Prenzlauer Wasserschauen

Mit „Das Gift der Biene“ setzt die US-amerikanische Autorin Isabel Fargo Cole die Geschichte einer DDR-Künstlerfamilie fort

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

50 Jahre alt ist das Internet inzwischen, und fast könnte man meinen, dass alles, was wir heute mit ihm verbinden, mit Angst zu tun hat: sei es vor Überwachung, Big Data, Künstlicher Intelligenz oder dem Hass in den Sozialen Medien. Da tut es gut, daran erinnert zu werden, welche Utopien, welche Aufbruchstimmung die Menschen einst mit dem Netz verbanden.

Zum Beispiel das Grüppchen an ehemaligen DDR-Intellektuellen, das sich Mitte der 1990er Jahre in einem herrenlosen „buttergelben“ Haus irgendwo im Prenzlauer Berg zusammenfindet, welches den Schauplatz von Isabel Fargo Coles neuem Roman abgibt. Dass zum Beispiel jemand einfach so auf rätselhafte Weise verschwindet, wie der Vater der frisch eingezogenen jungen Malerin Vera Grünberg, werde es nicht mehr geben, glauben die in diesen Tagen erstmals online gehenden Bewohner; jeder werde künftig auffindbar und vor allem erreichbar sein. Und jeder werde im Netz seine eigene „Community“ finden können, nicht zuletzt sie, „die Ostdeutschen“, für die „ja sonst kein Platz vorgesehen“ sei, „sie müssten ins Virtuelle ausweichen.“

Thorsten, der mit solch steilen Thesen um sich werfende Technikfex der bunten Truppe aus verkrachten Studenten, Ex-Schauspielern und Möchtegern-Künstlern, bastelt sogar schon an einem Startup, einem Webportal für die Ost-Berliner Undergroundszene. Zu diesem längst vergangenen Bohème-Milieu der Prä-Gentrifizierungsära gehört auch der „Salon“ im heruntergekommenen Hinterhof-Gartenhaus, der als Schmuckwerkstatt, Debattierclub und improvisierter Technoschuppen fungiert. Zeitweilig aber auch als Bühne pseudomystischer Erscheinungen.

Letzteres ist der Fall, als die dort waltende Salonière Meta, eine Judaistik-Studentin mit einem Faible für die Kabbala, anfängt, in dem knietief im Keller stehenden Wasser „mit dem leichten Modergeruch“ Gesichter zu sehen. Und zwar kurz nachdem sie herausgefunden zu haben glaubt, dass das Haus früher einem Wunderrabbi namens Mordechai Grynberg gehört habe, was ja wohl so klinge wie „Grünberg“.

Aber nicht nur Meta hat Erscheinungen, sondern fast alle in dem Haus, sogar Coles sonst so skeptische Ich-Erzählerin Christina. Ein Fall von „kollektiver Hysterie“ also: „Glich es einer Spiegelung, einem fernen, umgekehrten Abbild, das sich wieder aufrichtet, scharfstellt, in den Brennpunkt rückt? Oder einem Vexierbild, das sich im Spiegel entzerrt? Lag das Bild auf dem Wasser, darunter, darüber, unter meiner Schädeldecke? Egal: Stimmen bekamen Gesichter, Gestalten gerieten zwischen meine Hände, so klar, dass die Form des Ganzen genauso greifbar vor mir liegen müsste, sähe ich nur richtig hin.“

Hydromantie, Wasserschau, nannte man so etwas früher. Die kurze Zeit der „Wunder“ ist der skurril-fantastische Höhepunkt von Das Gift der Biene, einer atmosphärisch dichten, wenngleich etwas verworrenen Mischung aus Nachwende- und Künstlerroman, geschrieben in einer präzis-elegischen, nur leider etwas spröden Sprache. Zum kauzig-liebenswerten Personal von Coles Roman gehört neben der männerumschwärmten Meta, die als Punkerin zu SED-Zeiten in eine Anstalt gesteckt wurde, oder dem Büchernarr Wolfgang, der darunter leidet, dass er in seiner Zeit als Grenzsoldat im Harz einen DDR-Flüchtling erschoss, nicht zuletzt Isabel Fargo Coles Ich-Erzählerin.

Die orientierungslose Mittzwanzigerin stammt aus den USA – wie übrigens auch die Autorin, die selbst Mitte der Neunziger nach Berlin kam und sich als Übersetzerin von Wolfgang Hilbig und Franz Fühmann einen Namen machte. Ihre Protagonistin Christina dagegen forscht dank eines Stipendiums in Ost-Berlin über utopische Entwürfe von Hitlers Germania bis zur Hausbesetzerszene. In der Hausgemeinschaft in der „G…straße“ findet die junge Frau ein höchst anregendes Studienobjekt und in dem sensiblen Wolfgang einen etwas anstrengenden Liebhaber.

„Nicht beurteilen, nur beobachten“, lautet Christinas Devise, der sie auch dann noch folgt, als sie bei den abendlichen Salondebatten über Kapitalismus oder den Krieg in Jugoslawien für ihre neuen Nachbarn kurzerhand als Vertreterin des „Systems“ herhalten muss. Die meisten ihrer Mitbewohner, die „versprengten Reste der Republik“, haben zwar die Härten des SED-Staates am eigenen Leib erfahren müssen, dennoch gilt ihnen in der neuen Marktwirtschaft der Sozialismus noch immer als Ideal, nur halt als irgendwie „zu gut für diese Welt“.

Das Gift der Biene – der Titel ist eine William-Blake-Anspielung – ist bereits der zweite Roman von Isabel Fargo Cole. Vor zwei Jahren debütierte die auf Deutsch schreibende, 46-jährige amerikanische Autorin mit Die grüne Grenze, einem hochambitionierten 500-seitigen DDR-Roman, der ihr eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte. Coles Darstellung des SED-Staates war in ihrer Vielschichtigkeit um einiges überzeugender als die „Republik des schlechten Geschmacks“, die Coles berühmter Landsmann Jonathan Franzen in seinem Weltbestseller „Unschuld“ skizzierte.

Die Hauptfigur von Die grüne Grenze, ein mit seiner Familie vor der Stasi bis in den Harz fliehender DDR-Schriftsteller namens Thomas Grünberg, ist übrigens just der verschwundene Vater der jungen, manisch-depressiven Künstlerin Vera, die in der Fortsetzung nach der Wende mit ihren rätselhaften Bildern im Stil der Leipziger Schule ins Gartenhaus einzieht und dort ein überraschend grausiges Ende finden wird. Leser, die schon den ersten Roman mit all den verwickelten familiären Verhältnissen und dem sich im Dunkel des Harzes verlierenden Plot kennen, sind daher klar im Vorteil; allen anderen könnte Das Gift der Biene letztlich so verschwommen erscheinen wie Metas Wasserschau.

Titelbild

Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2019.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783960541967

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch