Innovative Zugänge zu den Texten Thomas Manns

Der Sammelband „Mann_lichkeiten“ von Julian Reidy und Ariane Totzke setzt in der Thomas-Mann-Forschung neue Akzente

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Manns Gesamtwerk bietet nach wie vor in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft einen fruchtbaren Boden zum Diskutieren. Das zeigen alleine die achtzehn Beiträge, die sich in dem Sammelband mit dem verspielten Titel Mann_lichkeiten, der aus der gleichnamigen Tagung in Zürich hervorgegangen ist, den Diversitätskategorien in Manns Oeuvre widmen. Dabei werden nicht – wie der Titel vielleicht missverständlich suggerieren mag – ausschließlich maskulinitätstheoretische Lesarten angewandt. In methodischer Hinsicht bietet der Band an der Schnittstelle von Diskursanalyse, Kulturwissenschaft und Wissensgeschichte fruchtbare Interpretationsansätze, die über rein gendertheoretische Fragestellungen hinausgehen.

Untersuchungen über die Romane und Erzählungen des Nobelpreisträgers sind trotz der Fülle an bereits vorhandener Forschungsliteratur kein alter Hut. Die einleitenden Worte von Julian Reidy und Ariane Totzke dürften jeden Zweifel aus dem Weg räumen, dass mit der Forschung um Thomas Mann eine verstaubte Kiste mit längst ,ausinterpretierten‘ Texten ausgegraben werde. Sie führen gleich zu Beginn aus, dass sich die ältere germanistisch-literaturwissenschaftliche Forschung bei der Untersuchung der Texte Manns stets an schriftlichen Beigaben wie Briefen, Selbstkommentaren oder Tagebucheinträgen des Autors orientiert habe. Treffend bringt es Bernd Hamacher, dem der Band in der Einleitung gewidmet wird, auf den Punkt: „Die aufgrund der starken autobiographischen Suggestion lange Zeit vorherrschende weitgehende Identifizierung von Autor und Erzähler verhinderte eine genaue Analyse der durchaus unterschiedlichen und überaus vielfältigen Erzählstrategien und -perspektiven der Texte.“ Einer derartigen rezeptionsgesteuerten Lenkung textexterner Merkmale erteilt nun die jüngere Thomas-Mann-Forschung eine Absage und untersucht die Texte mit einer innovativen kulturwissenschaftlichen Brille. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Fragestellungen, die mit Hilfe interdisziplinärer Wissenschaftsrichtungen wie zum Beispiel Gender Studies oder Disability Studies neue Pfade in der Forschungslandschaft beschreiten. 

Die Diversitätskategorien gender und class zieht Yahya Elsaghe in seinem Aufsatz A Map of Misreading. Rasse und Klasse in der Thomas-Mann-Rezeption heran, um Fehllektüren der bisherigen Forschung aufzuzeigen. Elsaghe bringt die antisemitischen Implikationen in Die Buddenbrooks (1901) zurück ins Gedächtnis der Forschung, die diese jüngst noch unter den Teppich gekehrt hat: Weder einschlägige Publikationen zum Roman noch der Kommentar der Großen kommentierten Gesamtausgabe oder das neueste Metzler-Handbuch von 2015 verweisen auf diese doch offensichtliche Narrationsebene, man denke beispielsweise an die Ressentiments der Buddenbrooks gegen die jüdische Familie Hagenström. Eine ähnliche Beobachtung macht der Autor auch bei den Verfilmungen: „Alle antisemitischen Spitzen fehlen; gleichgültig, ob sie auf das Konto des Erzählers oder auch nur der direkten Figurenreden gehen.“ 

Eine vergleichbare Beobachtung macht auch Stefani Kugler in ihrem Aufsatz ,Dominus providebit‘. Repräsentationen von Familie in Thomas Manns Buddenbrooks. Durch ihre Beschäftigung mit den Familienentwürfen und dem Zusammenhang von Gender und Religion sieht sie zwar eine repräsentationskritische Deutungsweise in der Darstellung der Buddenbrooks eingeschrieben, die die „vermeintliche Naturgegebenheit“ von Familie unterlaufe. Doch mit Blick auf die Darstellung der Familie Hagenström und die damit einhergehenden antisemitischen Stereotypen käme diese Repräsentationskritik an ihre Grenzen: „Und der Roman unternimmt keinen Versuch, diese diffamierenden Zuschreibungen ebenfalls als Kontingente kultureller Repräsentationsmuster zu entlarven.“ 

Mit den Buddenbrooks setzen sich auch Miriam Albracht und Philipp Ritzen in ihrem kompakten wie erhellenden Beitrag ,[…] ein Erbe! Ein Stammhalter! Ein Buddenbrook!‘ Von der Problematik geschlechtsspezifischer Zuschreibungen. Hanno Buddenbrook gendertheoretisch gelesen auseinander. Exemplarisch werden u.a. Szenen zwischen Hanno und seinem autoritären Vater herangezogen, um die patriarchale Struktur im Hause Buddenbrook zu veranschaulichen, unter der der letzte Nachkomme der Dynastie leidet. Insofern lastet enormer Druck auf dem Spross, da er als Firmenerbe vorgesehen ist. Der Beitrag verdeutlicht aus gender- resp. maskulinitätstheoretischer Sicht, dass Hanno der geschlechtercodierten Erwartungshaltung als Stammhalter nicht gerecht werden kann und dass „die textuellen Kodierungen Hannos kaum weniger eindeutig weiblich sein könnten“, womit der auf ihm lastende Anspruch der Kaufmannsfamilie diametral unterlaufen wird. Exemplarisch für den subversiven Charakter ist beispielsweise die besondere Freundschaft, die Hanno zu Kai Graf Mölln pflegt: „So ungewöhnlich wie ihre beiden Protagonisten stellt sich die Freundschaft selbst dar, die in vielerlei Hinsicht Eigenschaften aufweist, die an eine ,traditionelle‘ Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau erinnern.“

Dem Vorwurf der Misogynie in einigen Texten Thomas Manns geht Ariane Totzke in ihrem ausgesprochen erfrischenden Beitrag Weibliche Unproduktivität erzählen. Georg Simmels Geschlechtersoziologie und Thomas Manns Misogynie am Beispiel von Tristan und Der Zauberberg nach. Bevor sie auf Tristan (1903) und den Zauberberg (1924) eingeht, führt sie einige offen frauenfeindliche Zeitgenossen Manns wie etwa Georg Simmel, Thorstein Veblen oder Otto Weininger ins Feld, die sich auf einen Nenner bringen lassen: Frauen hätten unproduktiv zu sein und in der Welt der Arbeit und Kultur nichts verloren. In Tristan und im Zauberberg wird diese misogyne Ökonomie gespiegelt und frauenverachtende Vorstellungen jener Zeit werden übernommen. Die wenigen Frauenfiguren, die in Manns Texten nicht auf die Mutterrolle reduziert werden und an der Arbeitswelt teilhaben oder als Kulturschaffende unterwegs sind, sind in den Augen des paternalistischen Erzählers „per se unerotisch“. Totzke entlarvt aber nicht nur in den genannten Werken eine solche Gleichung, sondern auch in Manns Novelle Die Betrogene (1953), in der Anna von Tümmler, eine begabte Künstlerin, zwar mit hoher Intelligenz, aber mit Klumpfuß und hinkendem Gang ausgestattet wird. Im Zauberberg verdichtet sich die Geschlechterasymmetrie sogar noch. Totzke setzt zahlreiche Beispiele von Beschreibungen von weiblichen Figuren den männlichen entgegen: „Die männlichen Figuren werden kleinlich auspsychologisiert und fungieren als Sympathieträger, die weiblichen bleiben schablonenhafte Projektionsflächen oder werden als Gruselkabinett-Absurditäten vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben.“ 

Mit Erzählungen wie Die vertauschten Köpfe (1940), die zu Manns Spätwerk gehören und den Rezipienten nicht so vertraut sind wie etwa Die Buddenbrooks oder Der Zauberberg, setzt sich beispielsweise Franziska Stürmer auseinander. In ihrem Beitrag Schaubilder. Identität, Alterität und eine ,Poetik des Blicks‘ in Thomas Manns Die vertauschten Köpfe untersucht die Autorin Blickführungen der Protagonisten und die Semantik des Sehens. Auf der von ihr umrissenen theoretischen Grundlage des Visualitätsbegriffs öffnet sie im buchstäblichen Sinne die Augen für Blicke: Jedes Sehen ist Handeln, demnach ein aktiver Part und insofern bedeutungsgenerierend. Doch sind Gestaltung und Funktion des Sehens in der Erzählung unzuverlässig angelegt. Ein Beispiel dafür ist die Figur Sita: Sie neige zur Blickverweigerung und zum illusionären Sehen, demnach zur optischen Täuschung. „Obzwar semantisches Sehen immer von Selektionen und Ergänzungen geprägt ist, wird diese Eigenheit im Text […] problematisiert, nicht nur, indem sie durch die stereotype Reduzierung auf bestimmte körperliche Merkmale oder gewolltes Nicht- bzw. Falsch-Sehen übertrieben wird, sondern auch indem sich die Figuren selbst damit auseinandersetzen […].“ Blicke des Anderen sind insofern immer identitätszuschreibend. Sita etwa „ist, ungeachtet ihrer Rolle beim Baden, nicht nur das passive Opfer begehrlicher Blicke. Auch sie sieht im Text, und ihre Blickgestaltung geht unmittelbar einher mit ihrer sexuellen Erweichung und ,Augenöffnung‘ durch Schridaman […].“ Aufbauend auf dieser dezidierten Analyse des Sehens, Nicht-Sehens und Gesehen-Werdens wäre es gerade am Ende des Aufsatzes wünschenswert gewesen, den gendertheoretischen Fokus ein Stück weit zu schärfen, um darzustellen, inwiefern Blicke Machtverhältnisse der Geschlechter widerspiegeln.

Reidy und Totzke haben in der Einleitung nicht zu viel versprochen: Der facettenreiche Sammelband löst ein, was eingangs vollmundig angekündigt wird. Die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Ansätze nehmen sich Thomas Manns Oeuvre an, ohne bei der Interpretation resp. Re-Lektüre der Texte in eine autorintentionalistische Lesart zu verfallen. Doch der Sammelband trägt nicht nur zu vielen neuen Erkenntnissen bei, die mit Hilfe der methodisch angewandten Diversitätskategorien meist sehr nahe an den jeweiligen Texten veranschaulicht und plausibilisiert werden – er eröffnet darüber hinaus einen fruchtbaren, germanistisch-literaturwissenschaftlichen Diskurs. Die jüngere Thomas-Mann-Forschung ist auf einem guten Weg, Manns Texte neu zu entdecken. Die Beiträge stehen exemplarisch für diesen Innovationsanspruch, der dazu einlädt, weiterzudenken und zu diskutieren. Oder etwas theatralischer mit Hamacher gesprochen: „Das gilt vielleicht auch in der Perspektive der internationalen Forschung. Wie auch immer – das Spiel geht weiter: Vorhang auf!“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Kein Bild

Julian Reidy / Ariane Totzke (Hg.): Mann_lichkeiten. Kulturelle Repräsentationen und Wissensformen in Texten Thomas Manns.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
357 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826065989

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch