Das Rätselhafte im Unendlichen

Bernard Bolzanos „Paradoxien des Unendlichen“ erhellt die Wissenschaftsgeschichte der Mathematik

Von Diogo Campos SasdelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Diogo Campos Sasdelli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Begriff des Unendlichen und die vielen aus ihm entstehenden definitorischen Schwierigkeiten, Paradoxien und Widersprüche haben seit jeher Philosophen und Mathematiker intensiv beschäftigt. Einen der wichtigsten und interessantesten Beiträge aus dem 19. Jahrhundert zu diesem Thema stellt dabei Bernard Bolzanos Paradoxien des Unendlichen dar: Das Werk besitzt einen unleugbar hohen wissenschaftshistorischen Wert. Nicht nur deswegen ist seine Lektüre empfehlenswert.

Das erste Drittel der Paradoxien des Unendlichen widmet sich dem Aufbau von Bolzanos eigener Theorie über das Unendliche. Dabei vertritt er die These, das Unendliche sei stets quantitativ zu erfassen, d.h. als eine Vielheit bzw. Größe, die, weil eben unendlich, größer sei als eine jede endliche. Somit ist die Mathematik als Größenlehre die angemessenste Wissenschaft zur Behandlung des Unendlichen. Einer der wichtigsten Beiträge seiner Theorie ist die Entdeckung, dass nur unendliche Mengen die Eigenschaft der bijektiven Zuordenbarkeit in eine echte Teilmenge haben, d.h. dass es möglich ist, einem jeden Element von einer Menge jeweils ein Element aus einer deren echten Teilmengen (in einer eins-zu-eins Relation) zuzuordnen.

Im zweiten Drittel (ab §28) werden Paradoxien erörtert, die hauptsächlich zur Mathematik gehören. So brillant viele seiner Anmerkungen sind, wird im Laufe der Lektüre deutlich, dass Bolzano noch etwa die vor allem durch das Werk Georg Cantors (geboren 1845, ca. drei Jahre vor Bolzanos Tod bzw. sechs Jahre vor der posthumen Ersterscheinung der Paradoxien des Unendlichen) geprägte Unterscheidung zwischen Ordnungs- und Kardinalzahlen bzw. die Theorie der Transfiniten Zahlen fehlte, um die Paradoxien des Unendlichen vollständig und folgerichtig auflösen zu können. Bolzanos Auffassung zufolge ließen sich die mit dem Begriff des Unendlichen verbundenen Paradoxien, sofern man eine klare Definition von Unendlichkeit voraussetzt, allesamt als bloße Scheinwidersprüche auflösen. Diesen Schein des Widerspruchs explizit zu machen, ist die Hauptabsicht der Paradoxien des Unendlichen. Ein Beispiel für ein solches Paradoxon ist die unendliche Summe:

(1) x – x + x – x + x – x + …

Denn je nachdem, wie man die Summanden paarweise assoziiert, scheint die Summe verschiedene Werte zu ergeben:

Vereinigt man jeden Summanden mit seinem unmittelbaren Nachfolger, so geht (1) über in:

(2) (x – x) + (x – x) + (x – x) + …

Woraus sich eine Summe von Teilsummen ergibt, die allesamt gleich null sind.

Assoziiert man stattdessen den ersten Summanden mit dem ganzen Rest der Teilsumme, so dass die Summanden der Teilsumme wie oben vereinigt werden, erhält man aus (1):

(3) x + [(- x + x) + (- x + x) + …]

Und durch paarweise Versetzung der Summanden von (1) und ähnliche Transformationen wie oben kann man auch das Folgende erhalten:

(4) – x + [(x – x) + (x – x) + …]

Dabei hätte man zwischen den eckigen Klammern jeweils eine Summe von Teilsummen, die gleich null sind.

Es sei ferner die Summe (1) gleich y, d.h.:

(5′‘) y = x – x + x – x + x – x + …

Dabei lässt sich (5′‘) freilich wie folgt umformulieren:

(5′) y = x – (x – x + x – x + x + …)

Allein ist die Teilsumme zwischen den Klammern wieder gleich der Summe (1), d.h. gleich y, so dass:

(5) y = x – y

Wobei y, d.h. die Summe (1) gleich x / 2 wäre.

Somit scheint die Summe (1) je nach Art der Vereinigung der Summanden mal den Wert x, mal den Wert – x, mal den Wert 0 und sogar den Wert x / 2 haben zu können, was dem Assoziativgesetz der Addition widerspricht. Eben aus diesem Grund argumentiert Bolzano in den Paradoxien des Unendlichen (§32), dass die Summe (1) zwar ein Größenausdruck ist, welcher allerdings wie die Null keine wirkliche Größe bezeichnet. Eine unendliche Reihe darf Bolzano zufolge erst dann als Summe und somit als wirkliche Größe betrachtet werden, wenn etwa das Assoziativgesetz der Addition gilt, weil sie zur Definition dessen gehört, was eine Summe zweier oder mehrerer Größen ist. Also hat die Summe (1) gar keinen Wert, weil sie keine wirkliche Größe bezeichnet und somit gegenstandslos ist. Heutzutage würde man sagen, dass die Reihe (x, -x, x, -x, …) divergiert, indem die Folge der Partialsummen der unendlichen Reihe (x, -x, x, -x, …) keinen Grenzwert hat. Unendliche Reihen haben nur dann eine Summe, wenn sie konvergieren. 

Im letzten Drittel (ab §50) werden Paradoxien behandelt, die in den Gebieten der Physik und der Metaphysik auftauchen. Hier werden die unterschiedlichsten Fragen behandelt, wie beispielsweise das Leib-Seele-Problem, die Möglichkeit der Fernwirkung einer Substanz auf eine andere oder die Möglichkeit eines absoluten Vakuums und die Beschaffenheit des Äthers. Besonders interessant dabei ist Bolzanos Verteidigung des Atomismus, einer Theorie, die zu jener Zeit – anders als heutzutage – weniger Resonanz unter den Gelehrten fand. Bemerkenswerterweise wird das wohl berühmteste unter den Paradoxien, das Zenon von Elea zugeschriebene Paradoxon von Achilles und der Schildkröte, nicht in den Paradoxien des Unendlichen behandelt. Dieses Paradoxon war Bolzano jedoch durchaus bekannt: Es wird von ihm in seiner Wissenschaftslehre aufgelöst.

Zwar ist Bolzanos Theorie über das Unendliche mathematisch überholt, was vor allem auf die bemerkenswerte Entwicklung der Grundlagenforschung in der Mathematik im 20. Jahrhundert­­ zurückzuführen ist – wohlgemerkt eine Entwicklung, die durch die Beiträge ihrer Vorreiter, u.a. Bolzano, überhaupt erst möglich wurde. Trotzdem bleiben manche Ansätze Bolzanos zur Auflösung einiger Paradoxien auch aus heutiger Sicht tadellos. Und selbst die Auseinandersetzung mit den Argumenten der Paradoxien des Unendlichen, die nach aktuellem Stand als unschlüssig zu bewerten wären, erscheint sinnvoll, da die sehr erhellenden, in manchen Stellen fast didaktischen Anmerkungen des Herausgebers gute Einblicke in die heutige Entwicklungslage der Mengenlehre und der Theorie der Transfiniten Zahlen verschaffen. Von der Lektüre können somit vor allem Studenten der Mathematik und der Philosophie profitieren, die sich in das Thema vertiefen wollen und an der geschichtlichen Entwicklung der Grundlagenforschung in der Mathematik interessiert sind.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Bernard Bolzano: Paradoxien des Unendlichen.
Hg. von Christian Tapp.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018.
228 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783787335701

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