Barbaren von Alters her?

Friedrich Hölderlin und die Deutschen

Von Dieter BorchmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Borchmeyer

Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk.
Friedrich Hölderlin: Hyperion an Bellarmin (1797)

In seinem Vortrag Hölderlin und die Deutschen (1915) spricht Norbert von Hellingrath, der Wiederentdecker Friedrich Hölderlins, von der „Doppelgesichtigkeit“ des deutschen Volks, die gerade jetzt, inmitten des Krieges, wieder besonders stark hervorzutreten scheine und für die vor allem Hölderlin einen besonderen Blick gehabt habe (Hellingrath 1922, S. 38). Hellingrath hatte an der Universität München Germanistik studiert und 1909 in der Stuttgarter Bibliothek bisher unbekannte späte Hymnen und Pindar-Übertragungen Hölderlins entdeckt. Durch Vermittlung seines Freundes Karl Wolfskehl kam er ins Gespräch mit Stefan George, der ihm ermöglichte, seine spektakulären Funde in den Blättern für die Kunst zu veröffentlichen.

1912 begann Hellingrath mit der Herausgabe einer Hölderlin-Werkausgabe, deren erster Band im Jahr darauf erschien. Ihre Wirkung auf die literarische und wissenschaftliche Welt war außerordentlich. Ein bis dahin nur als Nebenfigur der Literaturgeschichte betrachteter Autor wurde mit einem Schlage als einer der bedeutendsten deutschen Dichter erkannt – wofür es in der deutschen Kulturgeschichte wohl nur eine Parallele gibt: die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs durch Felix Mendelssohns Aufführung der Matthäus-Passion im Jahre 1829. George erhob Hölderlin zu einem seiner ästhetischen Ahnherren und nahm Hellingrath in seinen Kreis auf. Ausgerechnet im Tumult des Krieges gelangten Hölderlins späte Gedichte und Fragmente ans Licht und bewegten die akademische Jugend so stark, dass sie nach den Worten von Klaus Mann glaubte, für ein „hölderlinsche[s] Deutschland […] sterben zu müssen“ (Mann 1992, S. 199).

Der 1914 zum Kriegsdienst eingezogene Hellingrath kehrte im Frühjahr 1915 wegen eines Reitunfalls von der Front heim nach München. Hier hielt er in Anwesenheit unter anderem von Wolfskehl und Rainer Maria Rilke zwei Hölderlin-Vorträge (von denen wir den ersten hier zitieren), ehe er ins Feld zurückkehrte – und in der Schlacht um Verdun am 14. Dezember 1916, erst achtundzwanzigjährig, fiel. In seiner Rede Hölderlin und die Deutschen stellt er die Entdeckung Hölderlins vor den Hintergrund der antideutschen Kriegspropaganda:

Wenn wir jetzt aus allen Teilen der Welt hören: wir Kindswürger und Mordbrenner seien Barbaren, Nachfahren der alten Hunnen […], dann fühlen wir guten Deutschen das Bedürfnis, uns vor den Feinden – denn was haben wir sonst – ins rechte Licht zu setzen, weisen das Ausland schüchtern darauf hin, daß wir doch eigentlich im Grunde das Volk Goethes seien.

Dies sei ein Beleg dafür, dass die Deutschen keine stabile Selbsteinschätzung kennen, „ihres eigenen Selbstgefühls nicht sicher sind, wenn sie es nicht vom Mund der Nachbarn ablesen können“ – seien sie doch nun einmal unter den europäischen Nationen Emporkömmlinge, die sich üblicherweise nach dem Urteil der anderen richten.

Hellingrath verweist nun auf die „seltsame Doppelheit, die Wesen und Rätsel des Deutschen ist“, die „Doppelgesichtigkeit unseres Volkes“. Hier taucht eine Formel auf, die für den George-Kreis und sein Deutschland-Bild bis ins Dritte Reich prägend sein wird und für die bei Hellingrath der Name Hölderlins steht: Der Kern des „deutschen Wesens“ trete lediglich „in einem geheimen Deutschland zutage“, nämlich „in Werken, die immer nur ganz wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, ja den meisten Nicht-Deutschen wohl nie zugänglich sind“. Sei Johann Wolfgang Goethe von seiner sozialen Herkunft und schließlich erreichten Lebensstellung her der wahre Repräsentant eines der gebildeten Mehrheit zugänglichen Deutschland, so sei der sozial immer am Rande stehende Hölderlin der Künder jenes „geheimen Reiches“, das sich nur wenigen erschließt (wie etwa den Mitgliedern des ungenannten George-Kreises). Entsprechend gibt es für Hellingrath nicht nur das „Volk Goethes“, sondern auch – unter der Oberfläche, im Innern des Landes – das „Volk Hölderlins“ (Hellingrath 1922, S. 15ff).

Hellingrath kontrastiert Hölderlins Gedichte und Fragmente, die um dieses innere Deutschland kreisen, mit der „berühmten Strafrede des Hyperion“ gegen die Deutschen, „die ihm [Hölderlin] selbst gewiß noch weher getan hat als den Lesern, denn er hatte es erlebt, und dieser Zorn ist eben ein heller Widerschein seiner glühenden Liebe für das unglückliche Vaterland“ (ebd., S. 36). In Hyperions Brief an Bellarmin drückt sich nach Hellingrath der „Zusammenstoß“ des geheimen mit dem wirklichen Deutschland aus, „das damals nicht viel anders war als heute“ (ebd.). In seiner Strafpredigt – einer der schärfsten, die je gegen die Deutschen gerichtet wurde – vermisst der Protagonist in Hölderlins Hyperion bei letzteren gerade das, was die deutschen „Dichter und Denker“ des späten 18. Jahrhunderts – Immanuel Kant und Friedrich Schiller zumal – in den Mittelpunkt ihres Denkens gestellt haben: die Interesselosigkeit des Schönen, die auf den ganzen Menschen zielende Bildung statt der Abrichtung auf zweck-, nutz- und fachbestimmte Fertigkeiten. Hyperions Rede, aus der einige Kernstellen zitiert seien, lesen sich wie ein Gegenbrief zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit ihrer Autonomieerklärung und Ganzheitsbestimmung des Menschen.

Schillers Briefe richten sich vom Idealbild des Griechentums her gegen die vom Nutzen bestimmte Gegenwart und eine in Fachkompetenzen zersplitterte Menschheit: „Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen.“ So heißt es im zweiten Brief (Schiller 2004, S. 572). Im sechsten Brief mit seiner schonungslosen Kritik am gegenwärtigen Zustand der Menschheit lesen wir:

Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohr, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. (Ebd., S. 584)

Gegen diesen Zustand richtet sich das Programm der ästhetischen Erziehung, die in einer Spiralbewegung wieder zur Ganzheitlichkeit des griechischen Menschen zurückführen soll.

Im Gegenzug desillusioniert Hölderlins Grieche Hyperion nun dieses Programm, er läßt die Deutschen in das zurückfallen, was die ästhetische Erziehung überwinden sollte:

So kam ich unter die Deutschen. […] Barbaren von Alters her […], verdorben bis ins Mark […]. Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte […], aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? […] Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zwek, da sucht es seinen Nuzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! […] Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen. (Hölderlin 1957, S. 153–156)

Norbert von Hellingrath bemerkt zu Hyperions Brief:

Ja, er sprach für jeden der wahrhaft großen Deutschen, die alle leiden wie er gelitten hat unter der Doppelgesichtigkeit des Volkes, dessen innerer Kern jeden ebenso überwältigt und zur Liebe zwingt, wie in der äußeren Schicht etwas ist, das jeden abgestoßen und beleidigt hat. Aber später, sagt man, hat er wundervolle Worte des Lobes gefunden für dieses Vaterland? (Hellingrath 1922, S. 41)

„Nein, nicht für dieses Vaterland“, antwortet Hellingrath selbst, sondern für ein „Deutschtum“ von innen heraus – wie im Gesang der Deutschen –, eben für das „geheime Deutschland“, das Hölderlin zumal in seinem „Weissagungshymnus“ Germanien verkündigt. Diesen Hymnus rezitiert Hellingrath am Schluss seines Vortrags in Gänze, als Ausblick in eine Zukunft „unter seinem Volke, das er ja nur schmäht, weil er es an dem Wunschbild seiner Liebe mißt.“ (Ebd., S.43) Hellingrath verdankt den Begriff des geheimen Deutschland seinem Freund Karl Wolfskehl, der ihn schon 1910 verwendete (Blätter für die Kunst 1910, S. 14f.)) – in Abgrenzung vom offiziellen Deutschland des wilhelminischen Reichs. George selbst wählte den Begriff „geheimes Deutschland“ später als Titel für ein Gedicht in seinem letzten Band Das neue Reich (George 1968, S. 425f). Mehr und mehr wurde er zur geheimen Losung des George-Kreises (Vgl. Norton 2002). Der jüdische Historiker Ernst Kantorowicz hielt im November 1933 seine letzte Frankfurter Vorlesung über das Thema Das Geheime Deutschland – ein Schwanengesang vor den finster heraufziehenden Wolken eines ganz anderen Deutschland.

Der „Liebe der Deutschen“ empfiehlt Hölderlin seinen Briefroman in der „Vorrede“ (Hölderlin 1961, S. 489) und der Adressat der Briefe Hyperions ist Deutscher und heißt Bellarmin, ein sprechender Name, der das Attribut „schön“ mit dem Namen des Cheruskerfürsten Arminius verbindet, der Hölderlin von seiner frühen Begeisterung für Friedrich Gottlieb Klopstocks Hermanns Schlacht her teuer war. Auch der Titelheld des Romans ist aber im Grunde ein Deutscher in hellenischem Gewand. Am deutlichsten zeigt sich das in seiner Deutschenschelte, die aus einer Außenperspektive in dieser Form undenkbar wäre, sich als nichts anderes denn als deutsche Binnenkritik entpuppt. Der desillusioniert aus Deutschland in seine griechische Heimat zurückkehrende Hyperion ist das – seitenverkehrte – Spiegelbild des sich im eigenen Vaterland entfremdet fühlenden, seine Identität nicht hier, sondern nur in der Spiegelschrift eines fiktiven Griechenland findenden Deutschen. Hyperions, des heimlichen Deutschen, Scheltrede auf Deutschland ist, wie schon der 17-jährige Friedrich Nietzsche bemerkt hat, die Kehrseite von Hölderlins Vaterlandsliebe:

Im Hyperion schleudert er scharfe und schneidende Worte gegen die deutschen „Barbaren“. Dennoch ist dieser Abscheu vor der Wirklichkeit mit der größen Vaterlandsliebe vereinbar, die Hölderlin auch wirklich in hohem Grade besaß. Aber er haßte in dem Deutschen den bloßen Fachmenschen, den Philister. (Nietzsche 1956, S. 96ff.)

Zu den Eigentümlichkeiten der Identitätssuche der Deutschen gehört, dass sie diese Identität immer wieder außerhalb des Deutschen suchten. Der oder die Fremde als alter ego des Ich, das seine Identität im Anderen zu finden glaubt: die gespaltene Identität des Deutschen, die sich zumal in seiner Griechenland- und Italiensehnsucht ausdrückt. Wilhelm Heinse hat in seinem Roman Hildegard von Hohenthal (Teil III) das „Italien-Weh“ – seine berühmte Formel – eine „besondre Art von Heimweh“ genannt (Heinse 1903, S. 148). Nirgends kommt sie bezwingender zum Ausdruck als in Mignons Italienlied aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. In dem Heimweh der kleinen Italienerin verbirgt sich das Fernweh der Deutschen. Nicht viel anders steht es mit der deutschen Griechenlandsehnsucht. Auch in Iphigenie auf Tauris ist es das Heimweh der Griechin, in dem sich die Sehnsucht, das deutsche Fernweh nach Griechenland verbirgt. Iphigenie befindet sich im Exil auf Tauris. „Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.“ Immer fühlt sie sich „fremd“, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“(Goethe 1976, S. 7f). Eine wahre Griechin spricht schwerlich so über ihr Heimatland, nennt es nicht „Land der Griechen“. Das ist deutsche Außenperspektive!

In seinem großen Brief an Goethe zum 45. Geburtstag im Jahre 1794 skizzierte Schiller dessen innere Biografie, in deren Mittelpunkt folgender Gedanke steht: Da Goethe nicht wie der griechische – oder auch der italienische – Künstler „schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst“ vorgefunden habe, seien Goethe die „Form des Nothwendigen“ und der „große Styl“, die sein Schaffen prägen, nicht von vornherein vergönnt gewesen; vielmehr habe er das, was ihm die Wirklichkeit, das heißt die äußere Welt des Nordens, mit ihren „mangelhaften Gestalten“ vorenthielt, „durch Nachhülfe der Denkkraft […] ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland […] gebähren“ müssen (Schiller/Goethe 2009, S. 10f.).

Ein Griechenland zu gebären, um den Mangel der Welt, in die man hineingeboren wurde, auszugleichen, ist nicht nur das Ziel Goethes gewesen, wie Schiller es ihm zuschreibt, sondern es war ein Ostinato der Zeit von Johann Joachim Winckelmann bis Hölderlin und darüber hinaus. Sie haben alle ihr eigenes ideales Griechenland geboren, in dem sie ihre Identität als Deutsche suchten, eine Identität, welche ihnen Deutschland in seiner hinter dem Niveau der europäischen Kulturnationen weit zurückgebliebenen geistigen, sozialen und politischen Gestalt nicht bieten konnte. Die Bindung an das Andere, Ferne, an die Gegenkraft zum Angeborenen sollte mithin helfen, „die eigene Art“, die „eigene Seelenlandschaft“, ja die eigene nationale Identität zu finden. „Der Glaube an Griechisches“, so Walther Rehm „ist also im Letzten nur ein Gleichnis […] für den Glauben an das Deutsche“, das sich aus ihm entwickeln sollte (Rehm 1952, S. 16f). Beides, Deutsches und Griechisches, war durch eine affectio originalis verbunden, die bei niemandem eine bedeutendere poetische Gestalt gewonnen hat als bei Hölderlin. Er hat Hellas und Germanien in einem großen Offenbarungsraum zusammengeführt, der durch den Adler, der „vom Indus kömmt, / Und über des Parnasses / Beschneite Gipfel fliegt“ (Germanien) zusammengespannt wird. „Das Griechische“, so noch einmal Rehm, „scheint gewissermaßen als eine mögliche Form des Deutschen, vor allem aus seiner menschlich-urbildhaften Art heraus.“ (Ebd., S. 17) Es wird zum Spiegel, in dem das Eigene in idealerer Gestalt wiederkehrt und auf dasselbe zurückstrahlt. Deutschtum und Griechentum im Doppelspiegel der Humanität.

Auf diese Suche nach dem verlorenen Griechenland begibt sich auch der heimliche Deutsche Hyperion. Seine Heimkehr nach Griechenland ist das spiegelverkehrte Abbild einer geistigen Auswanderung, „inneren Emigration“ vieler deutscher Schriftsteller, welche die Misere ihres Lebens in einem kulturell zurückgebliebenen Deutschland als identitätsschwächend beklagen. Im blutig niedergeschlagenen Aufstand der Griechen gegen die türkische Unterdrückung in den Jahren 1768 bis 1772, der im Mittelpunkt des Hyperion steht, spiegelt sich zugleich die deutsche Situation während der ersten Koalitionskriege. Hyperions Traum einer Erneuerung Griechenlands ist die Projektion der Vorstellungen Hölderlins von der Zukunft der deutschen Nation, ihrer politischen Entwicklung abseits vom Terror der Französischen Revolution. Auf eben diesen spielen der Bund der „Nemesis“, die Gestalt des Alabanda – gleichsam eines griechischen Jakobiners – und die Exzesse des griechischen Befreiungskampfes an, die Hyperion desillusionieren und zum „Eremiten“ machen. Hyperion hält Alabanda vor, dass er – wie Robespierre – „den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ (Hölderlin 1961, S. 515)

Der erste Satz des – aus Deutschland zurückgekehrten – Hyperion lautet: „Der liebe Vaterlandsboden gibt mir wieder Freude und Leid.“  (Ebd., S. 491). Wenn hier und im folgenden vom Vaterland die Rede ist, changiert der Begriff immer zwischen dem wirklichen griechischen Vaterland Hyperions und dem subtextuell gemeinten deutschen, so gleich auf derselben ersten Seite des Romans, wenn es heißt: „Wohl dem Manne, dem ein blühend Vaterland das Herz erfreut und stärkt! Mir ist, als würd ich in den Sumpf geworfen, als schlüge man den Sargdeckel über mir zu.“ (Ebd.) Die „Vorrede“ bezeichnet Hyperion als „elegischen Charakter“ (ebd., S. 489). Elegisch sind nach Schillers Typologie der sentimentalischen Gattungen in seinem Traktat Über naive und sentimentalische Dichtung (auf den Hölderlin zweifellos anspielt) jene Dichter, denen „die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer“ ist, „wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird“ (Schiller 2004, S. 728). In diese Spannung zwischen Natur und Ideal sieht sich auch Hyperion versetzt: Er ist der Spätling der griechischen Kultur, der trauernd auf ihre einstige Blütezeit zurückblickt, sich, „auf den Höhn des Korinthischen Isthmus“ stehend, vorstellt, „ein Jahrtausend früher hier gestanden“ zu haben. Doch aus seinen „Träumen“ wird er durch das Geschrei des Schakals aufgeschreckt, „der unter den Steinhaufen des Altertums sein wildes Grablied singt“ (Hölderlin 1961, S. 491). Die Ruine ist das Emblem des gegenwärtigen Zeitalters. Über diese ruinöse Gegenwart erhebt sich Hyperion, durch die Liebe Diotimas gereift, zum Ideal neuer Ganzheit, zu der Gewissheit, dass die verlorene Schönheit sich aus dem „Leben“ in den „Geist“ geflüchtet hat. Ganz im Sinne Schillers verkündet er:

Ideal wird, was Natur war, und wenn von unten gleich der Baum verdorrt ist und verwittert, ein frischer Gipfel ist noch hervorgegangen aus ihm, und grünt im Sonnenglanze, wie einst der Stamm in den Tagen der Jugend; Ideal ist, was Natur war. Daran, an diesem Ideale, dieser verjüngten Gottheit, erkennen die Wenigen sich und Eins sind sie, denn es ist Eines in ihnen, und von diesen, diesen beginnt das zweite Lebensalter der Welt. (Ebd., S. 547)

Die Trauer über den Verlust der göttlich durchwalteten Welt des alten Griechenland und die utopische Sehnsucht, „daß die alte schöne Welt sich unter uns erneure“ (ebd., S. 500) – die beiden elegischen Grundstimmungen, „Empfindungsarten“ (Schiller), die in der „idyllischen“ Stimmung angesichts der zum Ideal werdenden Natur gipfeln (Schiller 2004, S. 721, 744ff) –, schlagen immer wieder um in eine andere sentimentalische Empfindungsart: die satirische. Dies etwa dann, wenn es darum geht, „die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“ (ebd., S. 721) zu brandmarken, wie es in Hyperions Scheltrede wider die Deutschen geschieht, sowie darum, die „Unheilbarkeit des Jahrhunderts“ und seine „Sünden“ anzuklagen (Hölderlin 1961, S. 507, 511).

Wie Hyperions Kritik an seinem Jahrhundert und seine polemische Außensicht auf Deutschland als die spezifisch deutsche Innensicht seines Dichters zu erkennen ist, so verrät sich sein Blick auf sein griechisches Vaterland als deutsche Außenperspektive: „Ich liebe dies Griechenland überall. Es trägt die Farbe meines Herzens.“ (Ebd., S. 531) Das ist – das Demonstrativpronomen signalisiert es – wie Iphigenies Wort vom „Land der Griechen“ nicht „naive“ Bezeichnung des Eigenen, Ausdruck selbstverständlicher Identität mit dem Vaterland, sondern „sentimentalische“ Identifikation mit dem Anderen: mit „diesem“ Griechenland der Antike, das zugleich ein geheimes Deutschland ist.

Hinweis: Der vorstehende Essay greift zurück auf das Buch des Verfassers: Was ist deutsch? Eine Nation auf der Suche nach sich selbst. Berlin 2017.

 

Literatur

Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. V. Hg. v. Peter-André Alt [u.a.]. München/Wien 2004.

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Hg. v. Friedrich Beißner. Frankfurt a.M. 1961.

Hölderlin, Friedrich: Stuttgarter Ausgabe. Band III. Sämtliche Werke. Hg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1957.

George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Zum Jubiläumsjahr 1968. Bd. I. Düsseldorf/ München 1968.

Goethe, Johann Wolfgang: Goethe: Hamburger Ausgabe. Bd. V. München 1976.

Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1. Berlin 1910.

Hellingrath, Norbert von: Hölderlin und die Deutschen. In: Ders.: Zwei Vorträge. 11. Auflage, München 1922.

Mann, Klaus: Stefan George. Führer der Jugend. In: Ders.: Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken. 1924–1933. Hg. v. Uwe Naumann u. Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1992.

Norton, Robert E.: Secret Germany. Stefan George and his Circle. Cornell University Press 2002.

Schiller, Friedrich / Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Norbert Oellers. Bd. I. Stuttgart 2009.

Rehm, Walther: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens. Bern 1952.

Heinse, Wilhelm: Sämmtliche Werke. Hg. v. Carl Schüddekopf. Bd VI. Leipzig 1903.

Nietzsche, Friedrich: Werke. 3 Bände. Hg. v. Karl Schlechta.  Bd. III. München 1956.