Fatale Mechanismen

Phillipa K. Chongs Studie „Inside the Critics’ Circle. Book Reviewing in Uncertain Times“ fragt nach der Rezensionspraxis im professionellen Feuilleton Nordamerikas

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Vergleich: Aktuelle Debatten um die deutschsprachige Literaturkritik

In den deutschsprachigen Medien wird seit Jahren erhitzt über das Für und Wider einer ‚Krise der Literaturkritik‘ diskutiert. Oft ging es dabei um die kontroverse Auswertung statistischen Zahlenmaterials. Neben der nun bereits schon wieder älteren Debatte über den angeblich sinkenden Anteil von Besprechungen im Feuilleton der großen Tages- und Wochenzeitungen und die Konkurrenz der sogenannten LaienrezensentInnen auf Portalen wie Amazon wurde im Zuge der #metoo-Kampagne und der kritischen Betrachtung der Unterrepräsentation von Frauen im Literaturbetrieb 2018 das Projekt #frauenzählen ins Leben gerufen. Flankiert von verdienstvollen Twitter-Hashtags wie #vorschauenzählen wird die tendenzielle Geschlechterdiskriminierung im Verlagsgeschäft und im Feuilleton nun mittels empirischen Zahlenmaterials ganz neu in den Blick gerückt und statistisch bloßgestellt. Im Blick auf das deutschsprachige Rezensionswesen findet sich in der Studie „Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“ u.a. die entwaffnende Feststellung:

Die Kritiken werden überwiegend, im Verhältnis 4 zu 3, durch Männer verfasst. Männer besprechen darüber hinaus vor allem Männer: Drei Viertel aller von Männern besprochenen Werke sind von Autoren verfasst worden. Frauen dagegen besprechen Autorinnen wie Autoren tendenziell ausgewogener. […] Die von Männern verfassten Besprechungen sind deutlich ausführlicher als die von Frauen. Zudem räumen Kritiker auch den Werken von Autoren einen größeren Raum ein. Damit erhöht sich die Sichtbarkeit von Autoren zusätzlich.

Wieso, fragen sich kritische BeobachterInnen, ist es eigentlich so schwierig, diesem verhängnisvollen Trend etwas entgegenzusetzen? Tatsache ist, dass die Verlagsprogramme und auch die Wertungshandlungen der Literaturkritik die andauernde Missachtung und Ungleichbehandlung von Frauen in unserer Gesellschaft in klar nachzählbarer Weise spiegeln.

Weitere Erkundigungen, die in den regelmäßig auf- und abschwellenden Kontroversen um den Status der Literaturkritik zu Zeiten der Digitalisierung und der Sozialen Medien immer wieder zu hören sind, lauten sinngemäß: Gibt es wirklich eine ‚Krise der Literaturkritik‘ oder handelt es sich lediglich um jenen selbstreflexiven Pessimismus, der diese Institution des literarischen Lebens seit ihrer Modernisierung im 18. Jahrhundert ohnehin konstant begleitete? Droht die Literaturkritik unter dem monopolistischen Einfluss von Konzernen wie Amazon und angesichts neuartiger Werbemaßnahmen von Verlagen via Instagram zu einem affirmativen Konsumzirkus zu regredieren? Übernehmen nun ahnungslose InfluencerInnen den gesamten Kulturjournalismus? Wird demnächst über Romane nur noch genauso verdinglicht berichtet werden wie über Shampoos? Gibt es etwa bald gar keine unabhängig verfassten Verrisse mehr? War es das jetzt mit dem Print-Zeitungswesen? Kurz: Ist nicht nur die Demokratie längst im Fake-News-Irrsinn untergegangen, sondern auch das Feuilleton, die Literaturkritik und damit das gesamte Abendland?

Einer derjenigen, die in Essays, Zeitungsartikeln und unermüdlichen Twitter-Posts gegen diese allzu apokalyptische Sicht der Dinge und für eine gelassenere, konstruktivere Wahrnehmung der Sozialen Medien argumentieren, ist der Bonner Literaturwissenschaftler Johannes Franzen (@Johannes42). In einem kritischen Artikel zur Weiterführung der einst von Marcel Reich-Ranicki ins Leben gerufenen Fernsehsendung „Das literarische Quartett“ diagnostizierte er kürzlich eine Art konservativer Nostalgie, welche die Unausweichlichkeit des aktuellen medialen Fortschritts willentlich ignoriere:

Man möchte nicht den Literaturpapst zurück, sondern eine Zeit, in der es Literaturpäpste und Großkritiker gab, und in der noch nicht die entfesselte Demokratisierung der Sozialen Medien einer Masse an Laien Einlass in den kulturellen Salon verschafft hat. So kann man dann über den größeren ‚Stellenwert‘ fantasieren, der Literatur früher zukam, ohne sich eingestehen zu müssen, dass die Orte, wo dieser ‚Stellenwert‘ verhandelt wird, sich einfach nur verschoben haben.

Praxeologische Ansichten vergleichbarer Transformationsprozesse in Nordamerika

Wer sich nun schon seit Jahren fragte, was eigentlich die anglophone Welt zu alledem sagt und wie sich diese aktuelle Umbruchsituation umfassender Digitalisierung in Nordamerika darstellt, der greift gespannt zu Phillipa K. Chongs kleiner Studie Inside the Critics’ Circle. Book Reviewing in Uncertain Times. Die Soziologin und Assistenz-Professorin an der kanadischen McMaster University hat dafür 40 Feuilleton-RedakteurInnen und Literatur-RezensentInnen einiger der wichtigsten Zeitungen in den USA, Kanada und Großbritannien interviewt und deren anonymisierte Antworten zu Fragen darüber ausgewertet, wie der Prozess des Rezensierens im Alltag bei ihnen genau verlaufe. Chong möchte in ihrem Buch die soziale Konstruktion von Kritik untersuchen, um eine Soziologie der Bewertung bzw. ein phänomenologisches Porträt der Literaturkritik zu liefern. Die Fragen, die sie ihren professionellen ZeugInnen dazu stellt, sind denkbar banal. Sie sollen ganz einfach beschreiben, was sie ihrer Meinung nach tun, wenn sie ein Buch besprechen, und wie sie persönlich mit der „epistemologischen Unsicherheit“ ihres Bewertungsgeschäftes umgingen.

Chongs praxeologische Untersuchung beginnt mit ernüchternden Nachrichten: Die Rahmenbedingungen für diese besondere Form kulturjournalistischen Schreibens haben sich auch in den USA verschlechtert. Die Autorin stellt eingangs klar, dass nordamerikanische Zeitungen ihre Rezensionsrubriken rigoros zusammengekürzt und Großteile ihrer freien MitarbeiterInnen im Feuilleton bereits entlassen haben – so etwa die Los Angeles Times, die ihren Full-Time Review Staff auf nur vier Personen reduzierte, oder die Chicago Sun-Times, die gleich ihren kompletten Literaturteil strich. Auch in Nordamerika macht man sich zudem Sorgen um die wachsende Konkurrenz der sogenannten Amateur Reviewers bzw. Reader-Reviewers wie bei Amazon.

Mit Pierre Bourdieu definiert Chong das Rezensionswesen zunächst als besonders unwägbares Geschäft kultureller Konsekration: „Book reviewing can be described as going through ‘unsettled times,’ or as experiencing high institutional uncertainty“, stellt die Soziologin fest. Sie verweist dabei aber nicht nur auf die aktuellen Transformationsprozesse, sondern liest diese institutionelle Unsicherheit unter anderem auch daran ab, dass selbst jene Eliten-KritikerInnen, die sie für ihr Buch interviewt hat, vielfach Zweifel daran äußerten, ob sie überhaupt als professionelle RezensentInnen gelten könnten. So amüsierte die Forscherin eine ihrer offenbar prominenteren anonymen Gesprächspartnerinnen mit dem Hinweis, ihr komme als Kritikerin eine geschmacksbildende Rolle zu: „When you say you think of me as a tastemaker – that just makes me kind of laugh. […] It would be lots of fun if I could say, ‘Get away from me! I’m a tastemaker!’“

Vieles, was Chong auf der Basis ihrer Interview-Recherchen als Besonderheit der Literaturkritik herausarbeitet, ist jedoch in der deutschsprachigen Forschung seit Jahrzehnten schon sehr viel detaillierter dargestellt worden. Dass Rezensionen im professionellen Feuilleton nichts mit Werbung zu tun haben dürfen und auch nicht nur als bloße Gebrauchstexte funktionieren, die ihren LeserInnen bei der simplen Entscheidungsfindung helfen sollen, ob sie ein Buch kaufen wollen oder nicht, ist beileibe nichts Neues. Chong unterstreicht die alte Erkenntnis, dass Literaturkritiken Teil einer kulturellen Selbstverständigung sind, bei der es um sehr viel mehr geht als um bloße Konsumartikel. Wer das Feuilleton wertschätze, so Chong, lese es eben nicht nur, um sich zu entscheiden, welches Buch man als nächstes lesen solle. Vielmehr komme der Rezension ein autonomer kultureller Wert an sich zu: „In this way, one can see how the book review, as its own form of writing, is a cultural object in and of itself.“ KritikerInnen seien damit autarke AkteurInnen im Kulturbetrieb und nicht nur VerfasserInnen sekundärer Texte – „cultural producers in their own right“. Man lese ihre Texte also vor allem auch deshalb, weil man an einem breiteren kulturellen Gespräch teilnehmen wolle, das einen Genuss an sich darstelle, als „general information about what ideas are circulating as part of a broader cultural conversation and as a form of leisure reading“.

Wenn jedoch Chong aus ihren Interviews die Erkenntnis destilliert, dass Kritik eine „form of literature in and of itself“ sei, so macht sie dies, ohne sich der jahrhundertelangen Diskussionen über diese Fragen bewusst zu sein, wie sie in der deutschsprachigen Literaturgeschichte spätestens seit der Romantik im frühen 19. Jahrhundert aufkamen, als Friedrich Schlegel die Kritik in ihrer schöpferischen Metaebene zur Poesie adelte, oder auch bei Theaterkritikern wie Alfred Kerr im 20. Jahrhundert, der den Literaturkritiker unter Berufung auf Schlegel und Oscar Wilde zum Super-Künstler erhob. Eine zumindest ansatzweise historische Tiefenschärfe im Blick auf die Geschichte der anglophonen Literaturkritik hätte Chongs Studie kaum geschadet. Ohne jedwede historische Kontextualisierung des heutigen Rezensionswesens in den USA mit seiner früheren Geschichte im 19. und im 20. Jahrhundert hängen Chongs Analysen seltsam in der Luft. Kann man solch eine Untersuchung, die immerhin in der Princeton University Press erschien, überhaupt schreiben, indem man sich tatsächlich auf nichts weiter als auf 40 aktuelle Interviews stützt?

Stattdessen wird diese Studie von einem vernehmlichen Erstaunen darüber dominiert, dass KritikerInnen ihre Texte schrieben, ohne sich dabei auf eine klare berufliche Identität berufen zu können, geschweige denn damit nennenswerte Summen zu verdienen. Dass LiteraturkritikerInnen weniger einnähmen als VerkäuferInnen bei der nordamerikanischen Supermarktkette 7-Eleven, wie einer von Chongs Gesprächspartnern scherzt, ihren Job aber dennoch gerne ausübten, führt bei der Autorin zu einigem Kopfzerbrechen. Angaben zur konkreten jüngeren Honorarentwicklung in Nordamerika hat sie jedoch auch nicht recherchiert.

Die Angst vor Verrissen und die Suche nach einem guten ‚Match‘

Was an den Ergebnissen von Chongs Studie jedoch noch mehr irritiert, ist die angeblich weit verbreitete Angst unter nordamerikanischen KritikerInnen, negative Besprechungen zu schreiben. Zu allererst verblüfft die Faustregel der interviewten RedakteurInnen, RezensentInnen vor allem danach auszusuchen, ob sie eine wohlwollende Kritik über das zu besprechende Buch zu schreiben bereit seien. Es werde stets nach jemandem gefahndet, „who would appreciate“ bzw. „who is in a position to like the book“, denn: „We never want to set up a book.“ Diese Angabe aus einer der befragten US-Redaktionen erstaunt.

Es sei, mit anderen Worten, niemals der Plan, ein Buch herunterzumachen. KritikerInnen gelten in diesem Sinne nur dann als „a good match“, wenn sie das zur Rede stehende Buch auch ‚mögen‘ können. Dieses Auswahlkriterium sei zentral bei der Vermeidung dessen, was ein befragter Redakteur „boilerplate stuff“ nennt, also phrasenhafte Besprechungen, die sich mittels vorgestanzter Formulierungen einer originellen Bewertung entziehen. Man halte deshalb stets nach RezensentInnen Ausschau, die selbst bereits ähnliche Bücher wie die zu besprechende Publikation geschrieben hätten und deshalb in der Lage seien, das Thema wertzuschätzen und kompetent darüber zu urteilen.

Aus der Perspektive der deutschsprachigen Redaktionspraxis lässt sich diese Regel höchstens halb bestätigen. Dass RezensentInnen eine gewisse Expertise mitbringen sollten, um ein Buch angemessen besprechen zu können, leuchtet ein – weniger jedoch die Maxime, dass dies auch möglichst zu einer lobenden Bewertung der Publikation führen solle. Eher gilt die redaktionelle Sorge im deutschsprachigen Literaturbetrieb der allgegenwärtigen Gefahr von Gefälligkeitsrezensionen und der geradezu detektivischen Vermeidung womöglich verheimlichter Befangenheiten bei den KritikerInnen. Die Gefahr eines verdeckten Werbeeinsatzes der KritikerInnen für eine protegierte Person ist schließlich erst dann wirklich gebannt, wenn redaktionelle Sicherheit darüber herrscht, dass die RezensentInnen auch in der Lage wären, das zur Bewertung vorliegende Buch gegebenenfalls rücksichtslos zu verreißen. Auf der anderen Seite müssen auch Schmähkritiken vermieden werden, die zumal dann entstehen, wenn ein persönliches Konkurrenzverhältnis zwischen RezensentIn und AutorIn besteht.

Chongs Umfrage erweckt jedoch den Eindruck, dass die von ihr geschilderte amerikanische Praxis, nach ‚verwandten‘ AutorInnen zur Besprechung gewisser literarischer Genres Ausschau zu halten, eine Reihe unbedachter Probleme erzeugt. So kommt die Soziologin zu dem verstörenden Ergebnis, dass die von ihr konsultierten KritikerInnen aus Angst vor Racheakten im Literaturbetrieb tatsächlich eher versuchten, positive oder nachsichtige Rezensionen zu verfassen, „to play nice“. Befremdlich ist dabei nicht zuletzt das durch Chongs Umfrage kolportierte ungeschriebene Literaturkritik-Gesetz in den USA, wenn überhaupt, nur Stars und Bestseller-AutorInnen zu verreißen, denen eine solche negative Kritik finanziell nichts anhaben könne, niemals aber noch weitgehend unbekannte AutorInnen harscher Kritik auszusetzen – „no punching down“. Es besteht Anlass zur Befürchtung, dass diese progressiv gedachte Maßnahme gerade jene Gesetze des kapitalistischen Marktes, denen sie entgegenarbeiten soll, unfreiwillig befördert.

Auch Chong macht in ihrer ansatzweisen Analyse dieser seltsamen Sitte skeptisch darauf aufmerksam, dass dieser Brauch einige Fragen aufwerfe und nicht unbedingt zu dem intendierten Ergebnis führen müsse, lediglich überschätzte Betriebsnudeln abzustrafen und verletzliche junge AutorInnen generell in Schutz zu nehmen. Der Soziologin ist durchaus bewusst, dass es im Literaturbetrieb weniger darauf ankommt, ob Rezensionen negativ oder positiv ausfallen, sondern ob sie Aufmerksamkeit erzeugen. Nicht nur, dass Verrisse für sehr viel größeren Wirbel sorgen können als nichtssagende freundliche „Boilerplate“-Besprechungen und damit den Großverdienern des Betriebs wider Willen umso mehr Presse-Echo zu vermitteln vermögen als eine schlichte Ignorierung ihrer ohnehin überrepräsentierten Publikationen – die konsequente Schonung von DebütantInnen kann zudem den Effekt haben, ihnen eine objektive, konstruktive Rezeption zu verweigern und sie somit im Ansatz zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen.

„No Punching Down“ als besonderes Verhängnis weiblichen Schreibens?

Wenn es zudem stimmt, was Chong an einer Stelle nur kurz erwähnt – dass nämlich männliche amerikanische Kritiker es aufgrund der genannten Regel generell lieber gleich ablehnten, Debütantinnen zu rezensieren, um gar nicht erst in die Verlegenheit zu kommen, möglicherweise negativ über deren Veröffentlichungen zu denken, dies aber dann nicht schreiben zu dürfen –, so hätte die Interviewerin wie nebenbei einen fatalen Faktor für die Ungleichbehandlung der Geschlechter bzw. für die Missachtung von Autorinnen durch die männlichen Gatekeeper des Feuilletons ausfindig gemacht. Die durch die deutsche Initiative #frauenzählen angestoßene kritische Frage nach den Mechanismen dieser anhaltenden Diskriminierung hätte hier, im Blick auf die US-Verhältnisse, zumindest eine Teil-Antwort gefunden: Ist es etwa eine falsch verstandene und zum Ritus geronnene Galanterie von Macho-Kritikern, die letztlich dazu führt, dass sie weniger oder gar keine Autorinnen rezensieren, weil sie nicht ‚nach unten treten‘ wollen? Diese implizit in der Regel des „no punching down“ zum Ausdruck gebrachte (Geschlechter-)Hierarchie hat mit objektiver Literaturkritik nichts zu tun. Diese sollte sich schließlich jede Publikation ohne Scheuklappen vornehmen und sie ehrlich bewerten, egal von wem sie stammt.

Es ist eine der Schwächen von Chongs Studie, dass sie solche potenziell bedeutsamen Spuren nicht weiterverfolgt und kritischer analysiert. Auch dem in Inside the Critics’ Circle aufscheinenden journalistischen Widerspruch, Befangenheiten strikt vermeiden zu wollen, zugleich aber am liebsten SchriftstellerInnen zu dem in der Literaturkritik endemischen Rollenwechsel zu überreden, doch auch einmal als KritikerInnen zu agieren und Genres zu rezensieren, die sie in ihren Romanen selbst bedienen, wäre genauer nachzugehen gewesen. Schließlich erzeugt gerade das dadurch wachsende Risiko, kritisch über KollegInnen urteilen zu sollen, die ähnliche Buchmarktnischen bedienen, eine hausgemachte publizistische Problemsituation. Diese könnten schließlich womöglich einmal in einer Buchpreis-Jury sitzen, um dort zum insgeheimen Gegenangriff auszuholen, oder sich durch Verrisse späterer Bücher ihrer KritikerInnen für die frühere literaturkritische Degradierung rächen. Die redaktionelle Strategie zur Vermeidung diplomatischer Belanglosigkeiten würde damit zu einer Art von self-fulfilling prophecy des nordamerikanischen Literaturbetriebs: Ausgerechnet das perfekte „Match“ führte damit eher zur akuten Befangenheit der RezensentInnen – oder gar zu „boilerplate stuff“ im Blatt.

Man muss allerdings wohl hinzufügen: Wenn all dies denn überhaupt so stimmt. Die im Grunde unverständliche Anonymisierung der von Chong interviewten RedakteurInnen und AutorInnen macht die Lektüre dieser Publikation nicht nur streckenweise zäh, weil viele der zitierten Aussagen banal klingen. Gerne hätte man doch mehr darüber erfahren, wer hier überhaupt spricht. Wieso sollten öffentliche Personen, die in herausgehobenen Feuilleton-Redaktionen sitzen oder Kritiken für weltweit gelesene Zeitungen wie die New York Times verfassen, eigentlich gegenüber einer Soziologin nicht unter Angabe ihres Klarnamens über ihre Arbeit sprechen dürfen? So aber werfen die sporadisch in der Untersuchung zitierten Antworten der AkteurInnen im literarischen Feld eher die Frage auf, inwiefern sie eigentlich den Tatsachen entsprechen oder ob sie im Schutze der Anonymität nicht doch schlichtweg geflunkert sein könnten, da ihre Angaben nicht genauer zurückverfolgt werden können. 

Mangelnde Hinterfragung problematischer Statements

Alles in allem handelt es sich bei Inside the Critics’ Circle um eine soziologische Fingerübung, die zwar ein dringend zu behebendes Desiderat behandelt, mangels literaturwissenschaftlicher Expertise und einer offenbar immer noch dürftigen englischsprachigen Forschungslage zum Rezensionswesen der Gegenwart jedoch schlicht zu kurz greift. Chongs Buch hätte eine kritische Reflexion zu leisten, die ihren InterviewpartnerInnen teils noch abzugehen scheint. Die zu Beginn dieser Rezension referierten Fragen aus den jüngeren deutschsprachigen Literaturkritik-Debatten tauchen bei Chongs InterviewpartnerInnen z.B. kaum und nur in fragwürdiger Weise auf, etwa wenn da BloggerInnen „as a general rule“ als „kind of dump“ abgetan oder gar mit misogynem Zungenschlag als „bunch of moms“ verspottet werden. Wenn das Phänomen der Laienrezenions-Foren jedoch von Seiten der professionellen Kritiker dergestalt als „these mom and pop sort of blogs“ abgetan werden, als „a WordPress kind of thing“, so sollte dies in Chongs Studie kritischer aufgegriffen und differenzierter analysiert werden, anstatt es einfach kommentarlos so stehenzulassen.

Der in Deutschland im Spiegel und auf Twitter von Berit Glanz (@beritmiriam) und Nicole Seifert (@nachtundtagblog) anhand der mangelnden Repräsentation von Frauen in den deutschsprachigen Programmvorschauen der Verlage diskutierte Befund einer fehlenden Gleichberechtigung von Frauen im Literaturbetrieb dürfte auch in den USA mit ähnlich fatalen Mechanismen zusammenhängen: Das misogyne Labeling durchdringt den gesamten Literaturbetrieb und spiegelt sich u.a. auch im Rezensionsverhalten männlicher Kritiker. Wenn einmal eine Autorin auftaucht, lässt man als Mann offenbar lieber die Finger von ihrer Publikation, um Gender-Unwägbarkeiten im unsicheren Geschäft der literaturkritischen Konsekration aus dem Weg zu gehen. Dies hätte zumindest Chongs These sein können. Doch obwohl sie selbst auf betreffende Äußerungen ihrer Interviewpartner gestoßen ist und diese knapp zitiert, beschäftigt sich die Wissenschaftlerin an keiner Stelle ihrer Studie eingehender mit diesem Problem.

Was bleibt, sind eine Reihe banger Fragen: Stimmt es etwa wirklich, dass in der professionellen nordamerikanischen Kritik so lächerliche und kontraproduktive Konsum-Rücksichten wie Spoiler-Alerts oder gar das angebliche Tabu, als KritikerIn beim Verfassen einer Rezension andere bereits vorliegende Besprechungen zur Kenntnis zu nehmen, allgemein ernstgenommen werden? Das wären tatsächlich gravierende Unterschiede zum deutschsprachigen Kodex, die stereotypen Vorurteilen gegenüber einer generellen größeren Markthörigkeit des US-Literaturbetriebs Nahrung gäben. Durch die Lektüre von Kritiken in renommierten Periodika wie dem New York Review of Books oder der New York Times, die der deutschsprachigen Literaturkritik tatsächlich immer noch als Vorbild und Inspiration dienen können, werden diese Verdachtsmomente, denen Chong kaum weiter auf den Grund geht, jedenfalls nicht bestätigt.  

Titelbild

Phillipa K. Chong: Inside the Critics’ Circle. Book Reviewing in Uncertain Times.
Princeton University Press, Princeton, New Jersey 2020.
192 Seiten, 26,98 EUR.
ISBN-13: 9780691167466

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