Fußpflegerin auf dem zweiten Bildungsweg

Nach zwei Romanen und einem Prosaband erzählt Katja Oskamp jetzt in „Marzahn mon amour“ Geschichten aus dem richtigen Leben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Schicksalsgenossinnen jenseits der 40 steht die Schriftstellerin Katja Oskamp, 1970 in Leipzig geboren, Anfang März 2015 vor einem Haus mit der Nummer 6 in Berlin-Charlottenburg. Eine große Tasche oder einen Rollkoffer hat jede der Frauen bei sich und darin findet sich alles, was man benötigt, um erfolgreich einen neuen Berufsweg einzuschlagen: den der Fußpflegerin. Gerade haben zwanzig Verlage eine neue Novelle von Oskamp abgelehnt und auch zu Hause läuft es nicht mehr richtig rund: „das Kind flügge, der Mann krank“. Wie soll man sich da noch lebendig, wach und gebraucht fühlen, „Frauen wie wir, mittelalte Mütter, bemüht und brav, namenlose Vertreterinnen eines namenlosen Mittelfelds, degradiert zu Fußnoten des eigenen Lebens“?

Also einen Neubeginn wagen. Sich noch einmal auf die harte Schulbank setzen, lernen – „die Namen der achtundzwanzig Fußknochen […], den Aufbau des Nagels, die Fußdeformitäten und wie eine Thrombose entsteht“ – und Prüfungen ablegen an einer Schule, die sich hochtrabend „Akademie“ nennt. Dabei alles beruflich bisher Gewesene zu vergessen suchen, Erfolge aus dem Gedächtnis streichen und, „ganz unten, bei den Füßen angelangt“, sich einen neuen Weg ins Leben erobern, auf ein neues Ziel zusteuern, auch wenn dieses Ziel sich nur schwer denjenigen vermitteln lässt, mit denen man in seinem alten Dasein Höhen wie Tiefen zu teilen gewohnt war. Aber wenn „Frauen jenseits der vierzig“ sowieso kaum mehr gesehen werden – wer will sie dann daran hindern, diese Unsichtbarkeit auszunutzen und zu tun, was sie für richtig halten, um aus der Lethargie der Lebensmitte herauszukommen?

„Die mittleren Jahre, in denen ich als Fußpflegerin in Marzahn gearbeitet habe, werden gute Jahre gewesen sein.“ Mit diesem Vorsatz tritt Katja Oskamp an. Und muss schon bald feststellen, dass die Menschen, um deren Füße sie sich fortan kümmert und nach denen sie die meisten der kleinen Kapitel ihres Buches benannt hat – Frau Guse und Herr Paulke, Frau Blumeier und Herr Pietsch, Frau Frenzel und die Eheleute Huth, Herr Hübner und ein gutes Dutzend andere, denen sie von unten herauf in die Augen sieht – nicht nur ihre der Pflege bedürftigen Füße mitbringen, sondern auch ganz eigene Geschichten, die es wert sind, aufgeschrieben zu werden.

Und so kommt mit der Zeit zum Füße pflegen – „Ich habe seit dem Frühjahr 2015 ungefähr dreitausendachthundert Füße gepflegt, das sind neunzehntausend Zehen“  – wieder das Schreiben hinzu. Manchmal morgens zwischen vier und sechs, vor der S-Bahn-Fahrt zur Arbeit nach Marzahn, der sie inzwischen nur noch an zwei Tagen in der Woche nachgeht. Nichts Spektakuläres wird da zu Papier gebracht – vielleicht mit der Ausnahme einer sich aus einem Hochhaus um die Ecke am helllichten Tag in den Tod stürzenden „Russin“. Aber das Leben der meisten Menschen ist auch in der Regel nicht spektakulär. Sondern muss immer wieder neu angegangen werden – was einige nicht ohne zu murren tun, andere voller Vorfreude auf das, was da kommen mag in den nächsten Stunden, Tagen, Monaten, Jahren.

Marzahn mon amour steckt voller Geschichten von sog. kleinen Leuten – selbst Herr Pietsch, der sich einst als Parteikader ziemlich weit nach oben gearbeitet hat, ist nach der Wiedervereinigung wieder unten gelandet, auch wenn er selbst das nicht wahrhaben will –, die in ihrer Summe aber das ausmachen, was man Leben nennt. Ob der auf den Rollstuhl angewiesenen Frau Blumeier mitten beim Sex mit einem wiedergefundenen Jugendfreund „dit Bette einjekracht“ ist, die fünfundachtzigjährige Frau Guse jeden Samstag Kassler mit Kartoffeln und Sauerkraut kocht oder der wie das wandelnde Klischee eines Ex-Politbonzen wirkende Herr Pietsch Buch führt über die 51 Seitensprünge seines Lebens, denen er gern ein Abenteuer mit seiner Fußpflegerin hinzufügen würde – Katja Oskamp hört genau hin, gibt Ratschläge, zeigt Interesse oder Mitgefühl und hält auch die unterschiedlichen Tonlagen ihrer Kundinnen und Kunden zwischen „Wollt ick grade sagen“ und „Gute Arbeit, Genossin!“ fest.

Auf einem „Betriebsausflug“ in die SaarowTherme am Scharmützelsee südöstlich von Berlin – die drei Frauen, die das Kosmetikstudio in Marzahn am Laufen halten, gönnen sich von Zeit zu Zeit dieses in ausgelassener Stimmung nach ein paar Runden Aperol Spritz in der Abenddämmerung endende Vergnügen – wird schließlich bilanziert. Und weil Oskamp ihren Hang zum Hymnischen – nur die „Schachtelsätze“ lässt sie auf Bitten ihrer Kolleginnen, die auch Freundinnen sind, aus – nicht ganz zu unterdrücken vermag, endet dieser Tag mit einem dreifachen Hoch: „Unsere Arbeit ist kostbar! Unsere Kundschaft ist spitze! Marzahn, mon amour!“ Als Leser des Büchleins, der sich vor der Lektüre nicht recht vorzustellen vermochte, wie aus Fußpflege Literatur werden könnte, möchte man dem nicht widersprechen.

Titelbild

Katja Oskamp: Marzahn mon amour. Geschichten einer Fusspflegerin.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
143 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783446264144

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