Literatur trotz Diktatur

Abbas Khiders Roman „Palast der Miserablen“ erzählt von Jugend im Irak Saddam Husseins und ist ein Loblied auf die Literatur

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Jahr provozierte Abbas Khider mit einer Art Sprachlehrbuch Deutsch für Alle, das einen regelrechten Shitstorm auslöste – man hatte die Satire auf die deutsche Sprache wohl nicht verstanden. Nun hat der deutsch-irakische Schriftsteller, der seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, seinen fünften Roman geschrieben, in dem er die Geschichte eines Heranwachsenden während der Kriegsjahre und des darauffolgenden Wirtschaftsembargos gegen den Irak erzählt.

Khiders Protagonist, Shams Hussein, kommt in zwei alternierenden Erzählsträngen zu Wort: In einem berichtet er, wie er mit seiner Schwester Qamer und den Eltern, die Analphabeten sind, sein Dorf Ahlan Dschahannam, was so viel wie „Herzliche Hölle“ bedeutet, im Süden des Iraks verlässt, um in der Nähe des Bagdader Stadtteils Saddam City in einem auf Müllbergen errichteten sogenannten „Blechviertel“ ohne Strom und fließendes Wasser ein besseres Leben zu beginnen. Das gelingt allerdings nur phasenweise durch zugegebenermaßen ziemlich kreative Einfälle der Familie zum Gelderwerb wie etwa durch den Verkauf von Dattelsaft oder Zuckerwatte oder durch Wahrsagerei. In dem anderen Erzählstrang beschreibt der inhaftierte Shams seinen Gefängnisaufenthalt und körperliche Beschwerden. Bei der Beschreibung körperlicher Belange wünscht man sich bei Khider manchmal weniger Details. Dieses Mal sind es allerdings keine Brüste, die dem Protagonisten zu schaffen machen, sondern eine Analthrombose. Doch diese nuanciert beschriebene Krankheit scheint das kleinere Übel zu sein: Gegen Ende der Erzählung besteht der Protagonist nämlich nur noch aus Haut und Knochen. 

Palast der Miserablen ist ein Roman, der mit jeder Seite an Intensität gewinnt und sich wie ein guter Rotwein im Laufe der Zeit entfaltet, um dann zu kulminieren. Die erste Hälfte des Romans ist – ehrlich gesagt – ziemlich unaufgeregt und liest sich eher schleppend. Erst in der zweiten Hälfte, als die Familie im Blechviertel angekommen ist, entfalten sich die Charaktere und damit auch die letztendlich doch äußerst facettenreiche Handlung. Palast der Miserablen ist ein Bildungsroman, ein Kriegsroman, aber nicht zuletzt auch ein Roman über Literatur während der Diktatur.

Auf der Suche nach Porno-Zeitschriften stöbert Shams auf dem Basar zufällig erotische Erzählungen von Alberto Moravia auf und entdeckt so nicht nur seine fatale Liebe zur Literatur, sondern auch seine Begeisterung für das Schreiben. Eine ironische Schlüsselszene, denn schon bald wird er nicht nur Stammgast auf dem Bagdader Büchermarkt, sondern auch Teil des titelgebenden Palasts der Miserablen werden, einem Literaturzirkel, der sich während der Diktatur Saddam Husseins trotzig formiert und die Wirkungskraft von Literatur – gerade in Krisenzeiten – zelebriert. Diktaturen sind ohne verbotene Bücher kaum denkbar und das Lesen, insbesondere dieser Bücher, wird damit zu einer revolutionären Tat, zu einem Akt des Widerstands. Tatsächlich ist es schließlich die verbotene Literatur – in Form illegaler schiitischer Schriften –, die dem Protagonisten Folter und Haft beschert. Das Ende ist dramatisch und gipfelt in brutalen Folterszenen, in der sogar die gewohnte, eigentlich trotz Elend stets zuversichtlich-ironische Haltung der Khiderschen Protagonisten verloren geht.       

Mit Shams Schwester Qamer hat Khider eine besonders faszinierende Figur geschaffen, die mit sämtlichen Klischees zu brechen scheint: Selbstverständlich gibt es Frauen wie Layla, die, wenn sie die Ehre ihrer Familie beschmutzen, mit dem Tod bezahlen müssen – wie eine kleine Episode zeigt. Aber es gibt eben auch Qamer, die schon in frühen Jahren ihren Bruder gegen kriminelle Jungs verteidigt, gegen die Polizei rebelliert und schließlich zu einer erfolgreichen Geschäftsfrau avanciert, indem sie das Automobilunternehmen ihres Mannes geschickt und profitabel ausbaut. Doch auf diesen Höhenflug folgt ein umso schmerzhafterer Absturz als die Regierung ihr Vermögen konfisziert.

Es sind darüber hinaus auch auf den ersten Blick unauffällige Randszenen, die dem Roman eine gewisse Schlagkraft verleihen und das Leben in Bagdad zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnungsschimmer anschaulich beschreiben. So wird zum Beispiel ein Fahrgast im Bus, der den Protagonisten an Jackie Chan oder Bruce Lee denken lässt, zum Hoffnungsträger für alle Passagiere „in einer Zeit, in der viele davon träumten, das Land zu verlassen und ins Ausland zu gehen.“ Suggeriert der asiatische Fahrgast also eine grenzüberschreitende Mobilität, betonen andere kleine Episoden die Ausweglosigkeit der irakischen Misere: Eine Mutter, die ihre noch kindliche Tochter zur Prostitution anbietet, eine mutige Schriftstellerin, die zur Märtyrerin für Meinungsfreiheit wird oder ein Obdachloser, der an einer Klebstoffstube schnüffelt und glaubt, das Land befinde sich noch in Zeiten des ersten Irakkriegs, als der Irak Kuwait angriff. „Das Land“, so konstatiert Shams Freund Hisham nüchtern und doch verzweifelt „ist echt am Ende“. Am Ende ist zum Abschluss des Romans auch der Protagonist: Seine Stimme in der Gefängniszelle wird immer dünner, die Gefängnis-Kapitel immer knapper, bis er am Ende kaum noch die Lippen bewegen kann, da bleibt nur ein Faustschlag gegen die Tür.

Wenn man die Anfangshürden mal ignoriert, ist Khider ein facettenreicher Roman gelungen, der besonders durch seine Charaktere und Randepisoden besticht. Nicht zuletzt ist er ein Loblied auf die Literatur, auch ganz unabhängig von Diktatur.

Titelbild

Abbas Khider: Palast der Miserablen.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265653

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