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Peter Dinzelbacher beschwört mit seiner Arbeit Tote, Dämonen, aber auch Heilige herauf

Von Ruth IsserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Isser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Visionen und Magie sind in der Kultur des Mittelalters präsenter als in allen vorangehenden oder folgenden Epochen. Vor allem im religiösen Leben spielen Visionen eine dominante Rolle. Assoziiert wird dieser Bereich besonders mit Namen aus dem Feld der Frauenmystik wie Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg oder Birgitta von Schweden. Magie und Visionen traten allerdings auch in ganz anderen Lebensbereichen und in den verschiedensten Formen auf.

Peter Dinzelbacher fasst die unterschiedlichen Ausprägungen und Formen von Visionen in seinem Werk in zwei Typen zusammen. Zum einen nennt er Jenseitsgeschichten, die heutigen Nahtoderfahrungen ähneln. Diese tauchen besonders häufig im Früh- und Hochmittelalter auf und wurden ausschließlich durch Männer erlebt. Zum anderen führt er die mit dem 12. Jahrhundert einsetzenden Mystikerfahrungen an, die vor allem Personen der anderen Welt ins Zentrum rücken. Dieser Typ II ist vorwiegend durch Frauen überliefert. „Vision“ definiert er dabei als „das Erleben von sensuellen Eindrücken, denen ein erkennbar materieller Auslöser fehlt, als die Vernetzung in objektiv nicht vorhandene Räume und als die Konfrontation mit phantasierten Gestalten“.

Seine Reise durch die Untiefen menschlich-psychologischer Vorgänge des Mittelalters beginnt Dinzelbacher mit einem umfangreichen Überblickskapitel zu Visionen und Erscheinungen und deren Verbindung zur Magie. Bei Erscheinungen handele es sich um eine Projektionsfläche kultureller (verbotener) Wünsche. Damit sei es auch nicht weiter verwunderlich, dass immer wieder Fantasien sexueller Praktiken oder Schadens- und Todeszauber auftauchen. Bei einigen Ausformungen solcher psychischen Phänomene sei aber noch nicht geklärt, ob die Sehenden ihre Erlebnisse und Visionen tatsächlich in der Vorstellung durchlebten, beispielsweise durch die Verwendung halluzinogener Mittel, oder ob es sich dabei um ein stereotypes, von Hexenjäger*innen konstruiertes Bild handelt, das der Realität übergestülpt wurde, indem etwa die Sehenden durch Folter zu Geständnissen gezwungen wurden. In diesem Zusammenhang behandelt Dinzelbacher vor allem das meist imaginierte Erleben von Sabbatfesten, das Durch-die-Lüfte-Fliegen auf Gegenständen wie Stäben und Besen und die Verwandlung in Tiere. Des Weiteren geht er der Frage nach, welchen Ursprung die Vorstellungen von Hexen und Hexern sowie spezielle rituelle Zusammenkünfte wie der Sabbat haben könnten. In diesem Zusammenhang werden unter anderem vorchristliche Mythen genannt.

Einen zweiten großen Bereich widmet Dinzelbacher der Psychologie der Visionär*innen. Hier wendet er psychische Erkenntnisse der Gegenwart auf mittelalterliche Phänomene an. Dabei geht er auf Visionen in Form von Halluzinationen und Krankheitssymptomen ein, und er stellt die interessanten Fragen, ob die Psyche der Menschen vergangener Epochen der Psyche rezenter Menschen entspricht und wie/ob der psychologische Begriff „Halluzination“ auf mittelalterliche Berichte angewendet werden kann. Argumentativ nachvollziehbar lehnt Dinzelbacher diesen Begriff für die Beschreibung mittelalterlicher Schauungen ab, da er zu sehr mit Psychopathologie assoziiert werde und durchaus davon auszugehen sei, dass es Visionen gibt, die als nicht-pathologisch gelten können. Folgend liefert er einige Beispiele solcher visionären Erfahrungen.

Vor diesem Hintergrund leitet er über zu einem eigenen, sehr umfangreichen, Quellentyp: dem Motiv der Jenseitsbrücke und Himmelsleiter in Text und Bild. Begleitet wird die bis in die Neuzeit reichende Auseinandersetzung mit dem schwierigen Übergang von der irdischen Welt zur jenseitigen von wunderschönen Farbabbildungen sowie einer umfangreichen Bibliografie. Damit wird nachvollziehbar die Schlussfolgerung dargestellt, dass alle religiösen Schauungen die Mythen ihres Glaubens gemäß dem kulturellen Wissen ihrer Zeit inhaltlich reflektieren.

Anschließend setzt sich Dinzelbacher intensiv mit dem Erzengel Michael auseinander. Neben Erscheinungen und Visionen behandelt er auch dessen Verehrung. So geht er beispielsweise auch darauf ein, dass in der Bekehrungszeit der Michaelskult des Öfteren den einer heidnischen Gottheit ersetzt hat. Dinzelbacher hebt des Weiteren hervor, dass sich Michael durch seine Tätigkeit als Seelengeleiter von vielen anderen Heiligen abhebt. Einen weiteren Schwerpunkt legt er auf die Legende vom Höllensturz und den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse.

Zudem wird das sehr spannende Feld der Bedeutung visionärer Phänomene für die Gesellschaft thematisiert. Dafür zieht Dinzelbacher Urteile über Visionen und Visionär*innen der Zeitgenoss*innen heran. Besonders ab dem Spätmittelalter sei dabei ein steigendes Misstrauen gegenüber dem Visionswesen auszumachen. Besonders Mystiker*innen hätten sich dem stetigen Vorurteil weiblicher Leichtgläubigkeit gegenübergesehen. In der Neuzeit komme dann die zunehmende „Entzauberung“ der Welt hinzu, die einen direkten Kontakt zur Transzendenz immer unglaubwürdiger erscheinen ließ. Damit habe sich dieses psychische Phänomen immer weiter in den Fachbereich der Medizin beziehungsweise der Psychiatrie verlagert.

In den letzten beiden Abschnitten wird ein abschließender Überblick über erwähnte, aber nicht (mehr) vorhandene Visionstexte gegeben. Hierfür werden in chronologischer Reihenfolge, vom Frühmittelalter bis ins Spätmittelalter, verschiedene Beispiele vorgeführt. Zusätzlich werden noch unedierte Texte und Druckversionen benannt, die einer Neuedition bedürften. Zuletzt wird ein Ausblick auf Vision und Visionsliteratur in der Neuzeit gegeben. Hier zeigt der Autor, indem er durch Nennung einiger weniger Namen Strömungen und Persönlichkeiten skizziert, prägnant auf, was noch zu diskutieren übrig bleibt.

Peter Dinzelbachers Vision und Magie. Religiöses Erleben im Mittelalter sei grundsätzlich all jenen ans Herz gelegt, die sich für Mentalitätsgeschichte interessieren. Auch ohne Vorkenntnisse ist der Band sehr verständlich und spannend zu lesen. Dinzelbacher gelingt es, ein umfangreiches, aber präzisiertes Werk vorzulegen, das durchaus auch zum Nachschlagen dient. Die eingestreuten beispielhaften Visionserzählungen lockern den Text auf und gestalten den Lesevorgang lebendig. Zusätzlich illustrieren farbige wie schwarz-weiße Abbildungen die Untersuchungen und laden dazu ein, das Gelesene auch visuell zu reflektieren. Zusammenfassend lässt sich so sagen, dass Dinzelbacher mit diesem neuen Band eine gelungene Ergänzung zu seinem 2017 in zweiter Auflage erschienen Werk Vision und Visionsliteratur im Mittelalter liefert.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Peter Dinzelbacher: Vision und Magie. Religiöses Erleben im Mittelalter.
Schöningh Verlag, Paderborn 2019.
221 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783506787323

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