Zur Selbstqual und -zerstörung der „Poearnographie“

50 Jahre Arno Schmidt: „Zettel’s Traum“

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Der Hype um das Riesenbuch

Vor einem halben Jahrhundert, um ganz genau zu sein: am 4. April 1970, kam Arno Schmidts riesiges Werk Zettel’s Traum[1] auf den Markt. Ein Überbuch mit 1334 Seiten im DIN A3-Format, das entspricht etwa 4000 normal gesetzten Seiten, dessen Text über drei Spalten hin- und hermäandert, ja der auch die einzelnen Worte und ihre Silben systematisch aufspaltet; hinzu kommen zahlreiche Überschreibungen, Skizzen, eingeklebte Fotos – eine Text-Bild-Montage, die damals nur in Form eines Typoskripts vervielfältigt werden konnte und nach jahrzehntelanger Detailarbeit erst 2010 in gesetzter Form auf den Markt kam. Zur kräftezehrenden Niederschrift des Manuskripts hatte Schmidt, zurückgezogen lebend in seinem Häuschen im Dorf Bargfeld in der Lüneburger Heide, seine letzten verbliebenen Außenkontakte für fast vier Jahre abgebrochen, an seine Frau delegiert oder auf ein Minimum beschränkt. Die Veröffentlichung war eine publizistische Meisterleistung, vorbereitet mit Rundfunkdialogen und Essays und einem einführenden Radiogespräch des Autors, selbstlos unterstützt von seinem Verleger Ernst Krawehl, sekundiert von schon im Vorfeld werbenden Feuilletonartikeln in FR und SZ und gekrönt von einem „Spiegel“-Interview mit dem Meister selbst.

Die Erstauflage war sofort vergriffen, das mit fast 300 DM sehr teure Buch wurde offensichtlich wie ein Kunstwerk von vielen Käufern als Spekulationsobjekt erworben. Auch ein Raubdruck von studentischen Arno-Schmidt-Fans, der vom Autor bekämpft wurde, aber auch für Wirbel und zusätzliche Publicity sorgte, war sofort verkauft. Für erhebliches Aufsehen sorgte dann die Gründung des mehr als Gag gedachten „Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikats“, das den harten Kern seiner Anhänger versammelte und, wohl zum ersten Mal in der deutschen Literaturgeschichte, sich der Enträtselung und Deutung von Zettel’s Traum und überhaupt von Schmidts gesamtem Werk widmete; der daraus entstandene Bargfelder Bote erscheint bis heute.[2] 

Der Hype um das monströse Buch war damals also immens. Arno Schmidt hatte davon gesprochen, ein neues, aus der Psychoanalyse abgeleitetes Literaturmodell vorzulegen, am Fall des von ihm seit seiner Jugend geschätzten Edgar Allan Poe zu exemplifizieren und damit zugleich James Joyces Ulysses, an dessen 1-Tages-Struktur sich Zettel’s Traum locker anlehnt, zu übertreffen. Wenngleich Schmidt versprach, den Rätselcharakter aufgrund der Vielsprachigkeit und Polyphonie von Joyces letztem großen, noch schwierigeren Werk Finnegans Wake vermeiden zu wollen, war der herrische Gestus, mit dem Schmidt sein opus magnum in die Welt wuchtete, nicht zu übersehen. Sein theoretischer Anspruch war so hochfahrend, der enzyklopädische Charakter des Werks schien so ehrgeizig, kurz der Erscheinungscharakter, Komplexitätsgrad und schiere Umfang des Buches waren so erschlagend, dass es auf die Unterwerfung des Lesers hinauszulaufen schien. Die Rezensenten, denen Schmidt empfahl, mindestens ein Jahr lang erstmal nur das Buch zu lesen, behalfen sich dann auch mit der Beschreibung des Phänomens oder nahmen Zuflucht zu Witzeleien. Das Spiegel-Interview[3] gibt schon mit seinem Titel ein schönes Beispiel: „Apropos: Ah!; Pro=Poe“; Hinweise auf das Gewicht des Buches und ein Schreibpult, das man für „Zettels Alptraum“ benötige, machten die Runde.

Schmidt hatte sich in den fünfziger und frühen 60er Jahren mit seiner radikalen, innovativen Prosa ein kleines, aber treues Leserpublikum erschrieben, das sich gerade mit der aufkommenden Taschenbuchproduktion in den 60er Jahren zu vergrößern begann. Jetzt aber, angesichts dieses Riesenwerks, spaltete es sich: in eine kleine, einige paar hundert unerschrockene „Dechiffrierer“ umfassende Gruppe um den Bargfelder Boten oder die später gegründete Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser (GASL), und eine Mehrheit, die sich resigniert oder kopfschüttelnd, auch über Schmidts politische Einlassungen etwa bei der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt 1973, abwandte und sich lieber an den alten, bissigen Arno Schmidt der Erzählungen und kurzen Romane der 50er Jahre hielt.[4] Manche Kritiker wie Wolfram Schütte, der sich jahrzehntelang in der Frankfurter Rundschau für Schmidt eingesetzt hatte und auch jetzt sein Werk weiter förderte, gaben erst im Alter, anlässlich des Erscheinens der gesetzten Ausgabe vor zehn Jahren zu, dass sie das Buch nie wirklich gelesen, sondern sich nur auf die Selbstaussagen des Autors gestützt hätten.[5]

Dennoch hat die langsam einsetzende und sich über die Jahre entwickelnde Arno-Schmidt-Kritik zahlreiche interessante Untersuchungsergebnisse auch zu Zettel’s Traum erbracht, wozu auch die Arno-Schmidt-Stiftung seit Jahrzehnten beiträgt. Ich selbst habe fast 20 Jahre gebraucht, um das Buch von vorn nach hinten zu lesen, habe es jetzt nochmal im Schnelldurchgang durchgearbeitet und will versuchen, einen bilanzierenden Blick auf das Werk zu werfen. 

Der winzige Erzählkern

Ein Übersetzerehepaar, Paul und Wilma Jacobi aus Lünen, macht mit seiner 16-jährigen Tochter Franziska einen Kurzbesuch bei Daniel Pagenstecher, einem alten Schulfreund aus schlesischen (Vorkriegs-)Zeiten in dessen Haus in der Lüneburger Heide. Dieser 54-jährige Schriftsteller, Ich-Erzähler und alter Ego des Autors, lebt äußerst zurückgezogen und will auch nicht mehr publizieren. Seine Gäste hingegen müssen sich gerade beruflich mit Edgar Allan Poe befassen (an dessen Übersetzung Schmidt im fraglichen Zeitraum, wenig zufällig, gleichfalls saß) und erhoffen sich von dem nahezu allwissenden „Dän“ Anregungen und Hilfe. Dän stellt auch sein Wissen aufs Ausgiebigste zur Verfügung; pausenlos redet er und diskutiert das Quartett in Schmidts Haus und auf ausgedehnten Spaziergängen, unterbrochen nur von einigen phantasmagorischen (Traum-)Szenen, bis in die Nacht hinein über Poes Werk, zu dessen Aufschlüsselung Pagenstecher seine „Etym-Theorie“ liefert; endlose Literaturbetrachtungen und exzessive Werkanalyse füllen diesen einen langen Tag.

Paul lässt sich von Däns ätzender „Anal“-yse der „Poe-Ethik“[6] rasch überzeugen, notiert all seine Annotationen eifrig mit, fast so wie die armen Schranzen, die bei Inspektionsbesuchen des nordkoreanischen „Hefeklopses“ (taz) Kim Jong Un alle Äußerungen des Diktators in ihre Heftchen kritzeln müssen, damit keine seiner kostbaren „Weisungen“ verlorengehe. Indes hält Wilma aggressiv am Bild des durchgeistigten Dichters Poe fest und reitet ermüdende Attacken gegen ihren Mann, seinen ihn versauenden Freund und speziell ihre Tochter Franziska, die total begeistert von und furchtbar verliebt in Dän ist.

„Fränzel“ versucht den nur schwer Abstand haltenden, mit Impotenz- und Herzproblemen kämpfenden Erzähler den ganzen Tag über zu bezirzen, ja zu verführen.[7] Beim Stichwort Striptease bietet Franziska Dän im Beisein ihres Vaters „lüstern“ einen Striptease an, was in mehrfacher Hinsicht abstrus erscheint.

So unbegründet der offene Hass Wilmas auf ihre Tochter erscheint, so wenig gibt es im ständigen Herunterputzen ihres Mannes – mit dem sie dann nachts aber Sex hat, was Dän und Franziska durchs Fenster beobachten – auch nur irgendeine Entwicklung. Dän selbst, extrem hellhörig und äußerst sprachsensibel, der für mystifizierende Dichter mit dem Kopf in den Wolken das verächtliche Wort „DichterPriester“ (DP) benutzt, reagiert verblüfft, als ihn seine Freunde darauf hinweisen, dass es sich um sein eigenes Namenskürzel handelt.

Paul und seine Frau stecken zudem in finanziellen Schwierigkeiten, verschärft dadurch, dass Wilma spät noch einmal schwanger geworden ist[8] und auch deshalb Franziska vom Gymnasium genommen werden und in die Lehre als Schuhverkäuferin wechseln soll. Als Dän das erfährt, gibt er dem Paar 10.000 Mark zur Finanzierung der restlichen Schulzeit der Tochter unter der Bedingung, sie dürfe nie davon erfahren und solle auch künftig von ihm ganz ferngehalten werden. Unter dem Vorwand, bei der Bekämpfung eines Heidefeuers helfen zu müssen, beobachtet Dän die drei am nächsten Morgen heimlich bei ihrer Abfahrt, bitter entschlossen, sich noch stärker in seine „WahnWeltn“ abzuschließen. Soweit die dünne Rahmenhandlung.

Die überbordende Essayistik

Helmut Heißenbüttel, der zuvor in seiner Arbeit als Rundfunkredakteur über Jahre mit Arno Schmidt zusammengearbeitet und in Rezensionen und längeren Essays für ihn eine Lanze gebrochen hatte,[9] fand in seiner Besprechung „Zettel’s Traum als dickes Buch“[10] die „Geschichte eines alternden Mannes, der sich in einen Backfisch verliebt […], die Unmöglichkeit irgendeiner Erfüllung einsieht und am Schluß resignierend beiseitetritt – vielleicht eine der schönsten Geschichten, die Schmidt je geschrieben hat“. Das kann man mit guten Gründen in Frage stellen. Interessanter aber scheint mir, was Heißenbüttel über die additive, fast multiplikative Schreibmethode Schmidts, der doch für seine magere, aufs Wesentliche reduzierte Prosa bekannt war, schreibt: „Es handelt sich, so könnte man sagen, vom einfachen Erzählsatz bis zur Ausbreitung der sprachanalytischen Arbeitshypothesen, um ein ununterbrochen die Erzählung aufspaltendes parenthetisches Verfahren: in jede Parenthese einer Parenthese wird noch wieder eine neue Parenthese eingebaut. […] Dennoch wird der Erzählraum nicht verlassen.“

Dieser Erzählkern, im Umfang von vielleicht fünf Prozent der Textmasse, ist zwar noch vorhanden, droht  aber unter den unendlich prozessierenden Parenthesen zusammenzubrechen. Die (wenigen) Figuren sind zudem alles andere als psychologisch „stimmig“, die auswuchernde Essayistik verlagert sich gleichsam in die Handlung hinein, die mit Schmidts Etym-Methodik durchlöchert und zerschossen wird.

Das fängt bei den Dialogen an, deren Sprache weitgehend phonetisch präzise wiedergegeben wird, mitunter aber bruchlos in eine Schmidt’sche Kunstsprache umkippen kann. Als Wilma abends ihre Tochter auffordert, bekannte Sternbilder zu nennen, versetzt diese „leichthin“, „so die schôflijeren Constellationen sei’n ihr, wie billich, unbekannt; dennoch getraue Sie Sich, ohne Ruhm zu meldn, diverse Stars der WesterWelt zu identifiziern“. Andererseits zitiert sie den ganzen Tag ständig die entlegensten, abstrusesten Bibelstellen; als Dän Wilma verblüfft nach dem Grund dieser Marotte fragt, gibt Wilma an, sie habe ihre Tochter beim Onanieren erwischt, versohlt und ihr befohlen, die Bibel auswendig zu lernen![11]

Das Selbstgespräch des Autors

Rasch gibt sich der Autor zu erkennen und schiebt seinen Ich-Erzähler an die Seite, wenn etwa in einer Seitenbemerkung, als sich der Dialog in der Mittelspalte um Poes Analfixiertheit dreht und Paul spielerisch dekliniert: „Anus Annie Arno annum ah=no : ah=nie aNorum Anis anos anis“, in der Spalte rechts eine Frage auftaucht: „(Anus=Schmidt?!“[12] Ein paar Seiten zuvor stellt Pagenstecher seine Übertragung eines Poe-Gedichtes vor, über dem praktischerweise gleich „Arno Schmidt“ steht.

An mehreren Stellen notiert der Autor penibel, wann bestimmte Ereignisse sich real zugetragen haben: „22.4.63, 17 h 15 m“, „27.6.65 21 h“ usw. Als Dän und Paul auf dem Jahrmarkt Wurst essen, steht in der rechten Spalte „21.X.66, Eschede, abms 18 h“ versehen mit der Unterschrift des Autors, der auch die zahlreichen Skizzen immer mit seinem Kürzel versieht. Bei einem Vertippen zweier kurz aufeinanderfolgender Worte notiert er: „hübsche Fehlleistung: ‚Vertippen mit berichtigendem Zweit-Vertippen‘! Sch.“ Er schiebt mitunter als Autor seinen Ich-Erzähler an die Seite, zeigt sich gleichsam bei der Arbeit, wie ihn seine eigenen Etym-Spielereien selber einholen. Als Dän sich einmal der Phantasie hingibt, ob Franziska, wenn sie bei ihm einzöge, dort auf dem Sofa schlafen könnte, „wo jetzt ZT liegt“, wird auch das entstehende Werk selbst in seine Niederschrift einbezogen. 

Es ist mithin, nicht nur durch den gleichen Sprachduktus, den alle vier Personen haben, ein Riesenmonolog in Form eines Viererdialogs mit dem Ich-Erzähler in der Hauptrolle, dem die anderen Personen, auch in loser Analogie zu den Freud’schen drei psychischen Instanzen Ich (Paul), Über-Ich (Wilma) und Es (Franziska) zugeordnet sind. Dän sieht sich selbst als Vertreter einer „4. Instanz“, einer Kategorie für alte Schriftsteller, die mit nachlassender Potenz, aber geschärftem Intellekt die Wirkkräfte der Sprache durchschauen und gegen die Einsprüche und Verbote des Über-Ich (Wilma) dem armen Ich (Paul) zu Hilfe kommen und vor allem dem unterdrückten Es (Franziska) gewissermaßen den Weg zur Zivilisierung bahnen.

Die leidige „Etym-Theorie“

Die vor unseren Augen entwickelte „Etym-Theorie“ von den bedeutungsmultiplizierenden Wortkeimen, die Pagenstecher/Schmidt mit großer Verve und Textbelegen entfaltet, gilt auch den hartnäckigsten Schmidt-Verehrern mittlerweile als „knolliges Hypothesen-Bündel“,[13] das allenfalls zur Selbstexplikation seines Großwerkes dienen kann. Wie die Zerlegung der Worte funktioniert, demonstriert Dän seinen Gästen am Beispiel von Poes Vorliebe für die Panoramen im frühen 19. Jahrhundert, guckkastenartige Theaterbühnen mit realistisch gemalten Szenen von Schlachtfeldern oder anderweitig historisch bedeutsamen Kulissen:

Pan : Pan = All / Pen, die Feder;: das legitime Schriftstellerwerkzeug. / (Leider geht’s von hier sofort zum ‚Penis‘). / Und die Einladung zu ‚puns‘ [Wortspielen] iss ja wohl=auch unüberhörbar.) ano : anus; (was sonst?) ora : ist bei Ihm immer mit ‚Öffnung, Loch‘ verkuppelt ram : Widder & rammeln ma : ‚meine‘ und ‚Mutter‘. / Dann ebm noch die offizielle, aseptische Bedeutung selbst: Panorama : All=Rundumschau.

Paul ist begeistert, dass sich daraus „die artigsten Wortzusammensetzungen puzzln“ lassen, wie „Das Rundumloch für den Allpenis“.

Auch wenn an der Behauptung der erotischen Unterfütterung von Sprachlauten etwas „dran“ ist, relativiert Dän selbst seine „Téori“: „Alles, was man schreibt, ist zumindest ein bißchen wahr“. Aber zu welchen Absurditäten das führen kann, zeigt die Diskussion der Silbe „cryst“, die u.a. die Bedeutung Schamlippen haben solle, wo Dän und Paul darüber sinnieren, ob die „feuersbrunstmäßige“ Ausbreitung des Christentums in der Antike nicht ihren Grund darin haben könne, dass jeder Römer gegenüber seiner Römerin „von Deren Schamlippen schwärmen cunnt?!“[14] Und diese Religion damit quasi für einen „offenen Schamlippendienst“ stünde? Oder, wenn die heutige Fernsehbegeisterung darauf „zurückgeführt“ wird, dass griechisch „thele“ „Brustspitze“ heißt, die es zu visieren gelte. Oder dass die Liebe zu Marzipan etwas damit zu tun haben soll, dass sich in der Schreibweise „(i)m Ars’iPen“ eine Tendenz zum coitus a tergo verrate.

Die „Etyms“ wirken demnach quer durch Zeiten und sämtliche (Sprach-, auch Schrift-)Räume. Leicht vernuschelt und verlispelt gesprochen, ergeben sich unendliche Bedeutungsverschiebungen der Silben mit zusätzlichen Sinndimensionen, die Dän in manchmal sich über eine Seite erstreckenden „Etymspinnen“ graphisch zu erfassen sucht. Dass Poe die Undine von Fouqué schätzte, stünde demnach, englisch ausgesprochen, für „undone by Fuck“, also den Wunsch, einmal durch sexuellen Verkehr richtig fertiggemacht zu werden.

Die „Erledigung“ von Poe

Überhaupt wird der arme Edgar Poe dermaßen auf die Streckbank geschnallt und mit der Etympeitsche gefoltert, dass es an eine Art imaginärer Leichenschändung grenzt. Sein Alkoholismus habe dazu gedient, seine latente Paranoia niederzuhalten, als Mann mit Präferenz für Kindfrauen sei er „zu 70% Voyeur, mit raffiniert urophilen Neigungen“, zu 30% sorgfältig getarnter Exhibitionist, der seine perversen Neigungen vorzugsweise in Pissoirs ausgelebt habe; noch sein „Hitlerbärtchen“ wird ihm zum Vorwurf gemacht. Sein  kurz vor dem Tod geschriebener Essay „Heureka“, ein philosophisch-spekulatives Werk, mit dem Poe seine metaphysischen Gedanken der Nachwelt übergeben wollte: Des „Meisters Vision vom ‚Letztn Ding‘ die eines WeltAlls, in dessn Mitte ein riesijer allumfassnder Weiber=Arsch steht“.[15]

Kurzum, es geht Dän und rasch auch Paul darum, ihrerseits Poe „fertigzumachen“; so fordert Paul seinen Freund einmal auf, „Jetz gib Du ihm bidde noch den Rest, Dän“. Jedes Motiv ist den beiden Freunden dazu recht, keine Abstrusität wird umschifft: So wird, weil zweimal in Poes Werk von sagenhaftem Reichtum die Rede ist – einmal ist von 450 Millionen die Rede, ein anderes Mal von 450.000 –, auf eine schlagende Fixiertheit an die Zahl 450 geschlossen, und das entspreche 45 ̊, also 45 Grad, und das wiederum stehe für einen erigierten Penis. Poe fürchte immer die Indianer, also etwa die Sioux – ausgesprochen „See us“ stünde das natürlich für die Angst des Voyeurs vor seiner Entdeckung. 

Die Einseitigkeit und Unterkomplexität dieser selbstgeschnitzten „Téori“

Nun ist es natürlich ein Leichtes, solche Stellen zu zitieren und damit wiederum Arno Schmidt „fertigzumachen“. Man könnte ähnlich viele Stellen zitieren, wo seine Verschreibkunst, gezielt eingesetzt, zu ganz wunderbaren Nebenbedeutungen führen kann oder zum Mitschwingen ambivalenter Töne wie etwa in der Schreibweise „Wenn De Mich nur lieb=haßd“. Die überwältigende Mehrzahl seiner „Etyms“ besteht aber aus obszönen Kalauereien, wenn die Kohlmeise etwa als „Culmöse“ verschrieben wird, ein „Schornsteinficker“ seiner Arbeit „mit Schaufl & Handfigger“ nachgeht oder die „aristocracy“ für jeden englischen Leser angeblich klinge wie „arse to crazy“, lies: „‘n ArschVerrückter“.

Der beim Lesen sich rasch einstellende Überdruss kann dann die zweifellos vorhandenen poetischen Perlen in dem ganzen Gebirge von Penissen, Vaginen und Kothaufen gar nicht mehr wahrnehmen. Dän proklamiert einmal, ein Etym sei eine „wandlnde Blume. Ein dem (Wort=)Zweig entblühter Vogel. Ein mit feurijn Funkn leuchtnder (Buchstabm=)SpringBorn. Ein (Sinn=)singendes Reis […] eine Art=ä… ‚GeisterUmgang“. Wenn dem doch so wäre – eine Befreiung der Sprache von ihren festgefressenen Formen, eine Leichtigkeit im Spiel mit ihren Gesetzen, eine Transparenz und ein Freisetzen schwebender Energien auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten!    

Schmidt aber schien wirklich der Meinung zu sein, mit den „Etyms“ den Schlüssel gefunden zu haben, mit dem sich jedes literarische Rätsel, noch die dunkelste poetische Stelle knacken und auf etwas Erotisch/Sexuelles zurückführen ließe. Dän behauptet begeistert, „es ist ähnlich wie mit der Atom=Energie : Wer die Etyms hat, ist der Herr der Wort=Welten“. Nun mag uns nicht nur der Vergleich mit dieser tödlichsten aller Energieformen erheblich befremden, sondern auch die Hybris, die dieses Phantasma der Sprachbeherrschung prägt. Dass wir als Sprechende immer zugleich auch gesprochen werden, dass die Sprache und alle möglichen Diskurse in und durch uns hindurchgehen, dieser Gedanke war ihm offensichtlich ganz fremd, auch wenn ihm beispielsweise Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ und dessen Theorie der Sprachspiele ein Begriff waren.

Für Dän sind die „Etyms“ etwas der Sprache Vorhergehendes, wenn er behauptet, dass „die Sortierung=Lagerung der Worte im Gehirn, ebm auf Etym=Basis erfolgt“.[16] Jeder müsste idealerweise versuchen, „die Lagerung dieser Zeichen im eigenen Gehirn zu erkennen, & ihr Arbeiten zu beobachten“. Das mag in etwa dem Stand der Hirnphysiologie des 18. oder 19. Jahrhunderts entsprechen – prinzipiell glaubt Dän zwar, dass es „noch lange dauern wird, sich der Schalt=Elemente innerhalb seines Schädels annähernd zu=bemächtigen“, obwohl er selbst noch meilenweit davon entfernt sei – aber allein die Vorstellung, dies für möglich zu halten!

Es entsteht hier so etwas wie die Idee eines autonomen, der Sprache mächtigen Bewusstseins oder Geistes, der nicht mehr bloß als Bündelungs- oder Kreuzpunkt all dessen funktioniert, was von Tradition, Geschichte, Kultur, Familie etc. durch ihn hindurchspricht und der gezwungen ist, sprechend mitzutun als kleines Teil im Funktionszusammenhang dieser riesigen, permanent sich wandelnden (Sprach-)Maschinerie – sondern dem es, in einem Kraftakt der (Selbst-)Erkenntnis ohnegleichen, gelingt, das Webmuster des Netzes, in dem er immer schon gefangen ist und das er ständig mitproduziert, zu durchschauen. Dän selber zieht den Vergleich von Worten mit Text-„Ketten“, worin sich die Etyms als „Schuss“ befinden, gleichsam als Kern-Sprache, die aber ihrerseits nicht kohärent spricht, also einen Sinnzusammenhang erzeugt, sondern, unbewusst gesteuert, in die Oberflächensprache permanent hineinnuschelt und -lallt.

Nach Däns Kenntnis hätten es bislang nur etwa 15 oder 16 Autoren geschafft, sich die Etyms dienstbar zu machen und bewusst mit Mehrfachcodierungen ihrer Sprache zu arbeiten. Zettel’s Traum soll nun als eine Art enzyklopädisches Belegstück den Triumph seiner Methode beweisen. Aber es lässt sich gut beobachten, wie der Enthüllungsgestus von Dän und zunehmend auch Paul rasch zur Zwangshandlung wird.

Die Attacke der Etyms auf ihren Erfinder

Dän entwickelt vor seinen Gästen die These, dass unsere gesamte Außenwelt projektiv unterfüttert sei mit unserem innersten Innern, dass die Landschaften und Räume von Autoren wie Karl May oder eben Poe immer geprägt seien von Projektionen ihres Unbewussten. Heißenbüttel hatte schon 1961, also deutlich vor Schmidts endgültigem Rückzug in sein Großwerk, von dessen „solipsistischen Zug des auf sich allein zurückbezogenen monologischen Bewusstseins“ gesprochen, eines Bewusstseins, könnte man fortführen, das nach Schmidts „Wende“ hin zu den Etyms darum kämpft, die Wucherungen des Unbewussten in der Außenwelt, die höhnenden Penisse und grinsenden Vaginen allüberall, zu benennen und dadurch zu bannen.

„Wir sind (& nicht nur in Treumungen, sondern ebenso im Würglichen=Lébm), pausenlos den massiertn Angriffen einijer=Hunderttausnd von Etyms ausgesetzt!“ klagt Dän, und der Autor stimmt in einer Seitenbemerkung in der rechten Spalte zu: „(schlimmer als Baktherien!; (aber Mein Kopf iss über Mich hinaus gewuchert; (also ‚besagts‘ Alles=Nichts…“ Mit anderen Worten, hier spricht sich eine resignierte Verzweiflung aus, die Zettel’s Traum als Versuch einer monomanen Selbstbestätigung und zugleich Dokument einer tendenziellen Selbstzerstörung ausweist.[17]

Dennoch ist auch der Ich-Erzähler nicht Herr über die Etyms. Die sich häufenden Hinweise auf Wilmas Schwangerschaft vermag Dän nicht zu deuten; als er sie einmal bei der Formulierung „Poes prägnanter Stil“ zusammenzucken sieht, mißdeutet er dies „etymistisch“ wegen des „Stiel“ als Phallus und nicht etwa in Reaktion auf das englisch mitschwingende „pregnant“ (schwanger). Er ist nicht einmal imstande, einen Widergänger Edgar Allan Poes, einen Dr. Pononner, als solchen zu erkennen. In den  Verwandlungsszenen der Bücher IV und VII, die Schmidt für die besten Passagen des Werks hielt,[18] wird der Ich-Erzähler als Spielfigur behandelt und ebenfalls mehrfach verwandelt.  

Selbstentblößung und Geraunze

In seinem mehrtausendseitigen Dauermonolog betreibt Arno Schmidt, mit dem Rücken zur Gesellschaft und zu seiner Zeitgenossenschaft, gut verborgen in den endlosen Poe-Zitaten und Auslegungen, eine Selbstentblößung, die an peinigender Radikalität und aufdringlicher Körperlichkeit kaum zu überbieten ist. Nicht nur berührt die „Liebesgeschichte“ mit einem Mädchen, das Däns Tochter sein könnte, unangenehm. Dän selbst sagt von sich: „Nu klar bin ich : n ‚Alter Bokk‘! (Oder ‚geiler Sack‘; oder n ‚Lustgreis‘“. Wir erfahren Details aus Däns Sexualleben, die wir lieber nicht kennenlernen würden, weil wir sie für solche des Autors halten müssen. Im Grunde sei ihm die Schinderei, rein körperlich, immer viel zu groß gewesen, sagt Dän. Er bevouyiert sein geliebtes „Fränzel“ lieber auch auf dem Klo, gesteht ihr Intimstes, gibt Tipps zur Selbstbefriedigung.

Schmidt also ein Dirty Old Man? Das kann man auch umdrehen: Diese Abscheu vor dem Sexuellen, der Ekel vor allem Organischen überhaupt sprechen sich hier dermaßen deutlich aus, dass es wie eine Autoaggression wirkt. Ähnlich peinigend für uns als Leser wirken auch die politischen Kommentare, die seine Figuren vorzugsweise bei Radio- oder Fernsehnachrichten von sich geben: man meint, einen betrunkenen Höcke oder Kalbitz vor sich zu haben. Zahllos die Invektiven gegen „Neger“ und „Zigeuner“, gegen Beatles und „Gammler“. Die Deutschen? Arbeitsscheu und faul, bedürften dringend der Kreuzung mit noch arbeitswilligen Rassen wie Chinesen oder Mongolen. Wobei:  „Orientaln schtinkn. Oder gar Neger erst!“ Frauen seien „mehr oder minder für ein’ unwiderstehlich=ungewaschenen Ausländer anfällich“. Und Bauern erst!

Dän/Schmidt ist sich selbst für unflätigen Gossenjargon nicht zu schade, der ordinäre Blödspruch „Dumm fickt gut“ taucht allein viermal auf. Meldungen von Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten werden mit dem Kommentar versehen, die Schwarzen sollten doch alle nach Afrika transportiert werden, mit 10.000 Mark und einer Freifahrtkarte: „dieser ganze, unnötig dunkle Continent, muß sich sowieso erstmal ausrevoluzzern“.[19] Wilmas Einwand, man könne nicht zwölf Millionen Menschen nach Afrika zurücktransportieren, wird von Dän gekontert, aus dem Osten seien schließlich auch 12 Millionen ohne Freifahrtkarte umgesiedelt worden! Es wirkt, als wolle Schmidt mit diesen ekelerregenden, bestenfalls ranzigen Äußerungen seinen Ruf der 50er Jahre als guter linker Mann, als kritischer Autor lustvoll zertrümmern.

Warum sind diese bösartigen Rumpelstilzereien überhaupt auszuhalten? Arno Schmidt hatte ja auch früher schon immer gesagt, ein Autor löse sich in seine Werke auf, und den schäbigen Rest besehe man sich besser nicht näher. Als die drei einmal während seiner endlosen Suada schweigen oder nicht angesprochen werden wollen, schlussfolgert Dän: „Also kwattschn: oh mein armer Kopf“. Das Dauergerede und -dozieren wirkt auch als Ablenken von dem, was die vier wirklich umtreibt, Wilmas Schwangerschaft, Pauls Geldnot, Franziskas Zukunft, Däns Herzschwäche.

Das ganze Gerede bläht ein Ich ins Übergroße auf, das sich seiner selbst längst überdrüssig geworden ist und seine Beschädigungen erkennt. Dän bezeichnet sich einmal selbst als hohlherzigen düsteren Pedanten, der unsinnige Vorräte literarischer Torheiten in sich aufgestapelt habe: „Meine Beredsamkeit in diesem Fach war Mir meist selbst unausstehlich“. Dän verflucht die 12 Hitler- und Militärjahre: sie hätten „Uns=Alle, Männer wie Frauen, zu S[exualitäts]=Krüppeln und Neurotickern gemacht“.[20]

Es ist kein Triumph, sondern eine niederschmetternde Selbsterkenntnis, wenn Dän einmal eine Art Lebensbilanz zieht: „zu was Ich auf der Welt bin, hab’Ich in Mein‘ erstn 50 Jahn auch noch nich ausfindich machen könn‘; (und murx eigentlich nur deswegen fürder, damit der Unsinn ganz komplett werde“.

Dennoch: Humor als Gegenmittel

Man hält dieses „Gemurxe“ aber, zumindest phasenweise, auch deshalb aus, weil das Buch doch in manchen Passagen voller Humor ist. Das fängt an mit eher grobgeschnitzten aber doch schlagenden Kalauern à la „wer A sagt, muß auch Schloch sagen“ und bezieht sich, nicht weiter verblüffend, immer gern auf die Analsphäre. Die lustvolle Präzision, mit der etwa Fürze beschrieben werden, reicht von „1 Fortz: klein=fest=rund, wie ein Bollzn: ‚FT‘…“ bis zu einem „langen, posthornähnlichen Fortz“. Eine Beschreibung kann etwa so aussehen: „Er pakkte den unteren Teil seines Gesichtes mit der Linken; (& dachte gewaltig in Sich herum)“. Situationskomik entsteht beispielsweise so: Als sich Paul und Wilma ausgiebig streiten, ob etwas Undefinierbares vor ihnen auf dem Weg während eines Spaziergangs ein Hase oder eine Wurzel sei, heißt es: „Da vorne war die Wurzel eben aufgesprungen, und kam, in ihrer Verwirrung, ganz dicht bei uns vorbeigerast : !“ Wilma mokiert sich wiederholt über Däns relativ lautes Organ: „Deine Stimme ist derart unangenehm ‚tragnd‘, daß man Deine Gedànkn praktisch mit=hört !“ Auch Poe bekommt ständig eins ausgewischt, bei einer Diskussion über seine Plagiate heißt es „POE schonte seines Nächsten Wort so=wenich, daß er, vorsichtshalber, die ‚vorausfahrende Retourkutsche‘ erfand“ – nämlich die Gegenseite des Plagiats zu bezichtigen. Das ist manchmal schon zum Brüllen komisch und entschädigt für Poefolter und manchen Lektüreverdruss.

Arno Schmidts Sprachwitz liegt ein äußerst sensibles Sensorium für Sprache zugrunde. Wiewohl er Dialekte wie das Schlesische oder, wie hier, das Niederdeutsche präzise einzusetzen weiß, mokieren sich seine Figuren doch über diese „bullernden Dialeckte, wie bei den Botokȗdn“, „die Sorte Plattdeutsch spreche sich doch wohl am Bestn uff alln Viern!“, bemerkt die Städterin Wilma pikiert. Dän weiß seinen Witz aber auch als Waffe einzusetzen. In einer Dorfkeipe mit derben Bauern, Soldaten und Altnazis zu einem Trinkspruch aufgefordert, versetzt er schneidig: „Der Tapferen Deutschen Sprache! – : von Einem, Der nie aufgehört hat, die vorderste Kampflinie zu verlassen“ – die entsprechenden „Botokuden“ dürften diese Aufforderung zur Desertation gar nicht verstanden haben.

Zum Humor gehört die Selbstironie. Dän beschreibt sich selbst während seiner langatmigen Poe-Analyse so: „und wichtich den Kopf zu Mei’m eignen Tinnef schüttln : macht immer n gutn (verantwortungsbewußtn !) Eindruck“. Das Sprachsensorium dient aber nicht nur in der Komik als Distanzierungsmittel gegen sich und andere, sondern es ermöglicht ein geschärftes Wahrnehmen. „Daß wir beim Sprechen derart mit dem Maul figurieren müssen!“, notiert Dän gleich zu Beginn des Buches, oder ihm fällt das erste Mal ein Leberfleck an Wilma auf, die er doch schon seit der Jugend kennt: „man latscht tatsächlich wie blind durchs Lébm“. Nur schade, dass sich daraus selten etwas entwickelt; es sind sowas wie blitzartige Erkenntnisse, die für die Entwicklung der Figuren keine Auswirkungen haben, aber im Leser weiterwirken können.

Welche enorme Sprachpotenz der Autor von Zettel’s Traum besaß, dem seine Figuren fast nur noch als Bauchredner dienten, mag die orthographische Umsetzung von Geräuschen demonstrieren: ein Vorhängeschloss wird geöffnet: „: x Ø x :! – . – ((knäkk :)“, eine Tür schließt sich, „gans kummerfoll & clamm – : ‚klabp‘ –“, das Rausschrauben einer Glühbirne wird so wiedergegeben: „! KNKK!!“, ein Radio wird ausgestellt „: gnk!“ Schmidt nutzte die ganze Bandbreite der Orthographie zur (in diesem Falle Laut-) Beschreibung. Wiewohl er der damaligen Blüte der konkreten oder visuellen Poesie verständnislos gegenüberstand,[21] bediente er sich doch ihrer Mittel, wenn es ihm passte.[22] Wenn er das Zeichen Ѡ auf seiner Tastatur gehabt hätte, wüßte ich, wozu er es eingesetzt hätte.

Seine Hellhörigkeit für sprachliche Differenzen blieb enorm, seine überbordenden Etym-Hypothesen verführten ihn aber dazu, leider überwiegend nur noch „die saftichsten Gähnitalien“[23] wahrzunehmen.

Landschaft, Wetter, Flora & Fauna

Es finden sich auch in Zettel’s Traum impressive Landschaftsbeschreibungen, für die Schmidt ja berühmt ist. Die Natur bei heranziehendem Gewitter wird mit eindrucksvollen Metaphern versinnbildlicht: „Zackijer GrauRausch“, „WeizGelb; BleiGeister“, „Das Düstergrün der Eichenkuppln“. Däns ganze Wut gilt dem herzlosen Umgang der bäuerlichen Bevölkerung mit Bäumen und Büschen. Er kommentiert wütend, dass immer mehr Wälder abgeholzt werden – „unbarmherzig, flach=gelegt & in Rübmfelder verplattet – : müssn zu Fraß=Erzeugungs=Stättn gemacht werdn“ – und hält Franziska dazu an, nicht achtlos Äste von den Bäumen abzubrechen. Schon auf der ersten Seite tauchen muhende Kälber auf, die Dän geradezu zärtlich „Kühleins“ nennt („bei Ausdrücken wie ‚Kleinlebewesen‘ hätt‘ ich früher immer am liebsten unsinnig werden mögen“). Als Dän einmal einen bellenden Hund beruhigt, ist er schnell erfolgreich: „Er befliß sich bereits des Wedelns. Und nickte dann, daß ihm die Ohren wakkeltn.“ Wer ein solch, man möchte fast sagen liebevolles Gefühl für Tiere entwickelt, kann kein ganz schlechter Mensch sein.

Die Überschreibung von Freud

Der Anspruch, den Arno Schmidt mit Zettel’s Traum verband, „dieses voluminösesten Produktes der deutschen Nachkriegsliteratur, dieses weißen Elefanten unter den Romanen nicht nur der deutschen Literatur“[24] ist ohne Zweifel titanisch, und das dadurch entstandene Werk wirkt wie ein gigantischer Findling, ein Meteorit aus dem All, der in der Landschaft der zeitgenössischen Prosa einsam herumsteht. Und es ist eben gerade kein Roman im überkommenen Sinne, sondern etwas Eigenes, für das die Kategorien noch fehlen. Die Literaturkritik sucht immer noch nach Begriffen, die diese Spezifität adäquat erfassen können. Versuche, Kategorien des Strukturalismus oder der Postmoderne auf das Werk anzuwenden, verliefen eher im Sande. Das Werk wirkt so solitär, dass es nur für sich, nicht für etwas anderes steht.

Schmidt selbst postuliert in Zettel’s Traum, das 20. Jahrhundert habe zwei große Geister hervorgebracht, einen analytischen: Freud, und einen synthetischen: Joyce. Wir konnten sehen, wie Schmidt mit seiner „knolligen“ (Drews) „Téori“ die klassische Psychoanalyse fortschreiben wollte, sich aber in bizarren Spekulationen verlor, die nur als Poetik die eigene Produktion untermauern konnten. Schmidts Umschreibung der Psychoanalyse lief eher auf deren Missbrauch als Entlarvungsmittel hinaus, statt sie zur Aufklärung zu nutzen.

Die Überbietung von Joyce

Und Joyce? Der hatte in der Tat mit dem Ulysses das erste Großwerk der literarischen Moderne geschaffen, ein Werk, das sich aller, auch literarischer, Sprachformen der Gegenwart bedient, dabei weit in die Vergangenheit zurückreicht, aber deutlich verankert am 16. Juni 1904 in Dublin spielt, mit einem überschaubaren und nachvollziehbaren Handlungsrahmen. Der Bezug auf den Odysseus-Mythos spielt darin eine strukturbildende, aber nicht dominierende Rolle. Der Schritt, den sein Autor anschließend mit seinem letzten Werk Finnegans Wake[25] tat, war dann der Abschied von einer erkennbaren, wenn man so will „Oberflächenhandlung“ durch die Vervielfachung der Bezüge, auf die sich die verwandten Sprachen beziehen, durch das, ähnlich wie bei Schmidts „Etyms“, Aufspalten der Wörter und das Ineinanderverweben mehrerer Sprachen, durch eine Freisetzung der und Neuerfindung von Signifikanten, deren Signifikate nicht mehr oder nur noch vieldeutig erkennbar sind, kurzum eine Glossolalie, die in die Tiefen von Mythen, Geschichte und Philosophie führt und sich dort, in den archaischen Mustern und dem unausschöpflichen Reservoir menschlichen Verhaltens, verliert. Heißenbüttel zitierte in seinem Aufsatz über Zettel’s Traum, wie Joyce in einem Brief an seine Verlegerin 1927 seine Absicht umschrieb, ein autonomes Sprachwerk zu schaffen: „Alle Maschinen, die ich kenne, stimmen nicht. Einfachheit. Ich baue eine Maschine mit nur einem Rad. Keine Speichen, natürlich. Das Rad ist ein perfektes Viereck. Sie verstehen, worauf ich hinauswill, nichtwahr?“ Von wegen Einfachheit! Joyce musste zu einer paradoxen Metapher greifen, um seine Intuition wenigstens anzudeuten.

Schmidt missverstand Joyces Verfahren als Synthese, wo es sich doch um eine Polyphonisierung der Sprache, eine Vervielfältigung der Ebenen, eine Ausweitung ihrer Dimensionen handelte, kurz um eine Potenzierung des Sprachmaterials, bei der eine durchquerende Zusammenführung durch den Leser kaum noch möglich ist. Eine Synthese wäre aber gerade eine Zusammenfassung auf einer höheren Ebene. Auch Schmidt schwebte so etwas wie solch ein autonomes Sprachkunstwerk vor, das nur noch seinen eigenen Regeln gehorcht, um damit „aus der bloßn ‚Literatur‘ in eine Meta=Litteratur zu gelangen“. Die Traumszenen, die Gedankenspiele, die etwa Dän und Franziska spielen, können ihren Reiz doch immer nur in, wie auch immer schwachem, Bezug und im Kontrast zur „Oberflächen“-Realität gewinnen.[26] Eine Meta-Literatur ist das jedenfalls nicht.

Auch die metamorphotischen Szenen am Badeteich und auf dem Jahrmarkt, selbst der Auftritt von Elementargeistern und das Auftauchen der Figur des Autors selbst, den die vier auf ihren Spaziergängen treffen, können es nur schaffen, die Momente des Phantastischen und Halluzinatorischen zu verstärken und die Aspekte des „Realen“ in neuem Gewand, als Spielmaterial, anders zu gestalten, aber die Realebene schimmert immer durch. Die zahlreichen intertextuellen Bezüge,[27] das Ausschlachten des Poe-Opus, ermöglichen dabei eine Vervielfachung von Anspielungen, geben vielleicht neue, zusätzliche Deutungsebenen an die Hand, weiten die Dimensionen des Textes immer weiter aus, ohne jedoch das „Reale“, also den Erzählkern, gänzlich zum Verschwinden zu bringen. Insofern tut Schmidt bewusst einen Schritt zurück hinter Joyce.

Aber sein eigener „synthetischer“ Anspruch, sein Ziel einer „reinen“, einer „Meta“-Literatur führt ähnlich wie Finnegans Wake immer tiefer hinein in ein unendlich polyglottes Text- und Bedeutungsgewebe, das immer dichter und undurchdringlicher wird, weil es sich von einem bestimmten Moment an kaum noch auf die Ausgangs-Realität zurückbeziehen läßt. Und das einzige Realsubstrat, das sich schließlich in Zettel’s Traum unverhüllt ausspricht, ist, wie schon gezeigt, der Autor selbst.

Metaliteratur und Intratextualität

Insofern könnte man nicht von einer Meta-, sondern vielleicht von einer Intra-Literatur sprechen: ein Textgewebe, in dem Arno Schmidt in einem unendlichen Selbstgespräch mit seiner Biographie spielt, sein Wissen enzyklopädisch ausbreitet und die Literatur wie einen Kokon um sich spinnt, aus dem er dann kaum noch entkommen konnte. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die Intertextualität des Werkes, die riesige Zitatenmenge (besonders Poe, aber auch Verne, Freud, Hirschfeld u.a.) ebenso dieser Intratextualität dienen wie das in Zettel’s Traum zitierte, teilweise abgelegene historische Wissen, für das man einen Begriff wie Extratextualität prägen könnte: sei es das über Aljamiado-Sprachen, phönizische Historiker, Bibelstellen, die den Frauen wegen der Lüsternheit der Engel die Verschleierung anempfehlen, kaum bekannte Theologen wie Johann David Michaelis oder Flacius Illyricus, über die literarische Schwulstform des Euphuismus, die spätantike christliche Sekte der Abeliten oder den Vertrag von Nertschinsk aus dem Jahre 1689 zwischen China und Russland.

So gesehen, dienen Inter- wie Extratextualität als Vorstufen oder Materialbasis für den riesigen „Intratext“, den Zettel’s Traum darstellt. Seine Intratextualität aber läuft auf die Schaffung einer Privatsprache und die Selbstmythologisierung ihres Verfassers hinaus. Der Leser, der sich in dieses Textgewebe begibt, um eigene Entdeckungen zu machen, muss dies in Kauf nehmen.

Was bleibt?

Betrachtet man Arno Schmidts Werk als Ganzes, lässt es sich grob unterteilen in die erst nach seinem Tod veröffentlichten, romantisierend-schwülstigen Erzählungen seiner Jugend: „Arno Schmidt I“. Dieser wird 1949, für rund 15 Jahre, abgelöst durch den durch die Nazizeit zum widerborstigen, unbeirrbaren „Realisten“ gemachten „Arno Schmidt II“, der mit seinen Erzählungen und kurzen Romanen bekannt wurde.[28] Mitte der 60er Jahre folgte dann das etymös ausufernde Spätwerk („Arno Schmidt III“). Halten wir uns lieber an Schmidt II, da haben wir genug. Dietmar Dath hat zum 100. Geburtstag Schmidts mit Recht gewürdigt, dass dieser als „persönliche Herkulesaufgabe“ nach dem Zivilisationsbruch, fast im Alleingang, „alle Probleme zu seinen gemacht (hat), die das Erzählen auf Deutsch haben muss, solange man sich mit Grauen und Ekel daran erinnern wird, was für Befehle und Behauptungen im vergangenen Jahrhundert auf Deutsch ausgesprochen und geschrieben wurden: Sprache des Mordes, tote Sprache.“ Noch in den krausesten Blüten und bizarrsten Formen seines Spätwerks setzt sich seine Sprache, der er so viele Ausdrucksformen neu erschlossen hat, von der Sprache des Mordes ab. Der dänische Lyriker Peter Laugesen schrieb in einem Gedicht treffend: „Der halsstarrige Prosaprophet / Arno Schmidt ist ein Schuss reiner Energie / in die lyrische Ader“.[29]

Ein kürzeres Gedankenspiel zum Schluss

Helmut Heißenbüttel, mit dem Arno Schmidt aus nichtigen Gründen den Kontakt abgebrochen hatte,[30] spottete noch in seinem letzten „Textbuch 11“ von 1987 über den zur Legende gewordenen, inzwischen verstorbenen Kollegen mit einem Text „Tintenarno“, der sich wie eine Variante auf die weiter oben zitierte Arno-Deklination liest: „Arnomat / Arnopos / Arnopolis / Arnopolit / Arnophobie / Arnomorphose / Antiarno / [ …] Arno mit Goldrand“. Während Arno Schmidt als bizarrer Sonderling seinen Platz in der Literaturgeschichte erhalten hatte, war es um den „Abstrakten“ Heißenbüttel, der in den 60er Jahren mit seinen scharfsinnigen Analysen und eigenen Texten eine führende Rolle in der Literaturdiskussion gespielt hatte, immer stiller geworden; heute kennt ihn kaum noch einer.

Die Studentenbewegung der späten 60er Jahre, für die stark politische oder politisierte Autoren wie Brecht, Weiss, Enzensberger eine große Rolle spielten, nahm den bissigen Sprachwitz, die poetische Potenz Arno Schmidts ebensowenig noch zur Kenntnis[31] wie das nüchterne, neue Horizonte erschließende kritische Vermögen eines Helmut Heißenbüttel. Als diese oppositionelle Bewegung in den 70er Jahren zerfiel in selbstgenügsame Spontigruppen, spätstalinistische Kleinparteien und einen winzigen Terrorflügel, fand sie erst Jahre später durch das Aufkommen „alternativer“ Öko-, Friedens-, Frauen- und Schwulenbewegungen zu neuem Schwung. Peter Weiss legte in dieser Zeit mit seiner dreibändigen Ästhetik des Widerstands (1975-81) einen Romanessay zum Scheitern des Kommunismus bis 1945 vor, der in den 80er Jahren von Teilen der oppositionellen Bewegung auf der Suche nach den Gründen ihres Scheiterns in Studienzirkeln intensiv diskutiert wurde. In den 60er Jahren aber hätte die Orientierung an Autoren wie Schmidt und Heißenbüttel vielleicht als Gegengift gegen die Erstarrung und Dogmatisierung des „roten Jahrzehnts“ der 70er Jahre wirken können.

Nach wie vor aber können wir uns heute an Schmidt II halten. Ein letztes Mal sei trotzdem eine Stelle aus Zettel’s Traum zitiert: „Auch Steine habm Adern; auch Bäume habm Arme; auch Wolkn habm Bäuche“. Rechts findet sich eine Seitennotiz „(Steine in der Erde; Staub im Wind; Licht in der Luft“ – die Klammer wird nicht geschlossen, der Gedanke lädt dazu ein, ihn fortzuführen. Welche Sprachkraft!

Anmerkungen

[1] Ja, mit Deppen-Apostroph geschrieben. Schmidt hatte jahrzehntelang gegen die steife Duden-Orthodoxie gekämpft und setzte die Zeichen, wie es ihm passte.

[2] Zum Jubiläum erscheint die 450. Lieferung des Bargfelder Boten mit dem Schwerpunkt auf Zettel’s Traum. Ein ebenfalls in der verdienstvollen Edition Text + Kritik von Friedhelm Rathjen herausgegebener Band Arno Schmidt – „Zettel’s Traum“ versammelt einige zentrale Aufsätze und Quellenstudien aus dem Bargfelder Boten.

[3] Der Spiegel 17, 1970, S. 225-233, Gunar Ortlepp über Arno Schmidts Zettels Traum.

[4] Der aufschlussreiche Sammelband von Rudi Schweikert, Da war ich hin und weg. Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis, Wiesenbach 2004, zeigt eindrucksvoll, dass auch viele, die dem Autor die Treue hielten, einen Bogen um Zettel’s Traum machten oder immer noch machen.

[5] Wolfram Schütte: Anlässlich der Wiedervorlage von Arno Schmidts Zettel(‘)s Traum. In: Glanz & Elend. Online abrufbar unter: http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/s/arno_schmidt.htm. In diesem Artikel gibt Schütte als Erscheinungsjahr fälschlich 1971 und dann 1977 an.

[6] Es fällt tatsächlich schwer, im Nachvollzug des Schmidt’schen Schreibens auf solche Gimmicks zu verzichten; insofern kann man durchaus von einem Übergreifen der Methode auf den Leser sprechen.

[7] Diese Figur erinnert unangenehm an die Schulmädchen-Reports, die ebenfalls 1970 auf den Markt kamen und die erfolgreichste deutsche Filmserie wurden. Sie verkauften „Pornographie als Aufklärungskino“ (Emeli Glaser, FAZ 17.2.20), mit Kindfrauen als bereitwilligem Objekt älterer Männer.

[8] Es berührt peinlich, wenn ein Publizist wie Stephan Wackwitz zur Vorstellung der gesetzten Ausgabe in der taz zwei Seiten zur Verfügung erhält (10.12.2010) und nicht einmal dieses wichtige Faktum auf die Reihe bekommt: er behauptet, nicht Wilma, sondern ihre Tochter sei schwanger.

[9] Insbesondere in den immer noch lesenswerten Besprechungen „Der Solipsist in der Heide“ über Kaff auch Mare Crisium (1960), „Die Sprache Arno Schmidts“ (über den 1964 folgenden Erzählungsband Kühe in Halbtrauer, der erstmals in Schmidts „Etym“-Technik verfasst war), vor allem aber im Essay „Annäherung an Arno Schmidt“ (Merkur 181, 1963).

[10] Text + Kritik 20/20a über Arno Schmidt.

[11] Wer mir nicht glaubt: S. 1031. Ich zitiere immer die gesetzte Fassung.

[12] S. 382. Bei solchen Einfällen und Gedankenblitzen des Autors bleiben die Klammern oft offen.

[13] So Jörg Drews im bislang einzigen ausschließlich Zettel’s Traum gewidmeten Dokumenten- und Studienband von Text + Kritik, Des Dichters Aug‘ in feinem Wahnwitz rollend…, München 2001.

[14] S. 66; „kann“, „konnte“ oder auch Kant ist nach dieser Logik immer = cunt („Möse“).

[15] Dass Franziska nach dieser Zusammenfassung auflacht, zeigt, dass die Verzerrung ins Grotesk-Obszöne auch satirische, selbstparodistische Züge hat. Schon in seiner ähnlich verfahrenden Karl-May-Studie Sitara und der Weg dorthin (1963) hatte sich Schmidt als „ausgesprochenen Klarglas-Witzbold“ bezeichnet.

[16] S. 125. Die mechanistische Vorstellung der „Lagerung der Worte im Gehirn“ taucht noch an anderer Stelle auf. Schmidt begann übrigens seine berufliche Laufbahn vor seiner Militärzeit im Zweiten Weltkrieg als graphischer Lagerbuchhalter in der Textilindustrie.

[17] Der einzige direkte Schmidt-Schüler Hans Wollschläger sprach 1982 vom „feinsten Selbstmord“, den der schon herzkranke Schmidt mit Zettel’s Traum vollzogen habe. Friedhelm Rathjen schrieb, der Autor sei durch die vier Jahre Fronarbeit quasi im Zeitraffer zum alten Mann geworden, der sich noch eine „Novellen-Comödie“ Die Schule der Atheisten (1972) und die „Märchenposse“ Abend mit Goldrand (1975) abrang, bevor er 1979 starb.

[18] Schon in Buch I werden die vier Figuren in Pferde verwandelt, Bäume, Pilze, Vögel; später in Schiffe, Meeresgötter, Muscheln. Elementargeister treten auf. Die Gestaltveränderungen, Maskeraden, die Mythisierung des Personals und die Einbettung der Motive in ein riesiges intertextuelles Gewebe aus literarischen Bezügen und Quellen sind inzwischen gut untersucht, vergleiche etwa die Studien von Sabine Kyora, Doris Plöschberger oder Guido Graf im Sammelband von 2001 (Fn. 12) oder die Aufsätze von Jörg Drews und Manuel Zink im neuen Edition-Text + Kritik-Reader (Fn. 2)

[19] Man vergleiche diese heftige Reaktion einmal damit, welch geringe Rolle der Vietnamkrieg spielt, der damals doch live per TV in alle Haushalte übertragen wurde. Er wird zwei- oder dreimal gesprächsweise erwähnt, ein weiteres Mal kommt auch Napalm vor, aber das war’s dann auch schon. Die Livebilder von den Napalmbombardements haben zum Aufkommen der damaligen Studentenbewegung ihr gut Teil beigetragen. Schmidt empörte das, obwohl er regelmäßig die Nachrichten verfolgte, schon kaum noch. Vielleicht auch daher sein Unverständnis für die aufbegehrenden Studenten und „Gammler“. 

[20] Hierzu die eindrückliche, wundersam krause, erhellende Studie von Klaus Theweleit: „You give me fever: Arno Schmidt, Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WW II“, Frankfurt a.M. 1999.

[21] Eine verborgene Seitenbemerkung polemisiert gegen die „Abstrackten“ um Heißenbüttel: „Eener von der heißn, büdlijn, Sorte. Die uff ne DIN A4=Seite; gans=li=obm=hin, zu schreibm imstande sind ‚ICH – /  DU – /  WIR= UNS !!! –“ (S. 1199). Schmidt waren Heißenbüttels „Textbücher“ oberflächlich bekannt.   

[22] So werden zu Beginn von Buch VII „Mücken, die in hohen Säulen ihre Tänze aufführtn“, in der rechten Spalte mit drei vertikal übereinandergeschriebenen „Mükken“ illustriert. S. 756 versucht er mit seiner Schreibmaschine ein Gesicht mit einem Kreis wiederzugeben, in den er „Stirne“, 2 mal „Auge“, eine vertikale „NASE“, einen „M u n d“ und ein „Kinn“ schreibt. Als Dän eine Herzattacke erleidet, wird das mit einem großen schwarzen Quadrat veranschaulicht (S. 793)

[23] S. 602. Allein diese Schreibweise beweist seine Fähigkeit zur Selbstparodie.

[24] Jörg Drews, „Eine Momentaufnahme, ein Scheideblick. Arno Schmidts Zettel’s Traum“, im neuen Sammelband Arno Schmidt – „Zettel’s Traum“ (siehe Fn. 2).

[25] Im Zentrum von Finnegans Wake gibt es ein Kapitel, das Schmidts Dreispaltentechnik mit Skizzen und Fußnoten vorausnimmt. Schmidt hatte sogar schon das Projekt eines Vierspaltenbuches angepeilt, Lilienthal.

[26] Das hatte Schmidt in seinem Zweispaltenbuch KAFF auch Mare Crisium von 1960 eindrucksvoll demonstriert, wo die Erzählebene I vom dort entwickelten Gedankenspiel (E II) auch äußerlich deutlich geschieden ist, beide aber immer aufeinander bezogen sind.

[27] Auch natürlich zu Joyce. Axel Dunker hat im Bargfelder Boten 100 (1986) eine Einzelszenenanalyse mit einer Hommage auf Joyce vorgelegt, die im Sammelband Arno Schmidt – „Zettel’s Traum“ (siehe Fn. 2) wieder abgedruckt ist. Der Nachweis der Parallelen ist deutlich erkennbar, aber Dunker muss einräumen, dass „die Erörterung der strukturellen Bedeutung dieser intertextuellen Beziehung für das gesamte Buch“ fehlt: „Dessen Umfänglichkeit bringt es mit sich, dass die Fäden des Verweisungsnetzes noch im Nebel verschwinden. Es läßt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, ob mehr als eine gewissermaßen punktuelle Hommage an den großen Meister Joyce vorliegt.“ Und das scheint also auch über 30 Jahre später nicht klar. – Dennoch ist die Hartnäckigkeit, mit dem sich einige wenige hundert Schmidt-Experten als Privatforscher und nicht im universitären Rahmen über Jahrzehnte „ihrem“ Autor widmen, bewundernswert, und die Fülle dessen, was sie am Verweisungsnetz von Zettel’s Traum nachgewiesen haben, ist stupend – wenn auch die Frage, wozu das Ganze passiert, nur individuell beantwortet werden kann.  

[28] Das steinerne Herz (1956) und Die Gelehrtenrepublit (1957) umfassten rund 150 Seiten, erst KAFF wuchs auf über 350 Seiten an.

[29]  Peter Laugesen, Gedicht aus „Plettede plusfours“ (1993), übersetzt von Friedhelm Rathjen, Bargfelder Bote 329 (2010), S. 3. 

[30] Aus Alice Schmidts Tagebüchern erhellt, dass die Schmidts Heißenbüttel als Laudator bei der Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises 1973 ablehnten, weil sie ihn offenbar wegen eines Streits um eine von Heißenbüttels Sender nicht bezahlte Taxifahrt als ihren „Feind“ betrachteten.

[31] Auch der damals großes Aufsehen erregende studentische Raubdruck als Versuch, Zettel’s Traum auf eigene Faust zu „sozialisieren“, lief eher auf eine Ent- als auf eine Aneignung hinaus.