Wo sind die Kinder?

In „Power“ erschafft Verena Güntner eine bedrückende Parabel auf die Gegenwart

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Power sei eine „faszinierende Parabel auf die Gegenwart“, so der Schriftsteller Jan Brandt auf dem Klappentext zu Verena Güntners zweitem Roman, „und eine Kampfansage: So, wie es ist, kann es nicht weitergehen.“ Brandts Worte irritieren zunächst, lenken dann jedoch unweigerlich die Leseerwartung – ob zu Recht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Denn die Handlung von Power ist ebenso undurchdringlich wie surreal. Das Buch ist ein beklemmendes Portrait ländlichen Lebens und ein Meisterstück allegorischen Erzählens. Tatsächlich ist Güntner einer der originellsten Texte, den die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den letzten Jahren hervorgebracht hat, gelungen. Vor allem, weil er kompromisslos ist – bis zur Schmerzgrenze.

In einem nicht näher benannten, durch Abwanderung und Verwahrlosung dem Verfall preisgegebenen süddeutschen Dorf verschwindet ein Hund namens Power. Die alte, möglicherweise demente Besitzerin beauftragt die 11-jährige Kerze damit, das Tier wiederzufinden. Kerze brüstet sich damit, jeden Auftrag, der ihr erteilt wird, lösen zu können, und schon früh bekommt der Leser zu spüren, dass es sich bei dem Kind um eine radikale Figur handelt, die vollkommen humorlos und zunehmend autistisch ihre Aufgabe zu erfüllen gedenkt.

Kerze schart immer mehr Dorfkinder um sich, um den Hund zu suchen. Als sich auch nach mehreren Tagen kein Erfolg einstellen will, entscheiden sich die Kinder – mittlerweile machen alle Minderjährigen mit – in den naheliegenden Wald zu ziehen und unter der Anleitung Kerzes zunehmend tierische Eigenschaften anzunehmen: Sie bellen, kriechen auf allen Vieren, beschnuppern sich in Intimregionen, schlafen nur im ineinander verwobenen Knäul. Die Eltern irritiert die schleichende Abwesenheit der Kinder nur ansatzweise, sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ab dem Moment, in dem die Kinder in den Wald gehen, gelten sie als verschwunden. Die Dorfgemeinschaft ist alarmiert, aber handelt zunächst nicht.

Nun erfährt der Roman einen Bruch: Ist der erste Teil noch aus der Sicht Kerzes erzählt, bekommt der Leser jetzt verschiedene Perspektiven der Dorfbewohner angeboten. Die Kinder sind im Wald, und nur selten tauchen sie an dessen Rändern auf, um Essen zu holen oder Nachrichten weiterzugeben. Und zunächst haben sie auch keine Stimme mehr. Die Eltern wiederum reagieren mit Ausgrenzungen und Schuldzuweisungen, anstatt einfach in den Wald zu gehen und die Kinder zu holen; als sei eine magische Wand zwischen Zivilisation und Wildnis eingezogen worden, welche die Verschwundenen von den Zurückgebliebenen trennt.

Und tatsächlich ist Power nicht zuletzt auch ein Roman über das Verschwinden, das sich wie ein roter Faden durch die Handlung zieht. Nicht nur die Kinder entschwinden der Sicht der Eltern, auch der Mann der Hundebesitzerin, so erfahren wir, war eines Tages in der mittlerweile fernen Vergangenheit plötzlich verschollen, wie auch die Frau des das Dorf tyrannisch beherrschenden Bauern. Doch niemals wird dieses stete Verschwinden hinterfragt, es gehört zum Alltag des abgeschotteten Ortes und gleichzeitig dient es als Allegorie der Entfremdung.

Wie Verena Güntner, die hauptberuflich als Schauspielerin arbeitet, mit diesem komplexen Stoff umgeht, ist nichts anderes als eine literarische Meisterleistung. Der Leser tappt bis zum Schluss im Dunkeln, um was es in dem Roman eigentlich genau gehen soll. Ihr Ton ist lakonisch, bisweilen auch erbarmungslos, die Figuren extrem gut gezeichnet, auch wenn sie letztlich der Logik des Romans folgend als Stereotype dienen sollen. Wie in jedem guten Buch liegt die Wahrheit hier jenseits des Gesagten. Durch die wechselnden personalen Erzähler entzieht sich die Autorin gerne der Verantwortung, das Geschehen logisch und kongruent erscheinen zu lassen.

So legt sich eine Art Schleier über den Text, der das Beschriebene verwischt, Wahrheiten unkenntlich macht, Perspektiven verfälscht. Natürlich könnte man spekulieren, es handle sich bei den Kindern um eine Allegorie auf eine modernefeindliche Rechte, die anhand einer kompromisslosen Rückkehr zu archaischen Lebensformen nach der ‚Macht‘ sucht, während die zurückgelassenen Erwachsenen für die gleichgültige Masse stehen, die nicht einmal versucht, diesem Streben Einhalt zu gebieten. Warum dann aber die zwar originelle, irgendwie aber auch ernüchternde Auflösung, die hier nicht verraten werden soll, die jedoch nicht zuletzt mit der Erklärung des seltsamen Hundenamens ein zusätzliches Maß an Absurdität gewinnt. Sollte Power, wie Jan Brandt bekräftigt, tatsächlich eine Message haben, dann wird diese nämlich so unaufdringlich vermittelt, dass dem Leser genug Raum bleibt, sich einen eigenen Reim auf diesen meisterhaften Roman zu machen.

Titelbild

Verena Güntner: Power. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
250 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832183691

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