die Aussage Klaus Manns, Jünger gehöre „den Gaben nach […] zu uns“ (Mann 1992, 269). Unzweifelhaft integer hat Hannah Arendt ihn genannt, integer scheint zumindest sein Umgang mit dem schwäbischen Dichter, der dem heutigen so viel näher scheint.

Man mag einwenden, dass Jüngers Reisebericht 1934 im Kompendium Blätter und Steine erschien, mit dem Lob der Vokale und dem Schmerzessay. Auch ist hier von keiner Jünger’schen „Umkehr“ die Rede. Aber geht man der Spur nach, entdeckt man auch hier immer wieder den Namen Hölderlins. Hier zeigt sich nochmals, dass Jüngers Rezeption viel tiefer reicht als bisher wahrgenommen. „Nicht einfach zu entziffern“ (Jünger 1934, 21) seien Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus, schreibt er im unmittelbar auf den Dalmatinischen Aufenthalt folgenden Text. Sicher Hölderlins, mitunter in jenen Anmerkungen entwickelte Tragiktheorie gehört zu den komplexesten Poetologien der deutschen Literatur. Doch das heißt nicht nur, dass Jünger sich eben diese Mühe machte, das liest sich wie ein poetologischer Kommentar: Seht her, wie tief meine Überlegungen wurzeln.

Ein letzter Blick in jene tiefen Gedanken Hölderlins, auf die Jünger sich hier bezieht, wenn er von der „Gewalt des Schmerzes“ spricht, welche die „Gefüge der Wortsprache vulkanisch zersprengt“, in eine Sprache an „Steine und Götter“ (ebd., 22): Es handelt sich um jene momenthafte Totalität, die der Mensch in Anbetracht des Göttlichen erfährt, „wenn das Bewußtsein unserer Freiheit durch die Begegnung mit dem Übermächtigen aufgehoben wird“ (ebd., 21), wie es bei Jünger heißt. Das Absolute – Gott, Naturmacht, Element und Zeit lauten die Synonymisierungen bei Hölderlin – wird erfahren in einem höchst irritierenden Moment, denn absolut ist dessen Negativität, bewusstlos was vor und was jenseits von ihm liegt. Hier reißt die geschichtliche Kontinuität und mit ihr der geschichtliche Sinn.

Diesen Selbstverlust, der mit der Wortsprache nicht mehr ausgedrückt werden kann, glaubte Jünger in den Schmerzensschreien des Krieges, in den Frontgräben und Lazaretten, gehört zu haben. Hier deutet sich an, wie fruchtbar die Rezeption Hölderlins für ihn gewesen sein mag, und was er vielleicht früh im Tragisch-Heroischen Hölderlins erkannte. Vielleicht fand er hier die poetologische Folie für jenes Programm, von dem er wenige Jahre zuvor gesprochen hatte, für eine nachträgliche Sinnstiftung in der Dichtung, für die Überwindung des Nihilismus, jenes „magischen Nullpunkts“. Mit Hölderlin, der, von den Schüben seiner Krankheit erschüttert, in den Anmerkungen zum Ödipus seine „vaterländische Umkehr“ geschichtsphilosophisch auskleidete. Jene Poetologie, zu deren Kontext auch der Boehlendorff-Brief zählt, dessen Worte vom vaterländischen Gesang so furchtbar missbraucht wurden. Die hervorragende Aufgabe des „deutschen Buches, dem deutschen Volke die gewaltigen Hintergründe des geschichtlichen Geschehens unserer Tage“ (Goebbels 1943, 65) zu zeigen, wie Goebbels es forderte, das erfüllte Jünger längst nicht mehr.

Als die Hoffnung auf politische Erneuerung starb und im offenen Terreur mündete, lies Hölderlin einen Eremiten die Marmortreppen auf die Höhen von Korinth steigen, um wehmütig auf ein verlorenes, und sehnsuchtsvoll auf ein kommendes Reich zu blicken, wo die „faulen Früchte“ der „Friedlosen“ in „Flammen“ (Hölderlin 1992, Bd. 2, 174) aufgehen würden. Als Jünger den deutschen Nationalismus ins offene Unrecht stürzen sah, ließ er einen Eremiten auf die Marmorklippen steigen, um mit „wilder Schwermut“ (Jünger 1939, 249) von zivilisatorischem Niedergang und Wiedergeburt zu erzählen. Nicht ohne Ambivalenzen, nicht ohne – wenn man so will – Genuss.

Ja, später hat Jünger sich neben Hölderlin als „Auguren der Malstromtiefen“ (Jünger 1979, 13) gestellt. Doch erscheint es nicht vorstellbar, dass Jünger, durch die Rue Royale des okkupierten Paris flanierend, wo er zum ersten Mal an drei jüdischen Mädchen den gelben Stern erblickt und sich seiner Uniform zu schämen beginnt, wie er am 7. Juni 1942 in sein Tagebuch notiert, dass er, der dandyhafte Offizier, nach Hause geeilt, in einem schon zerlesenen Hölderlinbändchen Beistand fand? Zur Sublimation des Leids, zur Wandlung ins Abendländische, ins Christliche?

Es kann, es darf nicht darum gehen, Jüngers unzweifelhafte Rolle in der präfaschistischen Intelligenz zu nivellieren. Doch der Blick auf seine ästhetische Verfahrensweise erlaubt zu sagen: aller Verwerfungen, derer er sich schuldig machte, ist die produktive Rezeption Hölderlins nicht zuzuzählen.

Vielleicht erfuhr auch Jünger, um mit einem Wort Robert Minders (und Clemens Brentanos) zu schließen, was damals galt und heute gilt: „Was reif in diesen Zeilen stand, speist heute Zehntausende in der Welt“ (Minder 1966, 45).

Literatur

Benn, Gottfried / Ernst Jünger: Briefwechsel 1949–1956. Stuttgart 2006.

Gaier, Ulrich: Hölderlins vaterländische Sangart. In: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986–1987). S. 12-59.

Goebbels, Joseph: Buch und Schwert. Rede zur Eröffnung der Woche des deutschen Buches. In: Ders.: Das eherne Herz. München 1943. S. 61-71.

Goebbels, Joseph: Die Tagebücher. Hrsg. von Elke Fröhlich. Teil I. Aufzeichnungen 1923–1941. Band 1/III. Juni 1928 – November 1929. Bearbeitet von Anne Munding.  Berlin 2006.

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992. Band 3. Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente. Hrsg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt.

Hölderlin, Friedrich: Der Archipelagus. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992. Band 1. Ders.: Gedichte. Hrsg. von Jochen Schmidt. S. 253-263.

Hölderlin, Friedrich: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992. Band 2. Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen. Hrsg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katherina Grätz. S. 9-175.

Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen. Dritte Abteilung. Erzählende Schriften. Band 15. Erzählende Schriften I. Schriften I. S. 247-351 (Erstausgabe 1939).

Jünger, Ernst: Dalmatinischer Aufenthalt. Erste Abteilung. Tagebücher. Band 6. Tagebücher VI. S. 9-35 (Erstdruck 1934 in: Blätter und Steine).

Jünger, Ernst: Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays. Band 9. Essays III. Stuttgart 1979. S. 31–176.

Jünger, Ernst: Lob der Vokale. Zweite Abteilung. Essays. Band 12. Essays VI. S. 11-46.

Jünger, Ernst: Siebzig Verweht I. In: Ders.: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher. Band 4. Tagebücher IV. Stuttgart 1982.

Jünger, Ernst: Vorwort. In: Ders.: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher. Band 2. Tagebücher II. Stuttgart 1979. S. 9-23.

Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Berlin 1928.

Mann, Klaus: Die Jugend und Paneuropa. Hamburg 1992. In: Die neuen Eltern. 254-274.

Mann, Thomas: Briefe 1937–1947. Hrsg. von Erika Mann. Reutlingen 1963.

Minder, Robert: Hölderlin unter den Deutschen. In: Ders.: Hölderlin unter den Deutschen und andere Aufsätze. Frankfurt am Main 1966. S. 20-45.