Von den Rändern her?

Mit gleich drei neuen Übersetzungen nimmt der Theorieimport des französischen Philosophen Jacques Rancière ungebremst seinen Lauf

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 2015 Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie erschien, löste diese kleine denkerische Gegenkulturgeschichte der BRD für geraume Zeit so etwas wie den zweiten Frühling jener Textgattung aus, von der im Titel die Rede ist. An den Universitäten regten von der Erinnerung an ihre einstigen Lesekreise beseelte Professoren die Studenten an, sich doch auch einmal wieder mit einem Bier am langen Arm in Seenähe gemeinsam über ein Merve-Bändchen zu beugen. Die Sehnsucht nach einem fruchtbareren akademischen Miteinander konnte indes die Kehrseite der Nostalgie nicht verleugnen: Die Theorie solle hochleben, weil sie eigentlich tot ist. Also nicht Deleuze, Foucault und Luhmann, die wirken fort, dafür wird gesorgt. Aber Ratlosigkeit, die sich bis in groteske Heilserwartungen versteigen konnte, wo denn gerade eben jetzt die große Theorie überhaupt zu finden sei, war in nicht wenigen Gesprächen zu spüren. Von wem und aus welcher Richtung war der nächste Turn wohl zu erwarten? Als next big thing sprachen manche vom Rückgriff auf Wilhelm Dilthey und ließen offen, wie ernst es ihnen damit war und sie die ganze Diskussion nahmen. Fassbar aber blieb eine spürbare Verunsicherung, ob nach der ANT überhaupt noch irgendwas von Rang postuliert worden war. Zumindest b-prominent ist diese hadernde Haltung in den Literaturwissenschaften, die im Zuge ihrer sogenannten Verwissenschaftlichung der letzten 50 Jahre permanent und (an)gespannt auf den letzten Schrei der French Theory-Exegese warten, um guten Gewissens alten Wein in neuen Schläuchen servieren zu können. Gerade in einem vom selbstreflexiven Krisenbewusstsein gepeinigten Fach wie der Germanistik werden theoretische Heilsbringer händeringend gesucht.

Ein solcher könnte der 1940 geborene französische Philosoph Jacques Rancière sein; zumindest legt die Windeseile, in welcher seine Bücher ins Deutsche übertragen werden und mittlerweile mehr als ein Regalbrett füllen, diese Annahme nahe. Rancières Name war zu Anfang der 1970er bereits einmal, wo anders als in der Reihe Internationale Marxistische Diskussion im Merve-Verlag aufgepoppt. Hierzulande wird er allerdings so richtig erst seit den frühen Nullerjahren rezipiert. 2002 erschien die Schlüsselschrift Das Unvernehmen bei Suhrkamp, übersetzt von Richard Steurer-Boulard, der bislang alleine für den Wiener Passagen Verlag an die zwanzig Bände Rancière ins Deutsche übertragen hat. Bei den neuesten Erscheinungen – An den Rändern des Politischen und Die Ränder der Fiktion – handelt es sich um Textsammlungen, anhand derer sich die Kontinuität zentraler Thesen der Rancière’schen Begriffsarbeit aufzeigen lässt, gerade weil zwischen ihren jeweiligen Veröffentlichungen im französischen Original nahezu drei Dekaden liegen. Bei Rancière führte je eins zum anderen, jedoch ohne dass schließlich alles in harmonischer Synthese aufgeht. Das macht ihn als Theoretiker so begehrt, der Interpretationsspielraum, den seine Konzepte lassen, sowie die breiten Felder, in denen sie Anwendung finden können; von einer historischen Kunst- bis zur gegenwärtigen Politikwissenschaft. Dabei ist und bleibt Rancière der Denker des Dissenses, es interessiert ihn die Reibung und der Aufeinanderprall, die Konfrontation, die Momente der Ablösung zwischen alter und neuer Ordnung. Einen Doktrinär wird man ihn derweil nicht nennen können. Denn revolutionär ist ihm nicht bloß, was vermeintlich Überkommenes mit einem Mal hinwegfegt, sondern was selbst weiter auf dem Prüfstein steht. Unter diesem Gesichtspunkt werden historische Situationen erneut unter die Lupe genommen und gemäß der eigenen Prämissen ausgedeutet. Eines der Kernkonzepte, auf das er dabei fast immer rekurriert, ist die Gleichheit, die Rancière prinzipiell immer schon am Werk sieht, sobald politisch gestritten wird. Wer die Forderungen der Arbeiter als unangemessen zurückweist, gesteht ein, dass er versteht, aufgrund welcher Umstände sie zuallererst erhoben werden. Der einst an der École Normale Supérieure ausgebildete Rancière entwickelte diesen Gedanken in seiner vergleichsweise späten Dissertation Die Nacht der Proletarier, für die er in jahrelanger Archivarbeit Dokumente der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtete, und führte ihn fort in der pädagogischen Schrift Der unwissende Lehrmeister.

Prägend ist das Prinzip der Gleichheit auch für die Textsammlung An den Rändern des Politischen, die in Frankreich zuerst 1990 erschien. In Rancières Oeuvre besetzt der Band eine wichtige und von der Forschung durchaus beachtete Scharnierstelle, die den Verlauf des Gesamtwerks allmählich in Richtung der Frage nach dem Wesen der Politik als Dissens hin öffnet. Zugleich gibt es gute Gründe, dass das Buch erst jetzt auf Deutsch vorliegt, womit es, obwohl schon dreißig Jahre alt, am Ende der Übersetzungskette steht. Zunächst einmal erschienen über die Jahre eigenständige Auszüge in Kompendien und sogar gesondert in Heftform. Für ein Publikum außerhalb Frankreichs dürfte vor allem aber der Bezug auf die französische Zeitgeschichte und teils gar die Tagespolitik wie den Präsidentschaftswahlkampf 1988 den Zugang erschweren. Das zentrale Thema wiederum, wie Rancière in einem Vorwort zur Ausgabe schreibt, sei das der „Desidentifizierung“ – und ist damit brandaktuell. Der herrschenden Macht sei es spätestens seit den 1980er Jahren immer weniger gelungen, die „Sicht-, Lebens- und Sprechweisen der Arbeiter schmieden zu können“, bemerkt Rancière im Rückblick. Selbst wenn die Fokussierung auf eine wie auch immer geartete Arbeiterschaft weder für das heutige Frankreich ausreichend differenziert ausfällt noch sich eins zu eins auf die deutschen Verhältnisse übertragen lässt, liefert Rancière mit seinen Beiträgen doch Diagnosen, die es sich zu lesen und überdenken lohnt. So weist er darauf hin, dass bereits 1988 über vier Millionen Franzosen den rechtsextremen Front National wählten – und damit den „Kandidaten, der ‚Frankreich den Franzosen‘ propagierte“, womit sie überdeutlich verkündeten:

Da, wo das Politische zusammenbricht, wo die Partei der Reichen und die Partei der Armen scheinbar dasselbe sagen – Modernisierung –, wo man angeblich nur noch zwischen unterschiedlichen Werbebildern für ein Unternehmen zu wählen hat, das so gut wie dasselbe ist, dort findet man nicht mehr den Konsens, sondern die Ausschließung wieder, nicht mehr die Vernunft, die zur sozialen Rationalität der Koexistenz der Befriedung geworden ist, sondern den reinen Hass auf den anderen, die Versammlung zum Zwecke des Ausschließens.

Der überaus kritische Blick auf den demokratischen Konsens ist die Triebfeder der politischen Interventionen. Hier hat die Definition dessen, was in Berufung auf Rancière Postpolitik genannt wird, ihren Ursprung. Wo kein Streit mehr herrscht, ist die Politik am Ende. Und wohin die Entwicklung, die Rancière sich abzeichnen sah, bis ins Jahr 2020 und tief hinein in die großen Parlamente führte, ist bekannt. Rancière ist stark, wo er anhand des konkreten Details Weitsicht beweist – noch bevor sein Lieblingsgegner, die Soziologie, die seiner Meinung nach lediglich Thesen kapere und anschließend simplifiziere, tatsächlich sein Argument aufgreift, um die Wahlerfolge von AfD, FN und den Republikanern unter Trump zu erklären.

Zur selben Zeit, als auch die Arbeiten zum Begriff der Politik sich intensivieren, bricht sich im Verlauf der 1990er verstärkt auch Rancières Interesse an der Literatur Bahn. Es erscheint eine recht enigmatische Studie zu Stéphane Mallarmé, wovon, wie man mutmaßen könnte, jeder französische Philosoph einmal im akademischen Leben eine wird schreiben müssen. Gegen Ende des Jahrzehnts beginnt Rancière sodann seine Literaturtheorie im engeren Sinn, die er alsbald in den größeren Kontext der Kunst eingemeinden wird, wobei die Literatur selbst dort eine recht privilegierte Sonderstellung inne behält. Zuletzt widmete sich Rancière der Begriffsarbeit am Terminus technicus Fiktion. So auch in Die Ränder der Fiktion, eine taufrischere Publikation aus dem umfangreichen Output der letzten Jahre. Fiktion ist für ihn ein Mittel der Sichtbarmachung. Sie ist in der Lage, Verschleierungen aufzudecken und somit den gesellschaftlichen Konsens zu erschüttern, der ästhetische Erfahrungen zumeist als Upperclass-Luxusgut deklariert, einem ‚einfachen‘ Handwerker hingegen in den seltensten Fällen ernsthaft zutraut. Wieder ist es die Soziologie, gegen die er mit einigem Furor anschreibt, der beizeiten den Beigeschmack persönlicher Fehden transportiert. Aber auch die marxistische Literaturtheorie verkehrt in ihrer mimetischen Überkompensation die Relationen. Sie gibt vor, alleine gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse aus der Literatur ableiten zu können, die Rancière zufolge aber bereits in den literarischen Werken und ihren Alltagsbeschreibungen ganz ohne den Ballast eines deterministisch-einseitigen Lektürezugriffs offen zutage liegen. Dieser Zug ist zweifelsohne sympathisch: Im Gegensatz zu nicht wenigen seiner Berufs- und Generationsgenossen nimmt Rancière die schriftstellerischen Werke als eigenständige Erkenntnismedien ernst. Problematisch ist eher, dass seinem Selbstverständnis nach offensichtlich auch an ihm ein Schriftsteller verloren gegangen ist; leider einer, der nicht immer seinen besten Tag erwischt. Auf manchen Seiten schreibt Rancière undurchschaubar hieroglyphisch, anderenorts werden die Leser von einer Schwemme butterweicher Stilblüten erdrückt, wie zum Auftakt der Skizze Die Augen der Armen:

Auf der Gehsteigebene kann der Träumer über andere Blicke auf andere Tableaus sinnieren. So etwa über die Blicke der spazierenden Armen, die plötzlich vor der neuen Zauberwelt des Boulevard-Cafés haltmachen, das seine Spiegel, sein Gold und seine mythologischen Kulissen vor den Blicken der Passanten ausbreitet. Der dort am Tisch sitzende Caféhausbesucher kann das, wenn er Dichter ist, um Anlass nehmen, darüber nachzusinnen, was von dem, was die Augen auf jeder Seite des Fensters sehen, was geteilt wird, und was nicht geteilt wird. Das ist nämlich der neue Schatz, der sich der Poesie darbietet, wenn die Fenster sich öffnen, hinter denen die gequälten Seelen der Elite sich zu schützen versuchten, und wenn die Straße den Reichen ebenso wie den Armen das Schauspiel der Genüsse der anderen liefert.

In den schwächsten Passagen wird sich in eine Einfühlungsästhetik versenkt, die klebt wie Zuckerguss, mit dem die alten Zeiten zentimeterdick übergossen werden. Einige Absätze weiter wartet bereits die nächste verstiegene Sentenz: „Man hat gelernt, dass es keine ehrliche Seele gibt, aus dem einfachen Grund, dass es keine Seele gibt, die das Wahre über sich selbst weiß.“ Auf den zweiten Blick aber und im Kontext – die vorangegangenen Seiten bildeten in nuce einen Übergang von Hugo über Balzac und schließlich zu Proust – sind die Zeilen dann durchaus einen Gedankengang wert. Zwischen diesen Extremen changiert die Lektüre. Besonders reizvoll wirkt an den literaturtheoretischen Schriften Rancières ohnehin, einmal über den strikten Höhenkammkanon der Bücher, die den Philosophen teils seit Jahrzehnten in Bann halten, hinauszugehen. Nicht zuletzt in zeitlicher Hinsicht, bilden doch spätestens die 1950er eine Art Demarkationslinie, die von Rancière niemals nicht überschritten wird. Handwerkszeug im Sinne von verbindlichen Begriffsapparaten und Verfahrensweisen für eine solche Expedition reicht Rancière den Lesern nicht an. Und das ist gut so, denn konsequent im Sinne der Emanzipations-Pädagogik, die er predigt. Der Blick schärft sich beim Lesen. 

Der Gestus, nicht überwältigen zu wollen, prägt auch die Interviews, die Rancière gerne zu geben pflegt. Wo andere professorale Granden ihre Vorlesungen drucken lassen, bevorzugt Rancière das offenere Gespräch, nicht selten auch in Buchlänge. Im Züricher Verlag diaphanes, der sich ebenfalls um die Vermittlung Rancières in den deutschsprachigen Raum verdient gemacht hat, ist nun ein Band Gespräche jüngeren Datums mit dem Filmwissenschaftler Adnen Jdey unter dem Titel Das Verfahren der Szene erschienen. In vierzehn solchen „Szenen“ zeichnete Rancière in seinem Hauptwerk Aisthesis die Entwicklungslinien hin zu jenem von ihm sogenannten „ästhetischen Regime der Kunst“ nach. Es sind historische Momente, in denen sich neue Kunstformen durchsetzen. Das hat natürlich stets etwas von einer Bühnensituation, hat untrennbar mit Dramaturgie und Theatralität zu tun. Letztere Stichworte mögen bereits signalisieren, dass Das Verfahren der Szene auch über den engeren Bereich der Künste hinaus produktiv gemacht wird. Jdey und Rancière definieren und diskutieren den Modus des Brennglases, es auf die Geschichte(n) zu richten und die Augenblicke ihrer Kursänderung in neuem Licht zu betrachten.

Rancière hat noch immer viel zu sagen, das beweisen alle drei Bände – wenngleich der Eindruck zurückbleibt, dass er das Wichtigste bereits früher und an anderer Stelle gesagt hat. Eine Randfigur der großen Theoriediskussion aber ist er schon lange und auch zurecht nicht mehr.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jacques Rancière: An den Rändern des Politischen.
Reihe Passagen forum.
Übersetzt von Richard Steurer-Boulard.
Passagen Verlag, A 1010 Wien 2019.
192 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-13: 9783709203576

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Jacques Rancière: Die Ränder der Fiktion.
Übersetzt von Richard Steurer-Boulard.
Passagen Verlag, A 1010 Wien 2019.
200 Seiten, 25,60€ EUR.
ISBN-13: 9783709203286

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Jacques Rancière: Das Verfahren der Szene. Gespräche mit Adnen Jdey.
Übersetzt von Thomas Laugstien.
Diaphanes Verlag, Berlin 2019.
160 Seiten, 18€ EUR.
ISBN-13: 9783035801873

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Peter Engelmann (Hg.) / Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen.
Richard Steurer-Boulard.
Passagen Verlag, Wien 2013.
352 Seiten, 41 EUR.
ISBN-13: 9783709200964

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