Was der Dummheit folgt

Nach einem realen Fall: Über Thomas Langs „Freinacht“, eine Mischung aus Adoleszenz- und Gesellschaftsroman

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Freinacht, das heißt in Süddeutschland seit jeher, die Hexen sind los. In der Realität sind es dann aber doch eher Jugendliche, die in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai jede Menge Unsinn anstellen. In Thomas Langs Roman Freinacht feiert Elle – eigentlich Ellen – just in dieser Nacht ihren 16. Geburtstag. Für sie steht fest: Eine brave Mädchenfeier mit koreanischem Hip-Hop und von der Mutter servierter Pizza kommt nicht in Frage; das überlässt sie lieber ihren Mitschülerinnen am Wedekind-Gymnasium. Elles Party steigt in einem verfallenen Schuppen auf dem alten Bahngelände von Vierweg, einem fiktiven Nest in der Provinz.

Dummerweise schreckt aber schon das „Betreten verboten“-Schild die meisten aus ihrer Klasse ab. Und ebenso Elles Entscheidung, auch den neuen Mitschüler Dennis einzuladen, Spitzname „Hell“. Ein Schlägertyp. Am Schluss sind sie nur zu viert, neben Dennis der erst 13-jährige Vale, und Elles bester Freund Junis, der noch nicht weiß, dass er eigentlich auf Jungs steht. Die Mischung erweist sich als brisant, erst recht nach dem Genuss des im Supermarkt geklauten Wodkas. Denn zufällig stolpert Dennis auf dem Gelände über eine Leiche. Ein Selbstmörder namens Frank, wie sich zeigen wird; ohne Angehörige, die ihn hätten vermissen können. Was die vier Schüler in dieser Nacht mit dem Toten anstellen, wird später, nach Bekanntwerden der Tat, in den Medien für Entsetzen sorgen. Zumal einer das Ganze auch noch mit dem Handy filmt und voller Stolz ins Internet stellt.

Es ist ein realer Fall, von dem sich der Münchner Schriftsteller Thomas Lang in Freinacht inspirieren lässt. 2006 schockierte eine Leichenschändung durch Jugendliche in Oberbayern die Öffentlichkeit. Der Ingeborg-Bachmann-Preisträger von 2005 siedelt seine Geschichte im Heute an und erzählt seinen Roman in vier Teilen. Auf die Vorgeschichte folgen die Ereignisse auf Elles Party und schließlich die Auswirkungen der Tat auf die Beteiligten. Den Schluss bildet eine Art Epilog zehn Jahre später.

Naheliegend wäre es, im Medium Roman die Frage nach dem ‚Warum‘ ins Zentrum zu stellen. Bei Thomas Lang spielt sie jedoch eher eine Nebenrolle. Für den 52-jährigen Autor ist es gerade nicht unvorstellbar, dass pubertäre Orientierungslosigkeit und Frustration, Alkohol und eine entsprechende Gruppendynamik zu einer solchen Tat führen, selbst bei Jugendlichen aus eher normalen Verhältnissen. Im Roman weisen die Experten noch auf die üblichen Verdächtigen hin, wenn es um die angebliche Verrohung der Jugend geht, Zombieserien und brutale Videospiele.

Was Thomas Lang viel mehr interessiert, ist die Frage, wie es danach mit den Beteiligten weitergeht. Was eine solche Tat aus und mit ihnen macht. Und inwiefern das eigene Leben von nun an im Zeichen einer solchen Dummheit stehen wird. Elle, die Hauptfigur, wird schon am nächsten Tag von Schuld und Scham regelrecht überschwemmt. Für sie wird das Erlebnis zu einem höchst schmerzhaften Akt der Reifewerdung. Dagegen entdeckt ihr bester Freund Junis überraschend Gangsterqualitäten in sich. Kaltblütig beseitigt er anderntags am Tatort ihre Spuren, so gelassen, „als habe er bloß sein Zimmer aufgeräumt“, wie es heißt. Und Dennis bzw. Hell? Der sieht sich als neuen Social-Media-Star, mit dem kleinen Vale als ersten Bewunderer.

Eine leichte oder gar angenehme Lektüre bietet Freinacht wahrlich nicht. Aber eine ungemein spannende und eindringliche. Das liegt auch an den Perspektivwechseln zwischen den Figuren und der hastigen, atemlosen Sprache des Romans. Ein Problem sind allerdings etliche lose Elemente und blinde Motive – möglicherweise eine Folge der ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte dieses Buches. Schließlich stand am Anfang dieser faszinierenden Kreuzung aus Adoleszenz- und Gesellschaftsroman zunächst ein kollaboratives Internetprojekt, zu dem alle User Ideen liefern konnten.

Wozu zum Beispiel der Hinweis auf die NS-Vergangenheit des Ortes, der auf „Menschenknochen“ errichtet sei, wie Elles dementer Opa erklärt? Schließlich könnte sich diese Geschichte überall zutragen. Anders dagegen die Nachrichten von gekenterten Flüchtlingsbooten im Mittelmeer, die Dennis im Radio hört: Denn was die vier Jugendlichen mit Franks Leiche anstellen, dürfte weniger ein Beweis ihrer emotionalen Abgestumpftheit sein. Sondern eher der jener Gesellschaft, die sich nicht nur über den Umgang mit Flüchtlingen streitet. Sondern in der sich auch ein Mensch aus Einsamkeit einfach so sterben legen kann, ohne dass er je vermisst wird.

Titelbild

Thomas Lang: Freinacht. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2019.
329 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014009

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