Ansichten vom irdischen Planeten in einem Textkorpus
Die Berner Ausgabe sämtlicher Schriften Alexander von Humboldts
Von Alexandre Métraux
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEndlich können die Ungeduldigen aufatmen, die seit einiger Zeit auf die Veröffentlichung der gesammelten Schriften Alexander von Humboldts gewartet haben. Und jene, die sich mit dem Schaffen dieses Gelehrten vertraut machen möchten, haben Gelegenheit, es vielfach zu tun. Das Textangebot ist riesig. Zählt man die in die Berner Ausgabe aufgenommenen Texte Humboldts zusammen, kommt man auf die ansehnliche Summe von 748 Beiträgen, die in sieben Bänden abgedruckt sind. Die zehnbändige Berner Ausgabe umfasst außerdem einen Übersetzungsband, einen Band mit Apparat, Bibliographie usw. sowie einen Band mit dem Titel Durchquerungen/Forschungen, der die so genannten Transversalkommentare enthält.
Zu beinahe allen Gegenständen, die entweder dem Autor während einer seiner Reisen auffielen oder die sich seiner unersättlichen Neugier als Forschungsobjekte anhaltend aufdrängten, findet man in diesen 748 Texten einen oder mehrere Lesewege. Unter dem ungewohnten Terminus ist folgendes gemeint: Man kann irgendeinen Band der Humboldt’schen Schriften aufschlagen, den Anfang irgendeines Texts suchen und eben dort mit dem Lesen beginnen. Der derart eingeschlagene Leseweg führt mal in die Botanik und die Verteilung von Pflanzenarten, mal in Bergbauverfahren oder in die Physiologie des Erbrechens oder in die vergleichende Sprachwissenschaft oder auch in damals kaum erforschte Regionen Neu Spaniens und so fort. Aber wem der Bergbau als Thema nicht sonderlich behagt, kann anderswo einen anderen Leseweg zu einem der vielen „Humboldt-Themen“ einschlagen.
Es handelt sich bei den sieben Textbänden dieser Edition allerdings nicht um das Humboldt’sche Gesamtwerk. So sind − um nur ein Beispiel zu nennen − die auf zwei Bände verteilten und beinahe 1000 Druckseiten füllenden Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt von 1797 in der Berner Ausgabe auf einen 1798 in Fortsetzungen im Journal de physique, de chimie, d’histoire naturelle et des arts erschienenen Bericht von 40 Seiten verkleinert worden. Wer sich wirklich mit Erregungsphänomenen der organisierten Materie aus der Sicht Humboldts befassen will, müsste die Versuche zur Hand nehmen und darin nach Relevantem suchen. Der französischsprachige Kurztext wirkt im Idealfall als erste Anregung − einen Ersatz für rezipierwürdige Wissensbestände der Versuche bildet er jedenfalls nicht.
Dagegen nehmen sich einige Beiträge im Umkreis des Kosmos geradezu als Metatexte aus, so auch die in der Gazzetta della Provincia di Lodi e Crema im Juli 1846 von Giuseppe Rota besorgten Bemerkungen Humboldts zur italienischsprachigen Übersetzung des Kosmos, seines Spätwerks. Aus Zeitmangel habe er vor langer Zeit schon beschlossen, meint Humboldt, sich der Einmischung in Übersetzungsangelegenheiten zu enthalten: „Ich wollte nicht einmal ein einziges Blatt der Druckabzüge der französischen Übersetzung sehen, da mir die Zeit fehlt, diese Versionen im Manuskript oder gedruckt zu lesen.“ Wer das nun als bare Münze einer Mitteilung hinnimmt, lässt sich beirren. Denn es ist von Vorteil, den Lese-Aufenthalt in dem unscheinbaren Beitrag von 1846 zu verlängern. Darin verrät Humboldt, dass er dem Verständnis des Kosmos durch eine von ihm selbst vorgenommene Überarbeitung nachhelfen wollte, diese Überarbeitung möge nun dem italienischen Übersetzungsprojekt zugutekommen: „Sollte der Plan einer Übersetzung ins Italienische verwirklicht werden, wäre es ein guter Rat, sich bezüglich der ersten 78 Seiten des deutschen Originals an die französische Fassung zu halten; der Grund ist, daß diese 78 Seiten in Paris von mir selbst überarbeitet wurden, damit sie außerhalb Deutschlands besser aufgenommen werden können.“ Woraus folgt, dass der, wie man sagen könnte, Gesamt-Kosmos sich als mehrsprachiges Werk erweist.
Humboldt schrieb auf Deutsch, Französisch und Latein. Die Berner Ausgabe enthält auch Texte in u.a. niederländischer, schwedischer oder polnischer Sprache. Deren deutschsprachige Übersetzungen sind in Band 9 zu finden, es sei denn, sie waren bereits in zeitgenössischen Journalen oder anderen Organen zu lesen. Ein Beispiel aus dem 2. Band: Der Text „Lettre du baron de Humboldt (de Berlin), à Jérôme Lalande“ wurde zuerst im Magasin encyclopédique, ou Journal des Sciences, des Lettres et des Arts im März/April 1800, im Folgejahr unter dem Titel „Aus einem Briefe an Lalande“ in den Annalen der Physik ohne Nennung eines Übersetzers veröffentlicht.
Wie gesagt, jeder Einstieg in dieses Textmassiv lohnt sich, weil es sich um vergleichsweise kurze Stücke handelt. Die Skizze „Über die Verbindung zwischen dem Orinoco und Amazonenfluß“ erschien zum Beispiel im September 1812 in der Monatlichen Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmels-Kunde; der französischsprachige Urtext war im November 1810 im Journal de l’École polytechnique veröffentlicht worden. Nachdem Humboldt die damaligen kartographischen Darstellungen des Ursprungs zweier Flussbetten, „deren Abhang nach entgegengesetzter Richtung geht“, gesichtet hatte, beschrieb er in dem Beitrag die Herausforderungen, denen sich jede hydrologische Bestimmung des besagten Gebiets stellen musste, und erzählte dann die von März bis Juni 1800 durchgeführte Exploration des Orinoco-Amazonas-Komplexes:
[…] ich habe den Lauf der Flüsse durch eine beträchtliche Anzahl astronomischer Beobachtungen bestimmt; ich bin mit Hrn. Bonpland den Atabapo, den Tuamini und den Terni hinaufgegangen; ich habe mein Canot von Javita über den Schlangenwald bis zum Canno Pimichin tragen lassen; ich bin auf diesem Fluß in den Guainia eingelaufen, welchen die Europäer Rio negro nennen; auf dem Guainia bin ich abwärts gefahren bis zu dem kleinen Fort San Carlos [usw.].
Diese Passage weist einen Weg zur Astronomie, Hydrologie und Geologie, mit deren Mitteln ein Raum bestimmt wird, gleichgültig, ob es sich, wie hier, um einen von Humboldt untersuchten Raum des lateinamerikanischen Kontinents oder um irgendeine Region östlich des Urals handelt, die der Gelehrte einige Jahre später erkundet hat.
Die gleiche Passage weist einen anderen Weg − den Weg zur Fabrikation von Landkarten unter Verwendung der an Ort und Stelle erhobenen Daten und damit auch zur Frage, wie Humboldt die kartographischen Rohdaten verwertet und durch Vergleiche mit anderen Karten und geographischen Beschreibungen verfeinert, also publikationswürdig gemacht hat.
In dem Text über den Orinoco-Amazonas-Komplex erwähnte Humboldt übrigens die Monographie Vittorio Fossombronis über die hydraulische Besonderheit von Val di Chiana (in der Umgebung Arezzos) von 1789 sowie einen Artikel von Gaspard de Prony über das hydraulische System Italiens von 1810. In beiden Schriften ging es um dasselbe Thema: den einen Ursprung zweier Wasserläufe, die in verschiedene Richtung fließen. Nun ist anzunehmen, dass Humboldt die Monographie Fossombronis im Frühjahr 1800 nicht im Gepäck hatte; vermutlich ist er erst durch das Manuskript seines Kollegen de Prony darauf aufmerksam geworden, denn dieser zitierte in seinem Artikel die lange Abhandlung des italienischen Gelehrten. Und da de Pronys Aufsatz in demselben Band des Journal de l’École polytechnique erschien wie der Text über den Orinoco-Amazonas-Komplex, ist ferner anzunehmen, dass Humboldt die Darstellung seiner Erkundungsergebnisse mit Wissen um die kartographische Bestimmung des hydraulischen Systems bei Arezzo angefertigt hat, oder hat anfertigen lassen.
Und endlich weist die Textpassage noch einen anderen Weg, den man bisher kaum eingeschlagen hat − den Weg zu Publikationsstrategien. Humboldts Ansichten der Natur (1808 in erster Auflage erschienen) und der mehrbändige Kosmos (ab 1845 publiziert) sicherten ihm dauernd Ansehen besonders außerhalb der gelehrten Milieus. Diese Schriften lassen aber nicht erkennen, welche Teile davon zuvor oder danach, unübersetzt oder übersetzt, bearbeitet oder unbearbeitet, zu Werbezwecken von seinen Verlegern oder ohne Widerspruch des Autors wieder und wieder gedruckt wurden. Nicht anders verhielt es sich mit den französischsprachigen Monographien. Ein knapp zehn Seiten umfassender Auszug über den Kuhbaum und die Pflanzenmilch aus der Prachtausgabe der Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent wurde zwischen 1818 und 1857 fünfundsiebzig Mal verwertet, mal ungekürzt, mal gekürzt. Der Text über den Orinoco-Amazonas-Komplex dagegen erschien 1845, also spät, noch in italienischer Übersetzung, die publizistische Auswertung war bei insgesamt einer Originalpublikation und zwei Übersetzungen vergleichsweise bescheiden. Und „Ueber die Gesetze, welche man in der Vertheilung der Pflanzenformen beobachtet“, so der Titel der Übersetzung des 1816 in den Annales de chimie et de physique erschienenen Essays, wurde bis 1830 acht mal verwertet.
Mit gutem Grund wird in Band 8 der Berner Ausgabe hervorgehoben, dass Humboldts Bücher für die Rezeption zu seinen Lebzeiten eine eher untergeordnete Rolle spielten, während die in den sieben Textbänden zusammengestellten Beiträge materiell die Bedingungen dafür erfüllten, dass seine Erkenntnisse, Beobachtungen, Berichte und theoretische Neuerungen europa-, wenn nicht weltweit bekannt wurden. Und immerhin haben rund zwei Drittel der in der Berner Ausgabe enthaltenen Beiträge keinerlei Entsprechung in den in Buchform veröffentlichten Schriften. Sie stellen, wie es heißt, „eigenständige Texte dar, deren Inhalte Humboldt nicht anderweitig veröffentlicht hat.“
Die Berner Ausgabe ermuntert zum Aufbruch in einen schier grenzenlosen Gelehrtenkosmos − und so auch zu einer Expedition in das Gebiet der Zahlzeichen, in der sich Humboldt in einer Passage über das bretonische Zahlzeichensystem als weltoffener Komparatist erwies. Die für die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin für die Sitzung vom 2. März 1829 vorbereitete Schrift „Über die bei verschiedenen Völkern üblichen Systeme von Zahlzeichen und über den Ursprung des Stellenwerthes in den indischen Zahlen“ ging von der Annahme einer Wirkung von Schrift auf Sprache aus (und umgekehrt: von Sprache auf Schrift). Zur Prüfung dieser Annahme zog Humboldt Vergleiche zwischen den Zahlsystemen des Griechischen, Lateinischen, Deutschen, Persischen, Aztekischen, der Chibcha-Sprache der Muyscas, der Sprache der Guaranis usw., konstatierte zwar mühelos und ohne Überraschung Differenzen, die er jedoch als Ausdruck „der inneren Intelligenz, […] der gemeinsamen Organisation der Menschheit“ auffasste. Die Schrift erwähnte zudem auf unscheinbare Weise eine leicht zu übersehende, undatierte Reise in die westliche Bretagne, wo ihm das keltische Zahlensystem aufgefallen sei: dort „heißen ugent zwanzig, daou-ugent zwei-zwanzig oder 40; tri-ugent drei-zwanzig oder 60; ja deh ha nao ugent 190 oder zehn über neun Zwanziger“. Humboldt erläuterte, dass „Gruppen von Einheiten […] Ruhepuncte beim Zählen“ gewähren würden; im Bretonischen seien also Hände und Füße konstitutiv für die Setzung eines ersten Ruhepunkts. Als Einheit würde das Ensemble der, wie man sagen könnte, Finger- und Zehenelemente die Grundlage für die Wiederholbarkeit der Ruhepunkte in der Abfolge der Zahlen bilden. Von einer Bewertung der Zahlensysteme hielt er angesichts der inneren Intelligenz der Menschheit aber nichts, weshalb er sich einer spitzen Bemerkung nicht enthalten mochte (man merkt ohne weiteres, gegen wen sie sich richtete): „Reisende, welche beim Zählen Steinchen und Samenkörner in Haufen von 5 oder 20 zusammenlegen sahen, behaupten, daß viele Nationen nicht über 5 oder 20 zählen. Eben so könnte man behaupten, daß die Europäer nicht über 10 zählen, da siebenzehn aus 10 und 7 Einheiten zusammengesetzt ist.“
Die Berner Ausgabe ist wahrhaftig das Textkorpus, das es zukünftig schwer machen wird, Alexander von Humboldts Werk allein aus den umfangreichen Monographien (Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, Ansichten der Natur, Kosmos) heraus erschließen zu wollen. So bleibt noch einiges in der Rezeption seines Gesamtwerkes zu tun. Wobei es dann sicherlich weniger um seine Person gehen sollte als um den Gehalt seiner Weltweisheit, und dies in Übereinstimmung mit dem letzten in der Berner Ausgabe abgedruckten Text, den der Autor auf den 15. März 1859 datierte: „Leidend unter dem Drucke einer immer noch zunehmenden Correspondenz, fast im Jahresmittel zwischen 1600 und 2000 Nummern […] versuche ich einmal wieder, die Personen, welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken, dass man sich weniger mit meiner Person […] beschäftige […], damit bei ohnedies abnehmenden physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Musse zu eigener Arbeit verbleibe. Möge dieser Ruf um Hülfe, zu dem ich mich ungern und spät entschlossen habe, nicht lieblos gemissdeutet werden!“
Die von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich herausgegebene Berner Ausgabe/Sämtliche Schriften bildet den vorerst umfangreichsten Humboldt’schen Textcorpus, der jedermann umständliches Suchen in verstaubten Zeitschriften und abgelegenen Sammelbänden erspart. Als Bandherausgeberinnen und -herausgeber haben am Gelingen dieser Edition mitgewirkt: Sarah Bärtschi, Rex Clark, Joachim Eibach, Bernhard Metz, Jutta Müller-Tamm, Thomas Nehrlich, Michael Strobl, Jobst Welge, Norbert D. Wernicke und Yvonne Wübben.
Die so genannten Durchquerungen in Band X lesen sich zumeist als nützliche Ergänzungen zu Texten einzelner Themenblöcke. Man kann sich allerdings über einzelne Wertungen der Humboldtschen Forschung wundern. So ist beispielsweise in der Druchquerung Erfindungen und Instrumente von Rex Clark die Rede vom Cyanometer, den Humboldt in die Neue Welt mitgenommen hat. Behauptet wird, dass die Verwendung des Cyanometers nichts anderes zeitigte als „spekulativ gesammelte […] Messdaten“. Unklar bleibt auch bei wiederholter Lektüre dieser und semantisch verwandter Stellen der besagten Durchquerung, was das Adjektiv „spekulativ“ genau meint: spekulativ im Sinne von „in die Irre führend“ oder eher im Sinne von „weit hergeholt, aber ohne zureichend viele Vorerfahrungen“ oder was? Wenn Humboldt nicht an die vermutete Nützlichkeit dieses kleinen Instruments zur Messung der Himmelbläue mit Hilfe einer kreisförmig gestalteten Blautonskala geglaubt hätte, wäre er vermutlich nicht an dessen Erfinder, Horace-Bénédict de Saussure in Genf, herangetreten, um von dessen Erfahrungen mit dem Instrument zu hören. Und er hätte das Ding wohl auch nicht in die Neue Welt verfrachtet und dort, in Verbindung mit einem modifizierten Cyanometer, zum Einsatz gebracht. Dass Lord Byron in einem Gedicht über das Instrument spöttelte, mag eher für die Bekanntheit des Cyanometers und Humboldts Bekanntheit als eines berühmten Gelehrten zeugen als für die naturhistorischen Kenntnisse des englischen Dichters.
Auf dem Portal der Berner Ausgabe sollen sämtliche Texte des Corpus nach und nach durch Einführungskommentare ergänzt werden: http://www.humboldt.unibe.ch/kommentierung.html
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