Stech- und Kriebelmücken und 450 Kilo Gepäck

Das Buch „Pfade in der Wildnis“ von Grey Owl ist ein frühes Beispiel ökologischen Schreibens

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Hinterland ist noch immer eine unberührte Wildnis, die sich über den halben Kontinent erstreckt: ein dunkles, furchteinflößendes Panorama ununterbrochenen Waldes, nur hier und da ein glänzender See, der wie ein Spritzer Quecksilber zwischen den hingeworfenen Hügeln wirkt. Ein raueres, strengeres Land als das strahlende Land im Süden; hier werden Mannestum und Erfahrung der strengsten Prüfung unterzogen, hier herrscht das uralte Gesetz, dass nur der überlebt, der sich am besten anpasst, hier nutzt Kraft ohne Schläue nichts. Eine unermesslich weite Gegend voller unbekannter Seen, verborgener Flüsse und nicht überlieferter Geschehnisse; so gut wie unverändert seit den Tagen, als der weiße Mann Amerika entdeckte.

Kanada, „ein Land voller Romantik, das die Vorstellungskraft mit seiner schieren Größe mit seinen endlosen Möglichkeiten und dem Zauber noch unversuchter Abenteuer erfüllt. Das Land liegt da, seit die Welt noch jung war, hüllt sich in ein Rätsel, das sich jedem Verständnis entzieht, und ist versunken in eine vollkommene, ungebrochene Stille, die alles umfasst; eine Stille, die durch das sanfte Wispern einer gelegentlich leichten Waldbrise in den Wipfeln weit über den Köpfen eher noch betont denn abgeschwächt wird.“

Es ist ein schwärmerisches, pathetisches Buch, das Grey Owl geschrieben hat, über die fast unbekannte Wildnis im Norden von Kanada, fern jeder Zivilisation, wo nur Fallensteller, Jäger und die First Nations leben (damals, in den 1930er Jahren, wurden sie noch Indianer genannt). Es ist ein hartes Land, wo ein einziger Fehler den Tod bedeuten kann, ein Land, in dem nur die überleben, die manchmal unter äußerster Anstrengung ihr Gepäck von einem Lager zum nächsten schleppen – Lager, die sie dann selbst erst noch aufbauen müssen: „Im Sommer müssen auf der Suche nach Jagdgründen lange Strecken zu Wasser und zu Lande bis ins Innere der Wildnis zurückgelegt werden, wobei einem Schwärme von Stech- und Kriebelmücken das Leben zur Hölle machen. Im Spätsommer oder Frühherbst werden Kanus mit bis zu 450 Kilo an Ausrüstung beladen und fahren dann […] Stromschellen hinunter oder müssen mühsam hinaufgestakt werden“. An Land angekommen „muss die ganze Ausrüstung ausgeladen und mit Hilfe eines ledernen Stirnbands, ‚Tumpline‘ genannt, an dem zwei drei Meter lange Riemen befestigt sind, je nach Wegbeschaffenheit in Lasten von 40 bis über 100 Kilo getragen werden. Dann wird das Kanu wieder beladen und die Fahrt fortgesetzt. Auf den Landstrecken werden keine Pausen eingelegt; frei nach dem soliden Grundsatz, dass eine Veränderung ebenso gut ist wie eine Pause, findet die Erholung auf dem Rückweg zur nächsten Traglast statt.“

Möchte man so leben? Wohl nur die wenigsten würden die körperlichen Strapazen aushalten und die Stille ertragen. Allerdings weiß Grey Owl auch, dass es Männer gibt, die dieses Leben gepackt hat und die nie wieder davon losgekommen sind: Er selbst war einer von ihnen.

Sein Buch Pfade in der Wildnis, 1931 unter dem Titel The Men of the Last Frontier veröffentlicht, erzählt von den übermenschlichen Strapazen, die das Leben in der Einsamkeit mit sich bringen, aber auch von den Wundern der Tier- und Pflanzenwelt. Es erzählt Geschichten vom Leben der kanadischen Trapper und Wildtierjäger in einer Welt, in der nur noch die Gesetze der Natur gelten, die zwar unbarmherzig und gnadenlos, aber auch überwältigend schön ist, und bleiben würde – wenn man sie nur in Ruhe ließe. In vielen Passagen beklagt Grey Owl das Vordringen der „Zivilisation“, die er mit den Lauten der Axt und der Eisenbahn in Verbindung bringt, für ihn zerstörerische Laute.

Sein Buch ist eine frühe Hymne an die Natur, eine Feier der Wildnis, der Wildheit, wie sie „von Anbeginn der Zeit war“. Er erzählt auch von der überlebenswichtigen Jagd, oft fast ein Zweikampf, in dem meist der Elch gewinnt, indem er flüchtet.

Der Wald ringsherum ist grau, braun und regungslos. In den letzten Stunden war kein Lebenszeichen zu erkennen, und das wird sich anscheinend auch nicht ändern. Eine tote, leere, stumme Welt aus drahtigem Unterholz, trockenem Laub und endlosen Baumreihen. Ein Stolperer, und schon erwacht der graubraune Wald mit einem Krachen zum Leben, und der etwas dunklere Schatten, den du für eine umgekippte Wurzel gehalten hast, nimmt einen eigenen Willen an; und schon rast eine riesige schwarze Gestalt mit einem armweiten Schaufelgeweih und über brusthohes umgefallenes Holz oder mitten hindurch, je nach dessen Widerstandskraft. Dieser hoch ausschreitende Läufer, der mit hängendem schwarzem Kinnbart, massivem Vorderteil, borstiger Mähne und blitzenden weißen Flanken geradezu prähistorisch wirkt und vielleicht vierhundert Kilo wiegt, steigt den Steilhang einer Anhöhe hinauf, bleibt auf der Kuppe stehen, dreht langsam den behäbigen Kopf und inspiziert dich bedächtig und arrogant. Dann macht er schnell kehrt und ist verschwunden, diesmal für immer.

Grey Owl heißt auf Ojibwe ‚wenjiganooshiinh‘: „Der Vogel, der nachts wandert“ – den davon abgeleiteten indigenen Namen Wa-sha-quon-asin, der für Europäer doch sehr indianisch klingt, nutzt er, um seine Leser zu beeindrucken. Als halben Indianer stellt er sich dann auch vor, sein Vater sei Schotte gewesen und Freund und Scout für Buffalo Bill Cody, seine Mutter eine Apachin. Die Presse habe daraus einen „Vollblut-Indianer“ gemacht, trotz seiner blauen Augen. In Wahrheit hieß er Archie Stansfeld Belaney und stammte aus Hastings, England, wo er bei seinen Tanten aufwuchs, nachdem sein Vater nach Florida gegangen und dort gestorben war. Als er 18 Jahre alt war, emigrierte er nach Kanada, geriet in die Wildnis und starb dort beinahe. Glücklicherweise traf er den Holzfäller Jesse Hood und eine Gruppe von Ojibwe-Indigenen, die ihm beibrachten, was er wissen musste. Er heiratete Angele Egwuna, eine Ojibwe, die er aber bald verließ, um tiefer in der Wildnis als Trapper zu leben. Grey Owl kämpfte im Ersten Weltkrieg, wurde am Fuß verwundet und überlebte einen Gasangriff, ehe er aus dem Dienst entlassen wurde.

In Kanada nahmen die Ojibwe ihn wieder auf und adoptierten ihn nach knapp vier Jahren. Sein Name war nun Wa-sha-quon-asin. Ab 1925 lebte er mit Gertrude Bernad, Anahareo, zusammen, einer Mohawk-Irokesin (zwischendurch heiratete er in England auch noch seine Jugendliebe Connie Holmes). Anahareo adoptierte zwei kleine Biber, McGinnis and McGinty, deren Mutter in einer von Grey Owls Fallen gestorben war. Dies wird als Wendepunkt in seinem Leben beschrieben. Anahareo überzeuge ihn, sich für den Erhalt der enorm dezimierten Biberbestände und den Schutz der Natur einzusetzen. Er schrieb Artikel im Forstmagazin und wurde in Nordamerika bekannt, der National Park Service produzierte einen Film über die beiden und ihre Biber (Bilder davon illustrieren seine Bücher) und bot ihm eine Stelle im Riding Mountain Nationalpark in Manitoba an, nicht zuletzt um den Tourismus anzukurblen. Der Park erwies sich aber als ungeeignet für die Biber und so zogen sie alsbald in den Prince Albert Nationalpark in Saskatchewan.

Grey Owl schrieb u.a. noch die Autobiografie Pilgrims of the Wild (1935) und begann, öffentlich aus seinen Büchern vorzulesen und seine Geschichten zu erzählen. Es folgten Reisen nach Europa – immer als „Indianer“ und natürlich auch eine Einladung der Kolonialmacht Großbritannien in den Buckingham Palast. Doch obwohl gerade erst fünfzig Jahre alt, schwächten ihn die Lesereisen durch Europa und machten ihn zu einem müden, alten Mann. 1938 starb er einsam an einer Lungenentzündung und den Folgen des Alkoholismus. Nichts davon steht in dem ansonsten schönen Buch – kein Nachwort klärt uns über die Biografie dieses seltsamen Mannes auf, dessen Leben so abenteuerlich war wie seine Bücher, und das ist schon ein sehr dickes Versäumnis, das man gerade von diesem Verlag nicht erwartet hätte.

Titelbild

Grey Owl: Pfade in der Wildnis. Eine indianische Erzählung von der Natur.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Torberg.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2019.
331 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783847704201

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