Hölderlin in Homburg

Sein Spätwerk im Kontext seiner Krankheit (1981)

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Spätwerke in Literatur, Musik und Malerei haben ihren eigenen Stil.[1] Diese Auffassung ist heute in den Kunstwissenschaften kaum noch umstritten. Der Stilwandel, der sich damit verbindet, läßt nach den Ursachen solchen Wandels fragen. Man erklärt ihn häufig aus dem biologischen Lebensalter oder bringt ihn damit in Zusammenhang. Von Altersstil oder Alterskunst wird gesprochen. Nicht selten werden Begriffe wie „Spätwerk“ und ,,Alterskunst“ synonym gebraucht. Es ist in jedem Fall eine Vielzahl von Faktoren, die man zur Erklärung heranzieht. Das Spätwerk Hölderlins ist ein Werk sui generis und eigentlich unvergleichbar mit anderen. Von Alterskunst kann nicht entfernt die Rede sein; denn es ist ein Dreißigjähriger, mit dem wir es zu tun haben. Auch zeitgenössische Ereignisse, denen eine stilverändernde Bedeutung zukommen könnte, sind nicht zu ermitteln; und daß sich das Späte dieses Spätwerks aus der Beschäftigung mit einem Dichter wie Pindar erklären soll, widerspricht jedem geschichtlichen Sinn. Im Grunde sind uns die Literarhistoriker die Antworten auf solche Fragen schuldig geblieben. Da ist es so abwegig keinesfalls, die Krankheit in die Erörterung einzubeziehen, wie es hier und da schon geschehen ist, zumeist ohne nähere Begründung. Gedanken dieser Art findet man bei Wilhelm Dilthey ausgesprochen. An der Grenze des Wahnsinns, so Dilthey, werde der letzte Schritt seiner künstlerischen Entwicklung und seiner Sprache getan. ,,Es ist darin eine eigene Mischung von krankhaften Zügen mit dem Gefühl des lyrischen Genies für einen neuen Stil“, heißt es an anderer Stelle seines berühmten Essays.[2] Das ist nicht herabsetzend gemeint. Noch weniger läßt die Tübinger Rede des Schriftstellers Martin Walser an eine Diskriminierung denken, wenn er beiläufig bemerkt: „Die Krankheit gehörte so sehr zu den Bedingungen seines Stils, daß es keinen Sinn hat, sich auch da noch pseudohölderlinisch auszudrücken und zu sagen, er sei in eine ,Umnachtung‘ gefallen, gar noch in eine seelische“.[3]

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Um welche Krankheit aber handelt es sich? Ich werde mich hüten, auf eine solche Frage mit einem dürren Begriff zu antworten; denn es ist ein überaus komplexes Geschehen, um das es geht, und es sind sprachliche Probleme nicht zuletzt, die eine vorurteilsfreie Beschreibung erschweren. Mit Begriffen wie Dementia praecox, Spaltungsirresein und letztlich auch mit dem 1911 von Eugen Bleuler eingeführten Begriff der Schizophrenie verbindet sich ein zumeist diskriminierender Sinn. Das gilt gleichermaßen für die aus dem Wortschatz des 19. Jahrhunderts stammende Vokabel der Geisteskrankheit. Ein unlängst erschienener Aufsatz in einer psychiatrischen Zeitschrift (von Gerd Huber) bringt es schon im Titel zum Ausdruck: ,,Neuere Ansätze zur Überwindung des Mythos von den sog. Geisteskrankheiten“ ist er überschrieben. Der Verfasser hat mit der neuartigen Antipsychiatrie in unserem Land und in anderen Ländern nichts zu tun. Es handelt sich im Gegenteil um eine Bonner Antrittsvorlesung, in der für Abschaffung dieses Begriffs mit guten Gründen plädiert wird.[4] Wenn daher Pierre Bertaux seinem Buch die These voransetzt „Hölderlin war nicht geisteskrank“, so ist ihr auf keinen Fall mit den Begriffen zu widersprechen, die hier gebraucht werden. Aber zu widersprechen ist ihr schon! Psychische Krankheiten – dieser Ausdruck hat den Vorteil, relativ wertneutral zu sein – sind nicht als Schuld anzurechnen oder mit Vorwürfen zu belasten. Sie bedürfen daher auch keines Anwaltes, sondern des verstehenden Betrachters in erster Linie, wie es ihn zumal in den Humanwissenshaften gibt. An solchem Verstehen hat es die ältere medizinhistorische Forschung fehlen lassen, wenn sie sich mit Hölderlin befaßte. Die erste, 1909 von Wilhelm Lange veröffentlichte Pathographie des Dichters, im Ton noch vielfach gehässig, war schon zu ihrer Zeit veraltet, wenn man sie mit dem Forschungsstand vergleicht, wie er sich in den gleichzeitigen Arbeiten Eugen Bleulers widerspiegelt.[5] Diese Pathographie ist von der ersten bis zur letzten Seite vom Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts geprägt – wie die Schriften des Hölderlinforschers Franz Zinkernagel, dem das Buch nicht ohne Grund gewidmet war. Aber Verstehen oder verstehende Psychologie schließen nicht aus, daß man Krankheitsbefunde anerkennt. Wenn sich Hölderlin in seiner Tübinger Zeit Scardanelli nennt oder ein 1842 entstandenes Gedicht mit dem Datum des 24. Januar 1676 versieht, so kann man den Namen – wie der Linguist Roman Jakobson – mit Methoden der strukturalen Lautforschung erläutern und damit der Unverständlichkeit entziehen.[6] Aber Name und Datum hören deswegen nicht auf, Symptome einer Krankheit anzuzeigen; und wie fließend auch immer Krankheit oder Normalität heute aufzufassen sind, so sind doch nicht alle Grenzen zu verwischen. Wenn ein Forscher wie Klaus Conrad in seinem Buch über die beginnende Schizophrenie ausführt, daß dieser Begriff selbst förmlich ins Gleiten geraten sei, so meint er mit Gewißheit nicht, daß nun alles gleitet.[7] Es gibt durchaus Ergebnisse und Einsichten von gewisser Verläßlichkeit. Wir wollen einige anführen.

Im Bereich psychischer Krankheiten – das wird kaum ernsthaft bestritten – gibt es Verläufe prozeßhaften Charakters. Damit ist nicht gesagt, daß sich ein solches Geschehen mit unaufhaltsamer Geradlinigkeit von Anfang bis Ende entwickelt. Es gibt Stagnationen, Intervalle und gelegentliche Rückbildungen; es gibt partielle und volle Remissionen. Aber bei fortschreitenden Prozessen sind Entfernungen von der früheren Bewußtseinslage unverkennbar. Das aber heißt zugleich, daß nicht mit Sicherheit auszumachen ist, von welchem Zeitpunkt an wir ein solches Geschehen als ein krankhaftes zu verstehen haben. Es ist daher ganz unmöglich, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt alles als gesund und danach alles als krank zu bezeichnen. Vielmehr gibt es Krankes zuvor und Gesundes danach. Es sind die Übergänge, besonders in den ersten Stadien solcher Verläufe, die exakte Aussagen oder genaue Diagnosen erschweren. Ein Begriff, der solche Übergänge bis in unsere Alltagssprache hinein belegt, ist derjenige der Depression. Sie kann ganz gewiß etwas sozusagen Alltägliches sein, das kein Aufhebens verdient und die Ausstellung eines Krankenscheins nicht erforderlich macht, weil sie so schnell wieder vergeht, wie sie gekommen ist. Aber sie kann auch etwas ganz anderes sein: eine so schwere Beeinträchtigung aller Lebensformen, daß sich jede Verharmlosung verbietet. In solchen Fällen ist die Bezeichnung des Geschehens als eines krankhaften Geschehens keine Diskriminierung, sondern ein Ausdruck der Achtung und der Zuwendung, die wir den Betroffenen schulden. In den prozeßhaften Verläufen, von denen hier die Rede ist, sind Depressionen eine fast durchgängige, das Dasein erschütternde Begleiterscheinung, ehe der Krankheitscharakter manifest wird. Den frühen Stadien kommt daher eine besondere Bedeutung zu – gleichviel, ob wir sie umgangssprachlich als Vorboten der Krankheit oder fachwissenschaftlich (wie K. Conrad) mit dem aus der Bühnensprache entlehnten Terminus des Tremas benennen.[8] Das Eigentümliche solcher Vorphasen ist ihre Ambivalenz. Denn neben den genannten Begleiterscheinungen wird noch anderes konstatiert: eine nicht selten gesteigerte Produktivität des künstlerischen Schaffens und eine Erhöhung der Schaffensfreude. „Bemerkenswert ist die in den milderen Anfangsstadien oft gesteigerte Empfänglichkeit aesthetischer Eindrücke“, so liest man es in einem angesehenen Handbuch der Psychiatrie (von Hans Jörg Weitbrecht).[9] Karl Jaspers, dessen bekannte Schrift über Strindberg und van Gogh aus heutiger Sicht einige Fehler enthält, aber eine voreilige Erledigung keinesfalls verdient, hat die geschärfte Wahrnehmung für ästhetische Eindrücke überzeugend beschrieben: „Nicht selten wird berichtet, wie im Beginn der Erkrankung die Menschen so erschütternd auf dem Klavier spielten, daß die Hörenden so etwas nie erlebt zu haben bewußt sind“.[10] Störungen des Denkens mögen auftreten, aber das Denkvermögen setzt nicht aus. Mit wachem Bewußtsein werden nicht selten Bedrohungen des Bewußtseins wahrgenommen.

Spricht man von einem Krankheitsgeschehen im Leben Hölderlins, so hat man an ein solches zu denken: an einen prozeßhaften Verlauf als einen umgreifenden Zusammenhang. Auf das Ganze aller Phasen und Stadien hat man zu sehen. Daher ist es bedenklich, einzelne Erscheinungen oder Dokumente aus diesem Zusammenhang herauszulösen und zu isolieren, um das Geschehen als ein krankhaftes bestätigt zu finden oder zu widerlegen, wie es Pierre Bertaux in seinem Buch tut.[11] In der Zuordnung der verschiedenen Zeitabschnitte zum Ganzen des Verlaufs erhält die Vorphase zumal im Falle Hölderlins erhöhtes Gewicht, und es könnte wohl sein, daß manche Vorgänge hier und da deutlicher auszusprechen sind, als es geschehen ist. In den Erläuterungen zur Heidelberg-Ode wird meistens die Flucht aus Jena erörtert. Adolf Beck beschreibt sie wie folgt: „Mit ihr entzog sich Hölderlin im Frühsommer 1795 der Kälte des naturfeindlichen Vernunftidealismus, dem Übergewichte Schillers und der Gewaltsamkeit Fichtes, der die Naturinnigkeit seiner Jugend gestört und damit den Seinsgrund seines Lebens und Schaffens erschüttert hatte“.[12] Damit wird nichts Unzutreffendes behauptet. Aber die Wendung in den Vorstufen des Gedichts vom vertriebenen Wanderer, der vor Menschen und Büchern floh, deutet noch auf anderes hin. Sie deutet hin auf eine Depression beträchtlichen Ausmaßes, die ihrerseits auf den Zusammenhang verweist, der hier in Frage steht. Als Jenaer Depression hat sie Jean Laplanche in seinem Buch Hölderlin et la question du père beschrieben.[13] Alle Erklärungen dieser Flucht aus der konkreten Lebensgeschichte heraus, im Sinne einer verstehenden Psychologie, widerlegen nicht die Annahme, daß wir es im Zeitraum dieser Vorphase mit Signalen und Symptomen zu tun haben, die eines Tages in ein manifest krankhaftes Geschehen prozeßhaften Charakters einmünden. Diese Vorgänge in Abrede zu stellen, hieße leugnen, was Hölderlin selbst partiell schon sehr früh wahrgenommen hat. Dafür gibt es Zeugnisse, die für sich selbst sprechen. Bereits der Einundzwanzigjährige erkennt, wie es mit ihm steht. Er spricht sich hierüber in einem Brief an Neuffer vom 28. November 1791 aus: ,Bruder! mir ist, seit ich wieder hier bin, als hätten meine Lieben meine beste Kraft mit sich fort, ich bin unbeschreiblich dumm und indolent. Selten giebts lucida intervalla […]“. Hölderlin fährt fort: „Mit dem Hymnus an die Menschheit bin ich bald zu Ende. Aber er ist eben ein Werk der hellen Intervalle, und die sind noch lange nicht klarer Himmel!“ (VI, 70).[14] Die luziden Intervalle sind ein Fachausdruck der modernen Psychiatrie. Man bezeichnet damit, vor allem im Bereich der phasenhaften und zyklothymen Krankheitsformen, die weithin symptomfreie Zeit zwischen zwei solcher Phasen. Natürlich gebraucht Hölderlin nicht den Terminus einer Fachwissenschaft, die es damals noch gar nicht gab. Doch fällt auf, daß er ihn so gebraucht, wie man ihn in der heutigen Psychiatrie gebraucht. Er macht sich Gedanken über seinen Hang zur Trauer und bemerkt (im Juni 1799): „Ich sehe ziemlich klar über mein ganzes Leben, fast bis in die früheste Jugend zurük […]“ (VI, 333). Aber er fragt auch: „Kann es mir helfen, daß ich es sehe?“ (VI, 290) Erst recht deutet nach den Anfechtungen des Sommers 1802 die Wendung im Brief an Boehlendorff auf ein solches Wissen und Vorherwissen hin: ,,und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen“ (VI, 432). Wir dürfen folgern, daß Hölderlin sein Spätwerk im Bewußtsein der Bedrohungen geschaffen hat, die seiner Dichtung im eigentlichen Sinne des Wortes zugrundeliegen.

Aber mit dem Spätwerk ist in der neueren Forschung etwas sehr Bestimmtes gemeint. Herz, Kern und Gipfel, sein eigentliches Vermächtnis: das sind nach Hellingraths berühmter Vorrede die späten Gedichte vor dem sogenannten Zusammenbruch.[15] „Wer vom Spätwerk Hölderlins spricht, meint jene Hymnen in freien Rhythmen, zu deren bekanntesten Patmos, Der Einzige, Friedensfeier gehören“, entscheidet Peter Szondi, noch ganz im Banne Hellingraths.[16] Alle diese Gedichte sind nicht in Homburg entstanden, sondern andernorts: in Stuttgart, Nürtingen oder Hauptwil. Doch handelt es sich, wie hoffentlich gesagt werden darf, um eine recht eigenwillige Definition, wiewohl sie seit Hellingrath die geläufige ist; denn es ist bedenklich, ein Spätwerk, dem ein eigener Stil zuerkannt werden soll, auf einen so schmalen Zeitraum einzuschränken und auf einen Teil dieses Werkes noch obendrein; schließlich gibt es in diesen Jahren noch andere Gedichtformen; die Übersetzungen der sophokleischen Tragödien nicht zu vergessen, die in das vom hymnischen Stil geprägte ,,Weltbild“ der neueren Forschung nicht recht zu passen scheinen. Wenn man aber das während des ersten Homburger Aufenthalts entstandene Werk – die Gedichte, Aufsätze und den Empedokles – dem Spätwerk nicht zurechnen will, so besteht heute doch weithin Einigkeit darin, daß sie es vorbereiten. Seine Grundlegung geschieht hier. Mit dem zweiten Aufenthalt, von 1804 bis 1806, geht die Zeit des Spätwerks ihrem Ende zu, so daß Auftakt und Ausklang mit den Aufenthalten in dieser Stadt als ihren zeitlichen Grenzen bezeichnet sind – nicht zufällig, wird man ergänzen dürfen; denn derjenige, der Hölderlins Verweilen in Homburg beidemale ermöglicht hat, ist kein anderer als Isaak von Sinclair, der erste Beamte am Homburger Hof. Er hat nicht wenig dazu beigetragen, daß dieses uns noch immer faszinierende Spätwerk entstehen konnte – allen widrigen Umständen zum Trotz.

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Doch wird man an solche Umstände nicht schon erinnert, wenn man sich anschickt, die Lebenswelt des ersten Homburger Aufenthalts zu beschreiben. Es gibt Züge in den Zeugnissen und Briefen, die fast an eine Idylle denken lassen; und eine solche im eigentlichen Sinn, eine Idylle in literarischer Form, entsteht hier in der Tat: das Gedicht Emilie vor ihrem Brauttag.[17] Zum erstenmal ist es Hölderlin vergönnt, von den lästigen Verpflichtungen einer Hofmeistertätigkeit befreit zu leben. Unabhängigkeit, aber nach allen Seiten hin, ist das Ziel seiner Wünsche; und hier, wenn irgendwo, sieht er sich diesem Ziel nahe. Verlangen nach Unabhängigkeit wird gegenüber der Mutter betont und gegenüber Isaak von Sinclair nicht verschwiegen. Im Gedicht An Eduard, aber eigentlich in allen Gedichten, die politisches Handeln mit dem dichterischen Tun verknüpfen, kommt es zum Ausdruck. Zwar gilt es den Schmerz der Trennung von der Geliebten, von Susette Gontard, auszuhalten und durchzuhalten. Aber noch sieht man sich von Zeit zu Zeit, und Briefe – herrliche Briefe! –werden gewechselt. Hier auch zum erstenmal erhält die eigene Poesie in Verbindung mit der politischen Tätigkeit der Freunde eine Bedeutung, die sie zuvor nicht besaß. Die Teilnahme am Rastatter Kongreß im November 1798 und die Bekanntschaft mit republikanisch gesinnten Vertretern der württembergischen Landstände bestärken ihn in der Hoffnung baldiger Veränderungen im eigenen Vaterland. Unter diesen Republikanern ist der Ludwigsburger Bürgermeister Baz dem radikalen Flügel der Gruppe zuzuzählen; mit Sinclair stand er in engstem Kontakt. Aber geschätzt über alles sind die Freunde aus der Jenaer Zeit. „Der eigentliche Gewinn, den mir bis jezt der hiesige Aufenthalt gegeben hat, sind einige junge Männer voll Geist und reinen Triebs […]“, teilt er Ende November, noch aus Rastatt, dem Bruder mit (VI, 295). Muhrbeck, Horn und Pommeresche werden vor anderen genannt. Einige von ihnen, wie Muhrbeck und Boehlendorff, halten sich im Frühjahr 1799 mehrere Wochen in Homburg auf. Das Volk in Gärung zu bringen, damit es aus seinem Schlummer erwacht, ist ihr gemeinsames Ziel: „Die Völker schwiegen, schlummerten, da sahe / Das Schiksaal, daß sie nicht entschliefen …“, heißt es in einem Gedichtentwurf Hölderlins.[18] Diese Homburger Hofdemokraten, wie man sie nennt, als Revolutionsschwärmer zu verkleinern, besteht nach allem, was wir über sie wissen, kein Grund, und mit der Familie des Homburger Landgrafen verträgt sich solcher Republikanismus nicht schlecht.[19] Bessere politische Verhältnisse als die hiesigen waren um diese Zeit, was Aufklärung, Konzilianz und Liberalität angeht, in Deutschland kaum zu finden. Hölderlin war sich dessen bewußt und spricht es sogleich im ersten seiner Homburger Briefe aus: „Die Familie des Landgrafen besteht aus ächtedeln Menschen, die sich durch ihre Gesinnungen und ihre Lebensart von andern ihrer Klasse ganz auffallend auszeichnen“ (VI, 284).

Die gedankliche Durchdringung erlebter Liebe und die politischen Bestrebungen der Homburger Freunde beanspruchen ihn nachhaltig. Das Nebeneinander beider Themenbereiche kommt seiner Dichtung zugute. In nicht wenigen Gedichten seit der Homburger Zeit werden sie miteinander verknüpft, dem Vereinigungsdenken der zeitgenössischen Philosophie analog. Die Seele der Liebenden und die erblühende Natur sind in dem Gedicht mit der Überschrift Die Liebedie Zeichen schönerer Zeit – auf dem Hintergrund eines menschlichen Lebens, das vom Zwang knechtischer Sorge bestimmt wird. Liebeslyrik und politische Lyrik durchdringen sich – wie in der Schlußstrophe des genannten Gedichts:

„Sprache der Liebenden
Sei die Sprache des Landes,
Ihre Seele der Laut des Volks!“ (II, 21).  

In anderen Gedichten werden Dichtertum und politisches Wirken im Vollzug des Gedichts vereint. In Homburg zum erstenmal ist Dichtung die ganz ihn ausfüllende Beschäftigung, sein eigentlicher Beruf. Davon handelt die der Prinzessin Auguste gewidmete Ode mit dem vielzitierten Vers: ,,Beruf ist mirs zu rühmen Höhers …“ (I, 312). Die ,,Verfahrungsweise der Dichtkunst“, ihre Erscheinungsformen und ihre Unterschiede, werden in Aufsätzen zu klären versucht. Die philosophische Grundlegung des eigenen Tuns wird vorangetrieben; und mehr noch wird es in seiner religiösen Bedeutung erkannt. Von einer Theologisierung des Dichteramts könnte man sprechen. Vor allem gegenüber der Mutter, die ihn gern und bald in einem Pfarramt sähe, wird der religiöse Sinn der Dichtung nachdrücklich betont: wer seine Kunst einem Amt aufopfere, der sündige gegen seine von Gott gegebene natürliche Gabe, führt Hölderlin aus (VI, 312). Der Dichtung sei es eigen, so lesen wir es andernorts, Götter und Menschen näher zu bringen, und insofern sie solches vermag, könne sie ein heiterer Gottesdienst genannt werden (VI, 382). Zur Sinngebung des Dichterberufs gesellt sich der dichterische Ertrag dieser Zeit; er ist beträchtlich. Das große und ausgreifende Gedicht Der Archipelagus, noch in Homburg entstanden, bezeugt es eindrucksvoI1. So könnte sich der Eindruck eines im Ganzen idyllischen Daseins wohl befestigen. Mehrere Briefe, die seine Freude an der Landschaft der Homburger Umwelt zum Ausdruck bringen, scheinen es zu bestätigen: „das Städtchen liegt am Gebirg, und Wälder und geschmakvolle Anlagen, liegen rings herum; ich wohne gegen das Feld hinaus, habe Gärten vor dem Fenster und einen Hügel mit Eichbäumen, und kaum ein paar Schritte in ein schönes Wiesthal. Da geh‘ ich dann hinaus wenn ich von meiner Arbeit müde bin, steige auf den Hügel und seze mich in die Sonne, und sehe über Frankfurt in die weiten Fernen hinaus, und diese unschuldigen Augenblike geben mir dann wieder Muth u. Kraft zu leben und zu schaffen“ (VI, 316). Aber die lichte Seite, wenn es sich denn um eine solche handelt, ist nur die eine Seite der Homburger Lebenswelt. Der durchgehende Ton dieser Briefe ist ein dunkler Ton, und nichts in den äußeren Verhältnissen, von dem Scheitern des Journalplans allenfalls abgesehen, vermag ihn zu erklären – es sei denn, man will dafür einzig und allein den Weggang aus dem Hause Gontard verantwortlich machen.

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Da hören wir, in Briefen an die Mutter, von trostlosen Stunden, die er in Homburg verbringt (VI, 332). Von Hypochondrie ist wiederholt die Rede, aber eine organische Krankheit ist nicht erkennbar; und Hypchondrie – das sollte hier angemerkt werden – ist nur nebenbei ein Modewort der Zeit. Nach Auskunft der Wörterbücher ist es ein Sammelbegriff für psychische Anomalitäten der verschiedensten Art, aber für Schwermut vor allem.[20] Hölderlin schreibt, daß er zerstörbar sei und bezeichnet sich selbst als empfindlich (VI, 308). Von nervöser Reizbarkeit wird gesprochen. Im März 1799 hat ihn Muhrbeck, einer seiner republikanischen Freunde, in Homburg besucht. Der Mutter wird mitgeteilt, was dieser ausgerufen habe: ,,Ach! jezt seh‘ ich doch einmal wieder Freude in diesem Auge!“ soll er gesagt haben (VI, 321). Landauer berichtet, daß er den Dichter gelegentlich eines Besuches in düstere Schwermut versunken angetroffen habe. Um vieles deutlicher spricht sich Hölderlin in einem der wenigen Briefe an Susette Gontard aus, die uns überliefert sind. Sein Bekenntnis ist rückhaltlos. Von großen Zeiten und von großen Männern ist die Rede – von solchen, die das Stroh der Welt in Flamme verwandelt haben. Demgegenüber fühle er sich wie einer, der um einen Tropfen Öl betteln möchte; wörtlich heißt es: „siehe! da geht ein wunderbarer Schauer mir durch alle Glieder, und leise ruf‘ ich mir das Schrekenswort zu: lebendig Todter“ (VI, 337). Er ruft es sich nicht zum erstenmal zu. Schon vor der Begegnung mit Susette Gontard haben wir diese Wendung mit Beziehung auf die eigene Seelenlage vernommen. Es kann also nicht ausschließlich das Diotima-Erlebnis sein, das ihn so sprechen heißt. Doch ist ohne Frage die notwendig gewordene Trennung einer der wesentlichen Gründe für die Lebensnot, um die es geht. Sie schließt Situationen der Verzweiflung ein und ist wiederholt beschrieben worden, zuerst von Wolfgang Binder, der vom absoluten Leid spricht, wie es sich in einigen Gedichten äußert“.[21] Es sind dies Gedichte, die sich der Vollendung im Sinne klassischer Ästhetik versagen. Das Gedicht, das mit den Versen ,,Wenn ich sterbe mit Schmach …“ beginnt, ist ein Gedicht dieser Art. Gewiß ist das lyrische Ich, das hier spricht, nicht identisch mit der biographischen Person. Dennoch hat man sich das, was gesagt wird, nicht beziehungslos zu ihr zu denken. Die Geister des Todes spielen zerreißend auf den Saiten des Herzens. Das Gedicht endet mit den Versen: ,,[…] hier wo am einsamen / Scheidewege der Schmerz mich, / Mich der Tödtende niederwirft“ (I, 276). Hierzu der Kommentar in einer neueren Ausgabe: ,,Dies ist eins der ausweglosesten Gedichte Hölderlins.“[22] Ein solches ist es zweifellos. Daß sich der Dichter in anderen Gedichten zu fassen weiß, die sich einer Vollendung nicht verweigern, ist unbestritten. Nur hat man sich den Weg zum vollendeten Gedicht nicht als einen geradlinigen Weg zu denken, der mit einer siegreichen Lebensbewältigung endet. Der Weg ist ein von Zweifeln und Verzweiflungen unterbrochener Weg.

Die Frage stellt sich, wie man sich diese soweit beschriebene Lebensnot zu erklären hat, da es sich doch eigentlich um Konstellationen handelt, denen sich jeder Mensch einmal gegenübersieht. Ohnehin war an eine dauernde Bindung von beiden Seiten nicht gedacht. Man hat daher allen Grund zu vermuten, daß sich hinter dieser durch die Trennung bewirkten Lebensnot noch anderes verbirgt. Denn es ist aus der Sicht Hölderlins nicht irgendjemand, von dem es sich zu trennen gilt, sondern ein Mensch, der wie wenige den Sinn dichterischer Existenz zu verstehen bereit war, fast bedingungslos. An die Situation Kleists fühlt man sich erinnert, dem in Marie von Kleist ein Mensch zur Seite stand, der eines solchen Verstehens fähig war. In einem der letzten Briefe wird es zum Ausdruck gebracht: ,,Aber ich schwöre Dir, es ist mir ganz unmöglich länger zu leben […]. Das wird mancher für Krankheit und überspannt halten; nicht aber Du, die fähig ist, die Welt auch aus andern Standpunkten zu betrachten als aus dem Deinigen.“[23] Es ist schon erstaunlich, wie hier zwei Frauen der Goethezeit unabhängig voneinander Kunst als eine Existenzform mit möglicherweise tödlichem Ausgang nicht nur billigen, sondern verstehend bestätigen. Die Trennung Hölderlins von Diotima, wie sie im Gedicht genannt wird, ist auf dem Hintergrund solcher Existenzformen nicht eine Trennung, wie es sie unter Menschen nun einmal gibt. Vielmehr handelt es sich um eine Trennung besonderer Art. Daher ist auch die Einsamkeit keine übliche Einsamkeit. Sie ist der Grundton des Homburger Aufenthalts, der Tenor im Wechsel der Stimmungslagen. Es gibt sie als die Einsamkeit zunächst, die schöpferische Arbeit verbürgt. So wird sie im Brief an Schelling vom Sommer 1799 verstanden: ,,Ich habe die Einsamkeit, in der ich hier seit vorigem Jahre lebe, dahin verwandt, um unzerstreut und mit gesammelten, unabhängigen Kräften vielleicht etwas Reiferes, als bisher geschehen ist, zu Stande zu bringen […]“ (VI, 346). Aber daneben gibt es eine Einsamkeit anderer Art. Davon handelt ein Brief an die Mutter. Hölderlin spricht von seiner „gänzlichen Einsamkeit“ (VI, 332). ,,Ich bin wieder auf eine Zeit zum Einsiedler geworden“, teilt er der Schwester mit (VI, 315). Alle diese Äußerungen gehören in eine Zeit, die Möglichkeiten der Kommunikation in hohem Maße hätte bieten können, aber offensichtlich nicht in befriedigender Weise geboten hat. Daher wird unablässig Teilnahme erwartet oder von Teilnahme gesprochen. Doch ist es gerade die gestörte Kommunikation, die Furcht, daß sie abreißen könnte, die als Bedrohung der eigenen Existenz erfahren wird. Kommunikationsnot ist Sprachnot, die Hölderlin in seiner Spätzeit in einer Weise zum Thema seiner Gedichte macht, die aus den äußeren Lebensverhältnissen nicht abzuleiten ist. Im Gedichtentwurf Mnemosyne, in seiner zweiten Fassung, ist es nachzulesen: ,,Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“ (II,195). Auch Hälfte des Lebens handelt von solcher Not: ,,Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / klirren die Fahnen“ (II,117). Mit dem unvollendet gebliebenen Gedicht Wie wenn am Feiertage steht es aufgrund der Handschriftenlage in merkwürdigem Zusammenhang: die ersten Entwürfe zu Hälfte des Lebens werden auf dem liegen gebliebenen Entwurf des Feiertagsgedichts notiert. Die Stuttgarter Ausgabe spricht von einem zufälligen Nebeneinander. Aber vielleicht hat man sich den handschriftlichen Zusammenhang so zufällig gar nicht zu denken; denn ihren Motiven nach sind beide Gedichte miteinander verwandt. Von der Sprachnot zur Selbstbezweiflung des Dichtertums – und umgekehrt – ist es nur ein Schritt. Denn eine solche, eine Infragestellung des eigenen Tuns, ist in den Versen der letzten, nicht abgeschlossenen Schlußstrophe enthalten: ,,sie selbst sie werfen mich / tief unter die Lebenden alle, / den falschen Priester hinab, daß ich, aus Nächten herauf, / das warnend ängstige Lied / den Unerfahrenen singe“ (II, 670). Diese unabgeschlossene Strophe hat heftige Kontroversen ausgelöst, die mancherlei mit unserem Thema zu tun haben. Weil Martin Heidegger die Strophe in seiner Deutung aussparte, hat ihn Walter Muschg auf seine Art ins Gebet genommen.[24] Der Basler Literarhistoriker versteht solches Tun als „Zerstörung der Literatur“, wie der Titel des Buches lautet, in dem sich diese Auseinandersetzung findet: ,,Hölderlin erschauert vor dem Wahnsinn als der Strafe der Götter, aber Heidegger fehlt, wie vor ihm schon Hellingrath, jedes Verständnis für diese Tragik. Für ihn ist der wahnsinnige Hölderlin der Heiland der Deutschen, deshalb übergeht er die schrecklich verstummende achte Strophe …“[25] Das ist, auch gegenüber Hölderlin, ein unfreundlicher Ton, der hier angeschlagen wird. Aber was Heidegger tut, ist wenigstens merkwürdig zu nennen. Zur Selbstbezweiflung des Dichterberufs in derselben Zeit, in der er ins Religiöse erhöht wird, gesellen sich Zweifel und Kritik an der Philosophie. Hölderlin nennt sie im November 1798 ein Hospital, wohin jeder verunglückte Poet mit Ehren flüchten könne. Gegenüber der Mutter spricht er im Januar 1799 davon, daß sie ihn friedenslos gemacht habe. Aber der vorausgehende Neujahrsbrief an den Bruder enthält jenen Lobpreis auf die Philosophie, in dem Kant als der Moses unserer Nation bezeichnet wird. Ein solcher Wechsel der Erfahrungen und der Stimmungslagen läßt nicht an stetige Entwicklungen denken, in denen alte Positionen aufgegeben werden, weil neue erreicht worden sind. Es handelt sich nicht so sehr um ein Nacheinander, sondern um Formen der Gleichzeitigkeit, so daß Verschiedenes, auch Entgegengesetztes, als nebeneinander erfahren wird. Ein Sinn für Ambivalenzen ist damit verbunden. Dieser von Eugen Bleuler eingeführte Begriff bietet sich zur Beschreibung des Geschehens an. Damit ist gewiß nicht gesagt, daß hier „krankes“ Denken vorliegt. Aber es ist denkbar, daß sich im Vorfeld des Krankheitsgeschehens Konstellationen bilden, aus denen eigene Denkweisen von durchaus allgemeiner Bedeutung hervorgehen.

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Ein solches Zugleich der Gegensätze ist erkennbar; wohin man sieht. Nähe steht neben Ferne, Verzweiflung neben Idylle, Todeslust neben der Lebenszuversicht ,,Alles ist gut“. Man spricht in der Forschung vom Doppelpoligen seines Wesens oder, wie Wolfgang Schadewaldt, von einer leiblich-seelischen Grundbeschaffenheit, die zutiefst bipolar bestimmt sei. Er verwendet damit, vielleicht unbemerkt, einen in der Psychiatrie eingeführten Begriff. „Es sind dies die Dinge“, fügt er hinzu, „die den Psychologen und Psychiater in seiner Weise an Hölderlin Interesse nehmen lassen“.[26] Aber kann man sich mit einer solchen Aufteilung der Interessen auf die Dauer zufrieden geben? Geht das, was hier geschieht, die an Sprache Interessierten nicht gleichermaßen an, weil das Zugleich der Gegensätze auch den ihm adäquaten sprachlichen Ausdruck findet? Der Aufsatz über die Verfahrensweise des poetischen Geistes beginnt mit der Wendung von der gemeinschaftlichen Seele, „die allem gemein und jedem eigen ist“ (IV, 241). Die Tragödie bedeutet zugleich Einssein und Geschiedensein von Göttlichem und Menschlichem, wie im Grund zum Empedokles entwickelt wird. Im Bild von der exzentrischen Bahn geht es um die Sphäre des Todes wie um die Begeisterung gleichermaßen. Der Begriff des Exzentrischen wird auf beide semantisch so verschiedene Bereiche angewandt. Bis in die brieflichen Äußerungen hinein ist diese Denkform der Gleichzeitigkeit zu verfolgen. Gegenüber der Mutter spricht Hölderlin von der Trauer, die ihn heimsuche; und doch sei sie es, die ihn zugleich zur reinsten Tätigkeit hinführe, woraus geschlossen wird, daß der Mensch also ,,um zu leben und thätig zu seyn, beedes in seiner Brust vereinigen muß, die Trauer und die Hofnung, Heiterkeit und Laid“ (VI 332). Ähnlich in einem Brief an den Bruder, im Januar 1799: ,,So gehet das Gröste und Kleinste, das Beste und Schlimmste der Menschen aus Einer Wurzel hervor […]“ (VI, 328). Aufschlußreich ist die Wendung in einem Brief an Susette Gontard. Eine Perle der Zeit wird ihre Natur genannt, „und wer sie erkannt hat, und wie ihr himmlisch angeboren eigen Glück dann auch ihr tiefes Unglük ist, der ist auch ewig glüklich und ewig unglüklich“ (VI, 338). Glück und Unglück stehen parataktisch nebeneinander, wie im Gedicht Die Heimat Liebe und Leid nebeneinander stehen: ,,Drum bleibe diß. Ein Sohn der Erde 1 Schein‘ ich; zu lieben gemacht, zu leiden“ (II, 19). Die parataktischen Sprachformen, das unverbundene Nebeneinander der Aussagen, gehen über in das Paradox. Hölderlins Denken wird zunehmend von dieser Denkfigur geprägt. Auch in die persönlichen Mitteilungen geht sie ein. Vor allem mit der tragischen Form wird sie verknüpft – so eng, daß Tragik und Paradoxie fast als synonyme Begriffe aufgefaßt werden. ,,Die Bedeutung der Tragödien ist am leichtesten aus dem Paradoxon zu begreifen“, heißt es in einem der kürzeren Aufsätze (IV, 274); und als paradox wird das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen verstanden, aus dem die Tragödie hervorgeht: ,,in Gottes Sinne, wie gegen Gott“, heißt es von Antigone (V, 268). Oder in den Anmerkungen zum Ödipus: „Die Darstellung des Tragischen beruht vorzüglich darauf, daß das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paart, und gränzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn Eins wird, dadurch sich begreift, daß das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reiniget“ (V, 201). Im Grunde geht die tragische Form, wie Hölderlin sie versteht, mit innerer Konsequenz aus den Denkformen der Homburger Zeit hervor. Sie wird erst hinreichend verständlich, wenn man sie mit der lebensgeschichtlichen Situation in Zusammenhang bringt, ohne daß wir damit einem Biographismus von gestern das Wort reden wollen.

Daß Hölderlin sich der tragischen Form zuwendet, weil sie seiner eigenen Lebenssituation entgegenkam, ist wiederholt bemerkt worden. Nicht um die deutsche Übersetzungsliteratur zu bereichern, hat Wolfgang Binder ausgeführt, habe er Sophokles übersetzt, ,,sondern um sein eigenes Woher und Wohin besser zu begreifen …“[27] Vor allem in den Bezugnahmen zu den Helden der griechischen Tragödie zeigt sich die innere Beteiligung und die Neigung wohl auch, sich partiell mit ihnen zu identifizieren. Eines der ersten Gedichte der Homburger Zeit ist das Gedicht Achill. Die Analogie zur eigenen Lebenssituation ist unverkennbar:

,,Herrlicher Göttersohn! da du die Geliebte verloren,
Giengst du ans Meergestaad, weintest hinaus in die Fluth“ (I, 271).

Wie eng diese Bezugnahme zu denken ist, bezeugt eine Wendung im Gedichtentwurf Mnemosyne: „Am Feigenbaum ist / mein Achilles mir gestorben …“ (IV,194). Erst recht ist Empedokles für Hölderlin nicht irgendeine Gestalt der antiken Welt, sondern eine mit dem Dichter als ihrem Schöpfer innig verwandte Person: ein Sinnbild seiner selbst, etwas ihm tief Gemäßes, wie gesagt worden ist. Im theoretischen Begleittext, im Grund zum Empedokles, wird der Anteil des Dichters am eigenen Drama keineswegs verneint. Im Drama, schreibt Hölderlin, drücke sich die Empfindung nicht mehr unmittelbar aus, ,,wenn schon jedes Gedicht, so auch das tragische aus poetischem Leben und Wirklichkeit, aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muß, weil sonst überall die rechte Wahrheit fehlt […]“ (IV, 150). Innere Anteilnahme am Helden des eigenen Gedichts ist mithin Voraussetzung rechter Wahrheit. Dennoch muß es für den Dichter darum gehen, die eigene Bewußtseinslage zu objektivieren und vom Individuellen her zum Allgemeinen zu gelangen. ,,Eben darum verläugnet der tragische Dichter, weil er tiefste Innigkeit ausdrükt, seine Person, seine Subjectivität ganz, so auch das ihm gegenwärtige Object, er trägt sie in fremde Personalität, in fremde Objectivität über […]“ (IV, 151). Eine solche Objektivierung ist an der Dichtung selbst im ganzen ihrer Stufen auch eindrucksvoll zu verfolgen. Der Empedokles der ersten Fassung ist noch deutlich vom individuellen Konflikt her konzipiert: von der Überhebung und der Wortschuld als einem Vergehen gegenüber den Göttern. Erst die späteren Stufen rücken den Opfertod als tragischen Vorgang in einen weltgeschichtlichen Prozeß. Aus dem ursprünglichen Schicksal des individuellen Helden entwickelt sich ein überindividuelles Geschehen. Schon im Empedokles wird der tragische Vorgang mit politischen Motiven verknüpft; schon hier rückt die Zeitwende in das Zentrum des dramatischen Geschehens, wie erst recht in den Anmerkungen zur Antigonae des Sophokles. ,,Die Vernunftform, die hier tragisch sich bildet, ist politisch und zwar republikanisch“, merkt Hölderlin an (V, 272).

Über die allgemeine Anteilnahme an den Personen der Tragödie hinaus, der eigenen wie der griechischen, ist in diesem Zusammenhang noch von einem besonderen Interesse zu sprechen. Es handelt sich um bestimmte Bewußtseinsprobleme, wie sie nur teilweise durch die griechischen Texte vorgegeben sind. Zu wesentlichen Teilen werden sie sozusagen hinzugetan. Der späte Hölderlin interessiert sich unverkennbar für die vom Wahnsinn heimgesuchten Helden. Zwar hat er den Aias des Sophokles in seine Übersetzungsarbeit nicht einbezogen. Doch spricht er wiederholt von ihm in eben dem Sinn, um den es hier geht. So in einer Vorstufe des Hyperion-Romans: „Der Ajax des Sophokles lag vor mir aufgeschlagen. Zufällig sah‘ ich hinein, traf auf die Stelle, wo der Heroe Abschied nimmt von den Strömen und Grotten und Hainen am Meere – ihr habt mich lange behalten, sagt er, nun aber, nun athm‘ ich nimmer Lebensothem unter euch! Ihr nachbarlichen Wasser des Skamanders, die ihr so freundlich die Argiver empfiengt, ihr werdet nimmer mich sehen! – hier lieg‘ ich ruhmlos‘“ (III, 240). Hierzu die erläuternde Bemerkung Paul Böckmanns: ,,Hölderlin verwendet hier die Verse des Dramas, in denen der vom Wahnsinn überfallene und dem Tode überantwortete Ajax die Mächte der Natur anruft […] Hölderlin hat nach dem Text gegriffen, der auf seine eigene Situation zu antworten vermag […].“[28] Im bereits genannten Gedichtentwurf Mnemosyne bezieht er Ajax in der Szene unter dem Feigenbaum neben Achill ein. Die abschließenden Verse der Strophe zielen, wie man annehmen darf, auf den Wahnsinn des Helden hin: ,,Unwillig nemlich / Sind Himmlische, wenn einer nicht die Seele schonend sich / Zusammengenommen, aber er muß doch; dem / Gleich fehlet die Trauer“ (11,194). Deutlicher noch tritt in den Übersetzungen hervor, was alles Hölderlin, seinen Interessen entsprechend, in solchem Sinne verstärkt. Wolfgang Binder führt aus, daß Sophokles das Ungeheure des Schicksals, das eigentlich in den Wahnsinn führt, durch die Kunstform der Tragödie ins gerade noch Erträgliche gezwungen habe; wörtlich heißt es in diesem Zusammenhang: „Von Wörtern des Wahnsinns, des ,geisteskranken Fragens nach einem Bewußtsein‘ und dergleichen sind Text und Deutung der sophokleischen Stücke voll, oft in bewußter Übersteigerung des griechischen Wortlauts“.[29] Jochen Schmidt bestätigt Beobachtungen wie diese in seiner Studie über den Begriff des Zorns. Das ,,Orientalische“ trete jetzt deutlicher hervor: „Dies zeigt sich besonders in der letzten Überarbeitungsschicht der Antigonae, aber auch schon im Oedipus. Alles wird stärker, ursprünglicher, ekstatischer. Das Übersetzungswerk intensiviert. Nicht die klassizistisch gedämpfte Gefühlsäußerung, sondern der elementare Ausdruck von Freude, Schmerz, Zorn und Wahn bestimmt das Pathosgemälde. Es läßt sich eine besondere Vorliebe für Worte wie ,Zorn‘ und ,Wahn‘ beobachten.“[30]

Auffallend wird in den Tragödien das Närrische hervorgekehrt, und zwar im alten Sinn von ,geistig gestört‘, wie Schadewaldt erläutert.[31] Es wird mit Ödipus wie mit Antigone in Verbindung gebracht. Hinsichtlich der Situation des ersteren wird von dessen verzweifelndem Ringen gehandelt, ,,zu sich selbst zu kommen, das niedertretende, fast schaamlose Streben, seiner mächtig zu werden, das närrischwilde Nachsuchen nach einem Bewußtseyn“ (V, 199). Antigone spricht bei Hölderlin von ihrer Narrheit:

,,Bin ich aber dir, / Wie ich es that, nun auf die Närrin kommen, /
War ich dem Narren fast Narrheit ein wenig schuldig“ (V, 224).

Vom Wahnsinn, der bei Sterblichen solch gesetztes Denken koste, handelt der Chor zu Eingang des dritten Aktes (V, 231).[32] An anderer Stelle heißt es: „Das Schlimme schein‘ oft treflich / Vor einem, so bald ein Gott / Zu Wahn den Sinn hintreibet“ (V, 231). Immer erneut gilt Hö1derlins Interesse den Personen, die Mangel an Bewußtsein zeigen oder von ihrem Verlust betroffen sind. Ödipus wird als ein Handelnder verstanden, der aus vollständigem Mangel an Bewußtsein handelt, während sich Antigone in hohem Bewußtsein mit Gegenständen vergleicht, die kein Bewußtsein haben. Der höchste Zug an der Heldin sei erhabener Spott – ,,so fern heiliger Wahnsinn höchste menschliche Erscheinung, und hier mehr Seele als Sprache ist […]“; so erläutert Hölderlin in den Anmerkungen ihr Tun und fährt fort: ,,Es ist ein großer Behelf der geheimarbeitenden Seele, daß sie auf dem höchsten Bewußtseyn dem Bewußtseyn ausweicht […]“ (V, 267). Dem sich verlierenden Bewußtsein wird eine sinngebende Bedeutung zuerkannt, aber der „heilige Wahn-sinn‘‘ wird nicht – wie später bei Hellingrath – isolierend verklärt, sondern dem tragischen Geschehen als einem göttlichen Geschehen zugeordnet. Zu dem Passus im Brief an Böhlendorff, in dem Hölderlin die eigene Situation in Bildern antiker Mythologie verdeutlicht – „[…] und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen“ – hat Jochen Schmidt bemerkt, wie hier die Oedipus-Deutung aus dem Übersetzungswerk in den Brief hineinspiele: ,,So setzt er sich dem Oedipus gleich, dessen fieberhafte Wahrheitssuche die ,Anmerkungen‘ als unbewußten Drang zum tödlich Absoluten deuten.“[33]Auf die Textstelle in Hölderlins Übersetzung wird verwiesen: ,,Apollon wars, Apollon, o ihr Lieben, / Der solch Unglük vollbracht“ (V, 185).

Die Tragödie ist in ihrer klassischen Gestalt unter allen Dichtungsarten in besonderem Maße auf Bewußtsein gerichtet; denn Tragik setzt Bewußtsein von Tragik voraus und ist mit Einsicht verbunden. Sie ist mehr und anderes als bloß Stimmung und Gefühl. Im Denken Hölderlins über Tragik und Tragödie scheint es noch um anderes zu gehen. Hier wird offensichtlich Bewußtsein in den Möglichkeiten seines Verlustes zum erregenden Problem, dem zugleich eine sinngebende Bedeutung zuerkannt wird. Hölderlin entwickelt, mit anderen Worten, an den Grenzen des Bewußtseins ein erhöhtes und, wenn man so sagen darf, tragisches Bewußtsein von dem, was ihm widerfährt. Damit wird dieses einzigartige Spätwerk nicht auf „bloße“ Biographik oder auf einen ,,widrigen Krankheitsfall“ reduziert, wie man sich gelegentlich ausgedrückt hat; noch weniger wird es dem Vorwurf ausgesetzt, etwas „Irres“ zu sein. Solche Reduktionen sind schon deshalb unangebracht, weil es diesem Dichter darum zu tun war, Subjektives in „fremde Personalität“ und in „fremde Objektivität“ zu überführen, wie es im Grund zum Empedokles eindringlich ausgeführt wird (IV, 151). Die Bedrohung durch die Krankheit wird eine Zeitlang zum schöpferischen Impuls, wie Helm Stierlin aus psychiatrischer Sicht deutet: ,,Im Falle Hölderlins jedoch scheint gerade die schizophrene Störung deutlich zu machen, wie das, was uns zu zerstören droht, uns auch retten kann und wie mit dem Rettenden auch zugleich die Gefahr wächst.“[34] Es ist bedenklich, das so entstandene Werk ,,idealistisch“ aus allen seinen Kontextbezügen zu lösen und das Geleistete zu harmonisieren, indem man es als ,,reine Poesie“ isoliert; denn es sind letztlich Unterschiede der anthropologischen Sehweisen im Verständnis von Literatur, um die es geht; vor allem ist es ein Unterschied, ob man dieses Spätwerk einseitig vom Hymnischen her definiert oder noch anderes gelten läßt. Aber Hölderlins anhaltende Befassung mit der tragischen Form in ständigem Bezug zur eigenen Lebenssituation ist das Kontinuum in diesem sich entfaltenden Spätwerk bis hin zum zweiten Homburger Aufenthalt und der Widmung an die Prinzessin Auguste. Auch deshalb erscheint es bedenklich, Hölderlins Spätstil auf den hymnischen Stil festzulegen. Es geht um beides: um Pindar und um Sophokles gleichermaßen.[35]

Eine Beschreibung des zweiten Homburger Aufenthalts, von 1804 bis 1806, ist hier nicht beabsichtigt. Die kaum ausgeübte Tätigkeit des Bibliothekars, die Vorfälle im Zusammenhang mit dem Hochverratsprozeß gegen Sinclair und schließlich der deprimierende Abtransport nach Tübingen gehören zur Krankengeschichte weit mehr als zur Geschichte seiner Werke; und auf den Zusammenhang von Spätwerk und Krankheit kommt es uns an.[36] Dagegen ist in gebotener Kürze von einem Vorgang zu sprechen, der eben diesen Zusammenhang gut beleuchtet. Er betrifft die Reise nach Regensburg im Herbst 1802 und mehr noch die Person des Landgrafen von Hessen-Homburg, dem das Gedicht Patmos gewidmet wird. Ein solches hatte sich der Landgraf von Klopstock vergeblich erbeten. Daß dieser Auftrag nunmehr an Hölderlin ergeht, ist ausschließlich dem ersten Beamten des Landgrafen zuzuschreiben, keinem anderen als Isaak von Sinclair. Er auch war es gewesen, der dafür gesorgt hatte, daß Hölderlin zur Regensburger Versammlung Ende September eingeladen wurde. Es ging in der Sache um Gebietsregelungen, über welche die Reichsdeputation zu befinden hatte. Daß der Landgraf den Dichter während dieser Zeit gesehen und gesprochen hat, gilt als sicher. Hölderlin hat das in Frage stehende Gedicht im Anschluß an diesen Aufenthalt und in den folgenden Monaten ausgearbeitet, in demselben Jahr, in dem er wenige Monate zuvor von seinem ersten Krankheitsanfall heimgesucht worden war. Das Gedicht ist in einer Reinschrift überliefert, die dem Landgrafen im Januar 1803 von Sinclair überreicht wurde. Von ihr hat Werner Kirchner gesagt: ,,Nichts vermittelt wohl einen stärkeren Eindruck der gesammelten Klarheit und Kraft des Dichters als der Anblick der Schriftzüge dieser vollkommenen Reinschrift.“[37] Sinclairs Aussage über die psychische Konstitution des Dichters in jenem Herbst kommt solchen Auffassungen entgegen: „und ich kann mit Wahrheit behaupten, daß ich nie grösere Geistes u. SeelenKraft als damahls bei ihm gesehen“ (VII, 254). Aufgrund solcher Zeugnisse und im Anblick der vollkommenen Reinschrift kam sich die Meinung befestigen, daß man um diese Zeit – oder überhaupt – an eine ,,Umnachtung“ nicht zu denken habe, wie man das Krankheitsgeschehen gern in gewollter Undeutlichkeit bezeichnet. So daß Pierre Bertaux die durchaus rhetorische Frage stellt: ,,Glaubt man, der Landgraf hätte einem Irren den Auftrag anvertraut? Glaubt man, ein Irrer hätte die Hymne Patmos gedichtet?“[38] Darauf ist zu antworten: Nein, solches muß man in der Tat nicht glauben, weil schon aufgrund der Redeweise ein solcher „Glaube“ nicht berechtigt wäre; denn es ist eine Redeweise von gestern, die einseitig Hölderlin zugute kommt. Aber wehe den anderen! Bei Bertaux sind es Irre, Geisteskranke, Schwachsinnige oder wie sie sonst noch genannt werden mögen. Glaubt man aber, um die rhetorische Frage aufzunehmen und anders zu wenden – glaubt man allen Ernstes, daß die derart Betroffenen am Anfang eines solchen Krankheitsgeschehens nur noch mit zittrigen Schriftzügen etwas auf das Papier zu kritzeln in der Lage sind? Glaubt man, daß sie von heute auf morgen gewissermaßen in den Analphabetismus des Vorschulalters zurückfallen? Es wäre doch gut, wenn man sich an differenziertere Gedankengänge gewöhnte. Immerhin hat man es mit einem frühen Stadium des Krankheitsgeschehens zu tun; da sind Aufhellungen nach dem Abklingen eines akuten Anfalls nichts Seltenes; und daß mit der Einladung nach Regensburg eine vorübergehende Besserung eintreten konnte, leuchtet ein. Mit ihr hat Sinclair etwas getan, was er schon 1798 getan hatte, als er Hölderlin nach Rastatt kommen ließ: er hat den von Krankheit gezeichneten Dichter nicht sich selbst überlassen, sondern ihm das Verbleiben im Kreise der Freunde ermöglicht. Zugleich hat er den Landgrafen in seinem Interesse am Beruf des Dichters bestärkt; und eine wenigstens mittelbare Anteilnahme am politischen Geschehen der Zeit war für Hölderlin noch obendrein mit diesem Aufenthalt verbunden. Solches Dabeisein und Dabeibleiben erklärt die Geistes- und Seelenkraft, von der Sinclair in seinem Brief spricht, recht gut; oder mit Hölderlins eigenen Worten: „Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig“ (VI, 433). Daß der Landgraf Veränderungen im Verhalten Hölderlins nach dem Krankheitsanfall nicht wahrgenommen hat und wohl auch nicht wahrnehmen konnte, ist verständlich; denn er hat ihn ja näher gar nicht gekannt. Als sich der Dichter zum erstenmal in Homburg aufhielt, dürfte man sich kaum gesehen haben. Schließlich war der Landgraf kein erfahrener Arzt. Dagegen scheinen die Ärzte, wenn wir einer Äußerung Sinclairs folgen dürfen, doch etwas anders geurteilt zu haben: ,,Zu Regensburg war ich auch beinahe der einzigste, der ihn nicht für das hielt, wofür ihn die dasigen Arzte ausgeben“, schreibt Sinclair in dem schon erwähnten Brief (VII, 254). Das Gedicht Patmos, das wir dieser Regensburger Zusammenkunft verdanken, ist eine dichterische Leistung Hölderlins. Aber Isaak von Sinclair hat nicht wenig dazu beigetragen, daß es sie gibt. Daß er den Dichter dorthin eingeladen hat, das ist seine Tat. Man kann sie nicht genug rühmen! Dieser Diplomat, Philosoph und Poet muß noch außerdem ein guter Menschenkenner gewesen sein, eine Art Seelenarzt; und wenn Werner Kirchner diese Einladung ein Heilmittel genannt hat, so trifft er damit ganz gut das, was mit ihr beabsichtigt war. Bis in das Gedicht Patmos hinein ist die Freude über das Verbleiben in der Kommunikation mit andern zu vernehmen. Sie ist das Rettende nach allem, was geschehen ist. Die berühmten Verse sind ganz wörtlich zu verstehen: ,,Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“[39]

Daß man aber die Reinschrift der Patmos-Hymne als vollkommen bezeichnet und daß man sich an solcher Vollkommenheit freut, ist verständlich. Doch ist die Freude auch bezeichnend für eine bestimmte Blickrichtung des Wegsehens von dem, was den Eindruck der Vollkommenheit stören könnte. Von der Arbeit an dem Gedicht Der Einzige, das mit der Patmos-Hymne aufs engste zusammenhängt, kann aus einer solchen Blickrichtung heraus gesagt werden: „Der Einzige reift allerdings nicht zu gänzlicher Vollendung“ (II, 743). Es handelt sich um eine Bemerkung Friedrich Beißners, die schon in ihrer wachstümlichen Metaphorik an geruhsame Entstehungsprozesse denken läßt. Sie bezieht sich auf den Herbst des Jahres 1802, auf die Zeit nach der Regensburger Reise. Es sei eine solche gewesen, heißt es in diesem Zusammenhang, „von deren günstiger Wirkung der Brief der Mutter an Sinclair vom 20. Dezember 1802 ausdrücklich zeugt“.[40] Sinclairs verbürgte Wendung vom guten Geistes- und Seelenzustand, die günstige Wirkung der Reise im erwähnten Brief der Mutter an Sinclair und die Vollkommenheit der Reinschrift sind ganz dazu angetan, den Eindruck hervorzurufen, als sei die Zeit der Ausarbeitung eine Zeit unbeeinträchtigter Schaffensfreude und jener Gesundheit gewesen, die für Pierre Bertaux einzig Voraussetzung großer Dichtung zu sein scheint. Die zahlreich vorhandenen Entwürfe zu den in diesen Monaten entstandenen oder geförderten Gedichten werden zumeist aus dieser Blickrichtung heraus interpretiert. Sie zeugen demgemäß von dem hohen Kunstverstand des Dichters, von seinem Bestreben, mit gesteigertem Formbewußtsein dem Werk einen noch höheren Grad der Vollendung und der Reife zu geben, als es in den vorausgegangenen Fassungen möglich gewesen war. Der Vorstellung von Vollendung und Vollkommenheit entspricht es, daß man alle Eigentümlichkeiten und Eigenwilligkeiten des sprachlichen Ausdrucks als dezidierten Stilwillen interpretiert. An Hölderlins späten Gedichten – an Gedichten aus eben dieser Zeit – hat man ein sonst unübliches Hereinreden des lyrischen Subjekts wahrgenommen.[41] So unter anderem in den Versen des Gedichts Der Einzige: ,,Diesesmal / Ist nemlich vom eigenen Herzen / Zu sehr gegangen der Gesang“ […] (II, 155). Dergleichen sei bei Pindar üblich und von ihm übernommen, erklärt Friedrich Beißner, ohne zu erklären, wie man sich solche Stilanleihen in Anbetracht der veränderten historischen Situation vorzustellen hat[42]; denn hier geht es um Strukturprobleme der Lyrik, in der nicht ohne weiteres passend ist, was für Pindar passend war. Eine für den Dichter des hohen Stils vollends unübliche Mundartlichkeit wird gleichermaßen gerechtfertigt: als absichtlich und der Intention des Dichters gemäß. Wieder geht es um Verse aus dem Gedichtentwurf Der Einzige: „Deß dürfen die Sterblichen wegen /dem weil / Ohne Halt verstandlos Gott ist“ (II, 163). Wir sollen glauben, Hölderlin habe solche Ausdrücke aus dem Bereich der schwäbischen Mundart übernommen, um das Sinnlich-Leidenschaftliche des Griechentums zur Geltung zu bringen.[43] Mit nicht gerade ausgeprägtem Sinn für historische Sprachstufen hat Hellingrath den Begriff ,Barock“ bemüht, weil für ihn anders nicht zu bezeichnen war, was er bezeichnen wollte.[44] Der Spätstil Hölderlins wäre mithin aus verschiedenen Stilschichten zusammengesetzt, wenn man diesen Erklärungen folgt: aus pindarischen, schwäbisch-mundartlichen und barocken Stilelementen. Stilmischungen dieser Art müßten aber begründbar sein. Hellingrath wie Beißner bleiben uns solche Begründungen schuldig. Sie können nicht überzeugend aufzeigen, was einen Dichter um 1800 zu solchen Stilanleihen eigentlich veranlaßt. Schließlich wird auch das Zerbrechen der Syntax in der Tradition Hellingraths vom Herausgeber der Stuttgarter Ausgabe als bewußter Stilwille aufgefaßt: „Der immer stärkere Wille zu härtester Sprachfügung ist so rücksichtslos geworden, daß er grammatische Gesetze mißachtet: das Subjekt des ersten Satzes ist hier aus dem Objekt des zweiten zu ergänzen“, führt er an anderer Stelle aus (II, 795). Diese Interpretation – und um eine solche handelt es sich – entspricht weithin dem Verständnis der neueren Forschung; und gewiß ist sie denkbar. Die Mißachtung grammatischer Gesetze kann natürlich gewollt im Sinne dichterischer Intention sein, und nicht erst in der Sprachkunst des deutschen Expressionismus ist es der Fall. Auch andere Abweichungen von der Normalsprache – Inversionen, Neologismen oder Wiederholungen – können als Stilwille des Dichters aufgefaßt werden. Aber weil sie so aufgefaßt werden können, müssen andere Interpretationen nicht ausgeschlossen werden. Im Falle Hölderlins diejenige nicht, die besagt, daß der bewußte Stilwille möglicherweise noch von Sprachveränderungen anderer Art beeinflußt wurde, die mit dem Krankheitsgeschehen in Zusammenhang stehen könnten.,, Den Entstehungsprozeß der Gedichte hätte man sich mithin nicht ganz so harmonisch vorzustellen, daß gesagt werden kann, ein Gedicht reife der Vollendung entgegen oder nicht. Das Bild, das in solchen Redeweisen vermittelt wird, beschönigt, und man hat nur die halbe Wahrheit erfaßt, wenn man ausschließlich auf das Vollkommene und Vollendete sieht.

Schon der angeführte Brief der Mutter vom Dezember 1802 wird mißverstanden, wenn man einseitig die Wendung von der günstigen Wirkung der Regensburger Reise hervorhebt. Hölderlins Mutter spricht in diesem Brief von der glücklichen Ankunft ihres Sohnes aus Regensburg und davon, daß er sich danach einige Zeit in einer ruhigen Fassung befunden habe (VII, 241). Aber im ganzen spricht dieser Brief in einem Ton, der zu keiner Harmonisierung berechtigt: ,,Da er sich durch Arbeiten öfters sehr anstrengt, u. wenig sich Bewegung macht, auch auf das dringende Freundschaft einladen seiner Freunde mit niemand keinen Umgang hat, so ist laider wenig hoffnung […]“ (VII, 242). Unglaubwürdig ist dieser Bericht sicher nicht. Er läßt keine Zweifel an der Isolierung des Dichters, an seiner Einsamkeit. Die Kommunikation mit den Freunden, die in der Patmos-Hymne gefeiert wird, ist unterbrochen. Auch die Schwester, von der gesagt wird, daß sie sich sonst sehr beliebt zu machen verstand, hat an dieser Situation offensichtlich nichts zu verändern vermocht. Die erhaltene Korrespondenz vervollständigt das Bild. Nur wenige Briefe, so scheint es, wurden mit Sinclair gewechselt. Kein Zeugnis außer dem in der zweiten Novemberhälfte geschriebenen Brief an Böhlendorff ist uns überliefert. In ihm schildert Hölderlin, wie schon erwähnt, die eigene Situation im Bilde des Helden, der sich von Apollo geschlagen weiß.[45] Von Todesgefühlen im Rückblick auf die Reise durch Frankreich ist die Rede. Einer der treuesten Freunde, der Stuttgarter Kaufmann Christian Landauer, beklagt sich über die ausbleibenden Lebenszeichen und fragt an: „Was machst Du? Wahrscheinlich arbeitest Du den ganzen Tag und die halbe Nacht, daß Du so gar keine Kunde von Dir giebst […]“ (VII, 178). Die Vorstellung, Hölderlin habe sich in dieser Zeit in einer Art Schaffensrausch befunden – wie seinerzeit Rilke, als er im Begriff war, die Duineser Elegien abzuschließen – wäre aber gänzlich verfehlt. Mit Schwierigkeiten des Denkens ist zu rechnen; und sie mit Denkstörungen in Zusammenhang zu bringen, wie es sie im Umfeld psychischer Krankheiten gibt, ist so abwegig nicht. Hölderlin selbst war sich solcher Schwierigkeiten bewußt. Wiederholt hat er sich in diesem Sinne geäußert: „Ich habe oft einen so langsamen Kopf, daß ich manchmal Tage und Wochen hinbringe, wo andre schneller fertig sind“, heißt es in einem Homburger Brief an die Schwester vom 16. November 1799; es falle ihm schwer, seine Gedanken beisammen zu halten (VI, 375). Daß er sich häufig in eine unnötige Überspannung hineingetrieben sehe, hatte er schon zuvor, im Juni 1799, dem Bruder mitgeteilt (VI, 326); und in einem Brief an Landauer aus einer Zeit, in der das Gedicht Friedensfeier konzipiert wurde, findet sich das Geständnis, daß er sich niemand mitteilen könne (VI, 417). Schwierigkeiten dieser Art werden von einem Interpreten der Patmos-Hymne wie Wolfgang Binder nicht übersehen. Diese Schwierigkeiten, merkt er an, seien von anderer Art als diejenigen, die wir aus Rilkes Spätwerk, aus den Gedichten Trakls oder der modernen Lyrik kennen. Hier handelt es sich offensichtlich auch um Schwierigkeiten eines zeitweilig reduzierten Sprachvermögens, eines Nichtmehrhabens, so daß gesucht werden muß: ,,so sucht er doch eine Sprache, die das Gemeinte trifft“[46], heißt es in dem erwähnten Beitrag. Binder räumt ein, daß Hölderlin bestimmte Reflexionen im Gedicht nach dem Zeugnis der Lesarten Mühe gemacht haben. Für dieselbe Zeit, für den Herbst 1802, stellt Jochen Schmidt im Anschluß an den Brief Sinclairs über Hölderlins Geistes- und Seelenkraft auf eine eigentlich unübliche Weise fest: „Man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Aussage nicht aus dem Befund der schon heftig ausbrechenden Krankheit herauslöst.“[47] Eine ruhige und beruhigte Phase ist diese Zeit jedenfalls für Hölderlin nicht gewesen. „Die folgenden Monate arbeitete er angestrengt an Patmos“, so lesen wir es in der von Adolf Beck verfaßten Chronik[48]; und daß er sich öfters zu sehr anstrenge, ist auch dem Brief der Mutter zu entnehmen. Das immer erneute Aussetzen und Ändern in den Entwürfen und Fassungen wird daher nicht nur dem Streben nach Vollendung und Vollkommenheit zuzuschreiben sein. Es ist auch Ausdruck einer sprachlichen und seelischen Not. Aber die Annahme eines solchen Zustands ist mehr als nur ein psychischer Befund. Es geht um sprachlich-stilistische Befunde gleichermaßen.·Die Konstellation der Anspannung und der Überspannung schafft sich ihren „Stil“, und nicht alles in diesem Spätwerk ist gewollt. Daß sprachliche Veränderungen, die zum Eigentümlichen dieses Spätstils gehören, durch die veränderte Bewußtseinssituation erzwungen werden, bleibt aufgrund der Lebenszeugnisse zu bedenken. Damit steht zugleich ein Zusammenhang von Sprachveränderung und psychischer Krankheit in Frage. Die Entscheidung darüber, welche Veränderungen des sprachlichen Ausdrucks bewußter Stilwille sind oder dem Einflußbereich der Krankheit·zugeschrieben werden müssen, ist aber nicht dadurch herbeizuführen, daß man diese oder jene Spracheigentümlichkeit isoliert. Jeder dieser Sprachbefunde kann für sich betrachtet als künstlerische Intention oder als krankhafte Manier aufgefaßt werden. Sie sind – so oder so – nur im Zusammenhang eines vielschichtigen Geschehens zu begründen.

Neuere Forschungen über Hölderlin im Gebiet der linguistischen Psychiatrie machen wahrscheinlich, daß mit dem Fortschreiten der Krankheit Veränderungen in der Syntax einhergehen; sie suchen nachzuweisen, daß die Geschwindigkeitsverteilung des Sprachwandels im Umkreis einer Psychose am größten ist.[49] Ob es berechtigt sein kann, Begriffe wie Sprachverlust oder Sprachzerstörung zu gebrauchen, um ein solches Geschehen zu beschreiben, bleibe offen.[50] Für die Zeit, in der Hölderlins Spätwerk entstand, sind sie unbrauchbar und unangebracht. Aber daß Faktoren des Unbewußten am sprachlichen Handeln beteiligt sind, darf angenommen werden. Diese Annahme ist so ungewöhnlich nicht. Die Vorstellung, daß alles Kunstwollen aus der Intention des Künstlers ableitbar sein müsse, ist eine solche der klassischen Hermeneutik. Dem heutigen, von Freud mitbestimmten Menschenbild entspricht sie kaum. Ein derart durch Unbewußtheiten beeinflußter Sprachwandel kann Verfremdungen mit sich bringen, die den Eindruck erhöhter Poetizität vermitteln. Aber solche Einwirkungen müssen dem Gedicht so lange nicht abträglich sein, als der Sinn erhalten bleibt. Einem Gedicht wie Patmos wird ein solcher Sinn natürlich zuerkannt – trotz einiger Dunkelheiten, die nicht verschwiegen werden. In diesem Zusammenhang kann es in Binders Patmos-Deutung heißen: „Die Verse 162 bis 170 stellen uns vor eine typische Schwierigkeit des Hölderlinischen Spätwerks: der Vorgang, den sie erzählen, ist verstehbar, über den Sinnhorizont der Erzählung kann kein Zweifel bestehen. Aber der einfache Literalsinn der Sätze scheint sich nicht völlig klären zu lassen.“[51] Auf diesen Sinnhorizont im Spätwerk Hölderlins kommt es an: auf das, was die eigene Kunst in einem solchen Zustand der Gefährdung bedeutet. Dichtung hört auf, nur eine Kunstart zu sein, ein Spiel oder eine Schmuckform des schönen Lebens. Sie wird zur Existenzform schlechthin. Einem unbekannten Geschehen – vom „gewaltigen Element, dem Feuer des Himmels“ (VI, 433) wird im Böhlendorff-Brief gesprochen – wird in einer Situation der äußersten Anspannung ein Sinn abzuringen versucht. Hölderlin hat es als übermächtig erfahren. Ihm setzt er sein künstlerisches Werk entgegen, in dem er den Halt erkennt, den es zu gewähren vermag, das Feste und Bleibende im Ansturm der Dinge. Auch davon handelt der Brief an Böhlendorff: ,,Der Anblik der Antiquen hat mir den Eindruk gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung und Phänomenalisirung der Begriffe und alles Ernstlichgemeinten dennoch alles stehend und für sich selbst erhält, so daß die Sicherheit in diesem Sinn die höchste Art des Zeichens ist“ (VI, 432). Nicht zufällig erläutert Hölderlin das Höchste der Kunst an einem Beispiel der bildenden Kunst: an dem, was steht und bleibt inmitten der Bewegung, aus der es kommt. Dieses Abgerungene inmitten einer Bewegung, die auf das Krankheitsgeschehen nicht zuletzt bezogen werden darf, gilt es zu würdigen. Wer es verschweigt, verleugnet oder verdrängt, wird Hölderlin nicht gerecht. Nicht weil er sich in einem Zustand unbehelligter Gesundheit befand, konnte sein Spätwerk entstehen. Es ist im Kontext der herannahenden und schon ausgebrochenen Krankheit entstanden, aber zugleich gegen sie. „Kunst wächst auf paradoxem Boden“, hat Gottfried Benn gelegentlich bemerkt. Das gilt hier, wenn irgendwo. Dieser Boden – der Übergang zwischen dem Gesunden und Kranken, zwischen Bewußtheit und Unbewußtem – bezeichnet den Ort dieses Spätwerks genau. Es ist deutlich das Werk einer Grenzsituation.

Das Wort hat Karl Jaspers als einen zentralen Begriff in seine Existenzphilosophie eingebracht. Von ihm hat ihn die moderne Psychiatrie übernommen. In einem ihrer Handbücher (von H. J. Weitbrecht) wird ausgeführt: ,,Die Konfrontation mit der Tatsache, daß der Mensch für Zeit oder Dauer geisteskrank werden kann, bedeutet, wenn es wirklich erlebt … wird, das Ansichtigwerden einer echten Grenzsituation im Sinne der Existenzphilosophie von Jaspers.“[52] Hölderlin selbst hat den Begriff der Grenze wiederholt und in diesem Sinne, so scheint es, gebraucht. In dem Gedicht An die Madonna, das von so manchem Gesang spricht, den die Schwermut weggezehrt habe, kommt er vor: „An den Gränzen aber, wo stehet / Der Knochenberg, so nennet man ihn / Heut […] (II, 214). Aber die Beschreibung dieser Situation als einer solchen des Übergangs ist gleichwohl vor Mißverständnissen zu schützen –vor der vereinfachenden Rede, daß der Begriff Krankheit in einem solchen Zusammenhang am besten zu verschwinden habe, da alles im Übergang begriffen sei. Pierre Bertaux argumentiert so, indem er Thomas Szasz zitiert, den berühmten Psychiater, wie er ihn nennt: ,,In meiner über zwanzigjährigen psychiatrischen Tätigkeit ist mir kein einziger Fall bekannt geworden, daß ein klinischer Psychologe auf Grund eines projektiven Tests eine Untersuchungsperson als ,normal‘ und ,geistig-seelisch gesund‘ bezeichnet hätte.“[53] Ein Grund mehr, so soll wohl gefolgert werden, auf den Begriff Krankheit am besten gleich ganz zu verzichten. Aber daß solche Situationen des Übergangs von dem Zustand der längst manifest gewordenen Krankheit sehr wohl zu unterscheiden sind, ist an den spätesten Gedichten Hölderlins gut zu zeigen. Ihnen hat man sich in den letzten Jahrzehnten wiederholt und vielfach mit unverhohlener Sympathie zugewandt. Bernhard Böschenstein hat ihnen eine verständnisvolle und im Urteil behutsame Untersuchung gewidmet.[54] Diese Gedichte sind nicht einfach unverstehbar. Hier treffen sich moderne Literaturwissenschaft und moderne Psychiatrie – in der Einsicht nämlich, daß man mit psychischen Krankheiten, auch aus dem schizophrenen Formenkreis, nicht mehr die Vorstellung der Unverständlichkeit verbindet – wie dies noch Kar1 Jaspers getan hatte. Damit ist auch die Auffassung unhaltbar geworden, daß als gesund nur zu bezeichnen sei, was verstehbar und verständlich ist und daß man als krank das schlechterdings Unverständliche zu nennen habe.[55] So gesehen ist die Geschichte der neueren Hölderlinforschung seit Hellingrath eine Geschichte des sich erweiternden Verstehens. Das gilt auch für die Geschichte der Psychiatrie. Dennoch ist diesen spätesten Gedichten nicht nur verstehend zu begegnen, und es kommt in erster Linie dem Literarhistoriker zu, Wertungen zu begründen, die den Unterschied zum Spätwerk verdeutlichen. Solche Verdeutlichungen sind dringlich; denn die Tendenz ist unverkennbar, über diese Gedichte verklärend oder ganz und gar wertfrei zu sprechen; schon bei Friedrich Beißner deuten sich solche Tendenzen an. Als er seinerzeit einige dieser Gedichte zuerst veröffentlichte, kommentierte er sie wie folgt: „Die Vollkommenheit, die der Vollendete in seiner klaglosen menschlichen Haltung bewährt, findet ihre Entsprechung in einer merkwürdigen Makellosigkeit der dichterischen Form … Am schönsten aber wird die Vollkommenheit der Form bezeugt durch die (bisher nicht erkannte) Tatsache, daß alle Reime rein sind.“[56] In der Strukturbeschreibung, die Roman Jakobson dem Gedicht Die Aussicht gewidmet hat, dem letzten, das uns von Hölderlin überliefert ist, bemerkt man eine ähnliche Tendenz: die intakten Strukturen werden aufgezeigt, aber Wertungen, durch Vergleiche begründet, unterbleiben.[57] Unnachahmlichkeit an Zauber und Würde der Sprache hat auch Pierre Bertaux einem dieser Gedichte zuerkannt.[58] Solchen Verklärungen, Verharmlosungen und Beschönigungen ist zu widersprechen, damit man trotz aller komplexen und komplizierter Verhältnisse noch weiß, woran man ist. Diese spätesten Gedichte – was einer ausführlichen Begründung bedürfte – sind gegenüber dem Spätwerk das sehr andere. An einige Merkmale, die Bernhard Böschenstein anführt, sei erinnert: daß der Verfasser dieser Gedichte aufgehört habe, der Geschichte anzugehören; daß ein Rückzug in monotone idyllische Beschränkung stattfinde; oder daß die Alleinherrschaft des Präsens und einer zugleich perfektischen wie passiven Zeitform gelte. Die durch Krankheit bedingten Sprachveränderungen sind nun vollends evident. Die Sprechsituation geht in Kommunikationslosigkeit über. Darin beruht das Erschütternde dieser Verse, ihr zugleich menschlicher Wert, sofern sie von uns Verstehen und Teilnahme fordern. Das kann uns nicht hindern zu betonen, was alles ihnen fehlt. Sie sind einförmig, einsinnig und spannungslos. Der Kampf, dieses Aufbegehren gegen ein als übermächtig erfahrenes Geschehen, ist entschieden – zugunsten einer Harmonie, die nicht mehr aus der Spannung hervorgeht, sondern nunmehr zu einem unveränderlichen Zustand geworden ist. Das vormals so ausgeprägte Geschichtsdenken ist geschwunden, und die komplexen Zeitstrukturen sind auf einen Zeitsinn eingeschränkt. Demgegenüber zeichnet sich das Spätwerk durch eine Vielzahl von Bezügen und Zeitformen aus. ,,Todesgefühle“ stehen gegen das ,,Lebenslicht“, wie bezeichnende Ausdrücke im Böhlendorff-Brief lauten.[59] Die Werte dieses Spätwerks, die Bedrohungen wie die Sinngebungen, die es enthält, sind zumal in der Grundspannung, in der sie uns entgegentreten, die Werte unserer eigenen Existenz – die Krankheit eingeschlossen, die weder zu dämonisieren noch zu verklären war. Kunst aber kann niemals nur die Widerspiegelung solchen Geschehens sein. Sie ist für Hölderlin der bescheidene Versuch einer, wenigstens zeitweiligen, Heilung. Der Brief an die Mutter aus der Homburger Zeit ist das eindringliche Zeugnis solchen Denkens: „Ich bin mir tief bewußt, daß die Sache, der ich lebe, edel, und daß sie heilsam für den Menschen ist […].“[60]

Anmerkungen

[1] Der vorliegende Beitrag wurde als öffentlicher Vortrag im Rahmen des Kolloquiums am 5. Oktober 1979 in Bad Homburg gehalten. In der Kritik (G. Maschke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.10.1979) wurde die Konzilianz als erkenntnishemmend beanstandet. Ein entschiedener Angriff auf den anwesenden Bertaux habe gefehlt. Aber ,,Angriffe“ sind auch Stil- und Gattungsfragen; und sie in einem öffentlichen Abendvortrag zu führen, schien mir nicht angebracht, weil sich für deutliche und ,,entschiedene“ Auseinandersetzungen die Rezension in erster Linie anbietet. Eine solche bereite ich vor. Im Vortrag selbst ging es mir um eine Art indirekter ,,Widerlegung“: um die Verdeutlichung eines Bewußtseins von herannahender Krankheit als einer Situation konkreten Leidens, das verwandelt in die Dichtung eingeht. Es ging und geht mir darum, einer Verharmlosung des Geschehens entgegenzuwirken. Diese Verharmlosung als ein Absehen von der Realität, weil diese als Makel empfunden wird und die These von der reinen Dichtung empfindlich stört, hat mit Norbert von Hellingrath begonnen – bei allen Verdiensten sonst. Pierre Bertaux steht in dieser sehr deutschen Tradition, und vielleicht hat er nur etwas zu lautstark ausgesprochen, was sich die neuere Forschung seit Hellingrath immer wünschte.

[2] Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Göttingen 1921. S. 290 (hier nach der 12. Auflage zitiert).

[3] Martin Walser: Hölderlin zu entsprechen. Biberach 1970. S. 15.

[4] Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 47 (1979), S. 449 bis 465.

[5] Vgl. Helm Stierlin: Bleulers Begriff der Schizophrenie im Lichte unserer heutigen Erfahrung. In: Psyche 18 (1964/65), S. 630-642.

[6] Roman Jakobson: Hölderlin/Klee/Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte. Frankfurt a. M. 1976.

[7] Klaus Conrad: Die beginnende Schizophrenie. Stuttgart 1958. S. V.

[8] Hierzu neuerdings G. Huber, G. Gross und R. Schüttler (Schizophrenie. Berlin/Heidelberg/New York 1979. S. 61 ff.), die zwischen Vorpostensyndromen und Prodromen in den Vorstadien der Krankheit unterscheiden.

[9] Psychiatrie im Grundriß. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 528.

[10] Karl Jaspers: Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und Hölderlin. Basel 1949. S. 119. (Die erste Auflage ist 1921 erschienen.)

[11] Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin. Frankfurt 1978.

[12] Heidelberg. Versuch einer Deutung. In: Hölderlin-Jb. 2 (1917), S. 52.

[13] Jean Laplanche: Hölderlin et la question du père. Paris 1961; hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Hölderlin und die Suche nach dem Vater. Stuttgart 1975. Das Kapitel ,,Die Jenaer Depression“, S. 25-75.

[14] Zitate nach der Stuttgarter Ausgabe mit Band- und Seitenzahl werden in Klammern gesetzt. Wo mehrere Bände mit derselben Bandzahl vorliegen, gilt die fortlaufende Seitenzählung der Ausgabe.

[15] Hölderlins Sämtl. Werke. München und Leipzig 1916. Vierter Band, S. XI: ,,Dieser Band enthält Herz, Kern und Gipfel des hölderlinischen Werkes, das eigentliche Vermächtnis. Die grossen Hymnen darin empfand der Dichter selbst als Wort Gottes …“.

[16] Hölderlin-Studien. Frankfurt a. M. 1970. S. 37.

[17] Vgl. Emil Lehmann, der den Gattungsbegriff im Titel seiner Untersuchung gebraucht: Hölderlins Idylle ,,Emilie vor ihrem Brauttag“. Prager Deutsche Studien, 35. Heft. Reichenberg 1925.

[18] Hierzu Werner Kirchner: Hölderlins Entwurf ,,Die Völker schwiegen, schlummerten“ und die Ode ,,Der Frieden“. In: Hölderlin. Aufsätze zu seiner Homburger Zeit. Göttingen 1967. S. 7-33.

[19] Der Begriff ,,Revolutionsschwärmer“ bei Christian Waas: Franz Wilhelm Jung und die Homburger Revolutionsschwärmer (1792-1794). In: Festschrift Heinrich Jacobi zum 70. Geburtstag. = Verein für Geschichte und Altertumskunde zu Homburg 19 (1936). S. 31-80.

[20] Johann Christoph Adelung:Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Hildesheim/New York 1970. Bd. II, Sp. 1345. – Zur psychiatrischen Seite des Phänomens vgl. H. Feldmann: Hypochondrie. Berlin/Heidelberg/New York 1972.

[21] Wolfgang Binder: Abschied und Wiederfinden. Hölderlins dichterische Gestaltung des Abschieds von Diotima. In: Hölderlin-Aufsätze. Zürich 1970. S. 263 bis 293.

[22] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Hg. und kommentiert von Detlev Lüders. Bad Homburg 1970. Bd. II, S. 162.

[23] Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 3. Aufl. München 1964. Bd. II, S. 883.

[24] Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1951. S. 47-74.

[25] Walter Muschg: Die Zerstörung der Literatur. Bern 1956. S. 97.

[26] Wolfgang Schadewaldt: Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin. In: HJb 6 (1952), S. 5.

[27] Wolfgang Binder: Hölderlin und Sophokles. In: HJb 16 (1969/70). S. 21; jetzt in der Aufsatzsammlung des Verfassers: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur. Zürich und München 1976. S. 263.

[28] Paul Böckmann: Das ,,Späte“ in Hölderlins Spätlyrik. In: HJb 12 (1961/62). S. 218.

[29] W. Binder: Aufschlüsse. S. 265.

[30] Jochen Schmidt: Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk. In: HJb 15 (1967/68). S. 128-129. – Das Eigentümliche solcher Intensivierungen in Hölderlins Übersetzungswerk hat vor allem Wolfgang Schadewaldt mit Nachdruck betont, auf den J. Schmidt verweist. Bei Schadewaldt heißt es: ,,Hölderlin ergreift mit Vorliebe und großer Kraft Vorstellungen wie ,Zorn‘, ,Wahn‘, ,Wahnsinn‘, ,Wüten‘, ,Wildnis‘, ,Verwilderung‘, sowie alles bacchantische Wesen, wo der Text des Sophokles es darbietet, und er verstärkt es gegen Sophokles. […]“. (Sophokles. Tragödien. Deutsch von Friedrich Hölderlin. Frankfurt a. M. 1957. S. 56 f).

[31] ,,867 ,närrisch‘ im alten Sinn von ,geistig gestört‘ …“ (Ebd. S. 56).

[32] Vgl. hierzu die Erläuterungen Beißners: ,,In Hölderlins ganz freier Wiedergabe bedeutet kostet soviel wie ,versucht, schmeckt‘; Wahnsinn ist Objekt“ (V, 497).

[33] Jochen Schmidt: HöIderlins letzte Hymnen. ,Andenken‘ und ,Mnemosyne‘. Tübingen 1970. S. 7.

[34] Helm Stierlin: Hölderlins dichterisches Schaffen im Lichte seiner schizophrenen Psychose. In: Psyche 26 (1972), S. 538-541.

[35] Vgl. Paul Böckmann: „Seine Pindar-Übertragungen standen seit Hellingrath immer wieder im Mittelpunkt des Interesses […]. Die Bemühungen um Sophokles dagegen schienen mehr auf die allgemeine Teilnahme an der griechischen Dichtung hinzudeuten“ (HJb 1961/62, S. 219).

[36] Zum Prozeß ist auf Werner Kirchners Buch zu verweisen: Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair. Marburg 1949.

[37] Werner Kirchner: Hölderlin. Aufsätze zu seiner Homburger Zeit. Göttingen 1967. S. 58.

[38] P. Bertaux: Hölderlin. S. 100.

[39] Vgl. Wolfgang Binder: Hölderlins Patmos-Hymne. In: HJb 15 (1967/68). S. 100: ,,Gleichwohl wächst in ihr ein Rettendes, die Kommunikation mit andern […]“.

[40] ,,Ihre endgültige Gestalt finden die ersten Fassungen (Der Einzige reift allerdings nicht zu gänzlicher Vollendung) wohl im Herbst 1802, nach der Regensburger Reise, von deren günstiger Wirkung der Brief der Mutter an Sinclair vom 20. Dezember 1802 ausdrücklich zeugt“ (II,743).

[41] Vgl. Walter Hof: Hölderlins Stil als Ausdruck seiner geistigen Welt. Meisenheim 1956. S. 366.

[42] ,,Daß der Dichter auch im erhabensten Hymnus plötzlich eine gewissermaßen private Betrachtung anstellt über sich selbst und sein Tun, ist ganz Pindarisch […]“ (II, 698).

[43] W. Hof: Hölderlins Stil. S. 374: ,,Keineswegs darf man dahinter noch irgendeine bewußte Absicht vermuten, wie Beißner tut, wenn er meint, Hölderlin habe in seinen Übersetzungen durch schwäbische Dialektausdrücke das Sinnlich-Leidenschaftliche zur Geltung bringen wollen.“

[44] ,,Schien uns endlich die Dichtart von Patmos ein Äußerstes und mochte sie mancher schon als barock empfinden, jetzt sehen wir […] stufenweise künstlerische Ausdrucksmittel sich bilden, für deren Entwicklungsergebnis ich nicht unüberlegt das Wort Barock verwandt habe.“ (Sämtl. Werke. Vierter Band, S. XVI).

[45] Hierzu die erhellenden Erläuterungen J. Schmidts: Hölderlins letzte Hymnen. S. 1 ff; ferner P. Szondi: Hölderlin-Studien. S. 95-118.

[46] W. Binder: Patmos-Hymne. S. 123.

[47] Jochen Schmidt: Hölderlins letzte Hymnen. S.3. – Ähnlich hinsichtlich des Zustandes in diesem Herbst urteilt Walter Hof: Hölderlins Stil. S. 311.

[48] Hölderlin. Eine Chronik in Text und Bild. Hg. von A. Beckund P. Raabe. Frankfurt 1970. S. 66.

[49] U. Supprian: Schizophrenie und Sprache bei Hölderlin. In: Fortschritte der Neurologie/Psychiatrie 42 (1974), S. 615-634.

[50] Den ersteren gebraucht Winfried Kudzus in seinem Buch: Sprachverlust und Sinnwandel. Stuttgart 1969.

[51] Patmos-Hymne. S. 115.

[52] Psychiatrie im Grundriß. S. 311.

[53] Friedrich Hölderlin. S. 17.

[54] Bernhard Böschenstein: Hölderlins späteste Gedichte. In: Über Hölderlin. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt 1970. S. 153-174.

[55] Von diesen eigentlich überholten Prämissen geht P. Bertauxaus; und da es gänzlich Unverständliches bei Hölderlin kaum gibt, weil sich in diesem gewaltigen Corpus nahezu jeder Text aus anderen Textteilen ableiten läßt, kann die ausschließlich geisteswissenschaftliche ,,Beweisführung“ gewagt werden; denn Krankes ist in dieser Beweisführung dort nicht vorhanden, wo es psychologische Erklärungen gibt; und die gibt es in großer Zahl.

[56] Zu den Gedichten der letzten Lebenszeit. In: HJb 2 (1947). S. 8-9.

[57] Hölderlin/Klee/Brecht. S. 27-96.

[58] Friedrich Hölderlin. S. 34.

[59] ,,In den Gegenden […] hat mich das wilde kriegerische interessirt, das rein männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird … und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt […] (VI, 432).

[60] Hölderlins Wort von der Heilsamkeit der Kunst findet sich im Brief an die Mutter vom 16. XI. 1799 (VI, 372). – Erst nach Abschluß dieses Beitrags habe ich Einblick in neuere Arbeiten nehmen können, die U. H. Peters, Direktor an der Nervenklinik der Universität Köln, diesen Fragen gewidmet hat; zum ersten in der Kölner Antrittsvorlesung ,,Hölderlin. Dichter, Kranker – Simulant?“; und zum zweiten in einem abgeschlossenen Buchmanuskript gleichen Titels. Für die Einsichtnahme bin ich Herrn Peters aufrichtigen Dank schuldig. Zweifellos handelt es sich um eine der hölderlinfreundlichsten Studien von psychiatrischer Seite, die es gibt. Im medizingeschichtlich-diagnostischen Teil wird der Krankheitsbefund einer Schizophasie (im Anschluß an einen schon von Kraepelin gebrauchten Begriff) einläßlich begründet. Obwohl sich die Untersuchungen, zumal in diesen Teilen, mit den eigenen Ausführungen eng berühren, war im einzelnen aus Zeitgründen darauf nicht mehr einzugehen. In der seit langem ausstehenden Veröffentlichung einer Akademieabhandlung über Hölderlins Dichtung und Wahnsinn im Verständnis des 19. und 20. Jahrhunderts werde ich mich gern auf diese mir wertvollen Studien beziehen.

Hinweise der Redaktion

Der zuerst 1981 erschienene Aufsatz wurde übernommen aus:

Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2018 (online; erscheint 2020 auch als gedrucktes Buch). – Die Aufsatzsammlung enhält einen weiteren Beitrag über Hölderlin: Diltheys Rehabilitierung Hölderlins.  Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung.