Untote Grenzgänger

Bernhard Unterholzners „Die Erfindung des Vampirs“ ist eine Diskursgeschichte über den Blutsauger

Von Lea ReiffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Reiff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist ein Vampir? Eine einfache Definition lässt sich kaum ausmachen, wie Bernhard Unterholzners Dissertation Die Erfindung des Vampirs anschaulich darlegt. Zwischen selbstreferentiell wucherndem Mythos und polyvalentem Kollektivsymbol handelt es sich bei Vampiren in erster Linie um ein Grenzphänomen, nämlich einen „Grenzmarker in disziplinären Streitigkeiten“.

Bereits der Ursprung des Mythos in der „Leipziger Vampirdebatte“ um einen berühmten Fall von Vampirismus im serbischen Dorf Medvedja in der äußersten Peripherie des Habsburgerreichs in den Jahren 1731/32 markiert eine geographisch-territoriale ebenso wie eine disziplinäre Grenze zwischen Medizin und Theologie im Streit um die Deutungshoheit über die Ereignisse. Im Anschluss an Reinhart Kosellecks Unterscheidung zwischen „Begebenheiten“ und „Ereignissen“ definiert Unterholzner dieses Geschehen als transnationales europäisches Medienereignis, d. h. als „eine Begebenheit, die in der medialen Zirkulation Qualitäten eines Ereignisses gewinnt“.

Bereits zu diesem Zeitpunkt seiner Erfindung zeichnet den Vampir eine „Distanzierung des Schreckens als Mechanismus der Aneignung aus“: Nicht nur die Gestalt des Wiedergängers selbst, auch der Glaube an ihn wird in südosteuropäische Grenzregionen an der österreichischen Militärgrenze ausgelagert und als Gegenbild zu einer aufgeklärten Gesellschaft entwickelt. Bereits Bezeichnungen wie „Vampir“ oder „Nosferatu“ zeigen, dass die Projektion von Vampirismus – eines „krankmachenden Aberglaubens an Vampire“ – auf die Bevölkerungen dieser Grenzregionen in zahlreichen Missverständnissen und Zuschreibungen produktiv wurde. Neben der Konstitution eines „Phantasmas der zivilisatorischen Überlegenheit“ erfüllt der Versuch, den vermeintlich naiven oder rückständig-irrationalen Anderen einen Vampir(aber-)glauben nachzuweisen bis in die Dokutainment-Formate der Gegenwart die Funktion eines „Garanten des Mythos“. Nur, wenn es einen Anderen gibt, der wirklich an Vampire glaubt, lässt sich behaupten, dass „die Sache nicht reine literarische Erfindung war“. Folglich, so Unterholzner, fungiert die Frage nach dem „wahren Vampir“ als stabilisierende „Triebfeder des Vampirmythos“.

Dass an dieser „Produktion eines wahren Kerns“ nicht nur verschiedene Akteure, sondern – diachron wie auch synchron – die unterschiedlichsten Disziplinen von der Medizin über Geschichtswissenschaft und Naturforschung bis hin zu Psychoanalyse und Sexualwissenschaft beteiligt waren, macht deutlich, wie eng Ausgestaltung und Fortschreibung des Mythos mit wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen und epistemologischen Paradigmenwechseln verbunden sind, die wiederum in literarischen Texten ihren interdiskursiven Niederschlag finden. So suchten die Naturforscher des 18. Jahrhunderts beispielsweise unter den Fledermaus- und Flughundarten den „wahren Vampyr“ und schufen durch die Illustrationen ihrer Naturgeschichten „mit ihren Imaginationen des Fledermaushabitats als Ruinenlandschaft zwischen Arkadien und gothic die visuellen Vorläufer für die romantische Vampirliteratur und spätere Filminszenierungen“. Versuche, den Vampir als real existierende Gestalt in einen naturphilosophischen Rahmen zu integrieren, fanden 1871/72 mit Maximilian Pertys auf dem Sachbuchmarkt äußerst erfolgreichen späten Schriften über Mystische Erscheinungen ihren Abschluss. Vampirmetaphorik, die als rhetorischer Wiedergänger an Narrativen ökonomischer Ausbeutung, des Aussaugens von Lebens- und Nervenenergie oder der biologistischen Infektion eines Volkskörpers partizipiert, die jeweils unterschiedlichen Epistemen entstammen, ist hingegen auch heutzutage weitverbreitet, wie die Beispiele aus Unterholzners Resümee zur Erfindung des Vampirs zeigen: So etwa in der Kampagne der US-Regierung unter George W. Bush gegen Elektrogeräte mit hohem Stromverbrauch im Standby-Modus, sogenannte „energy vampires“. Auch die Karriere des Vampirs als politische Metapher ist trotz weitgehender Ablösung durch Viren, Bazillen und Parasiten seit den 1920ern und vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus keineswegs beendet.

„Das ständige Schreiben“, so Unterholzner, „erschuf eine kollektive Erzählung, an der sich Gelehrte der Aufklärung, Schriftsteller, Naturphilosophen, Volkskundler, Psychiater, Psychoanalytiker, Sachbuchautoren, Massenmedien und ein stets interessiertes Publikum beteiligten“. Das (Text-)Korpus, das Unterholzner seiner Untersuchung zugrunde legt, beinhaltet dementsprechend sowohl literarische Texte als auch Wissenschaftsprosa als auch Filme und populärwissenschaftliche Bearbeitungen; die Fülle des Materials ist beeindruckend. Anders wäre Unterholzners selbstgestellte, ambitionierte Aufgabe, eine Diskursgeschichte des Vampirs zu schreiben, auch kaum einzulösen gewesen.

Während die Bekanntheit literarischer Texte wie Johann Wolfgang von Goethes Braut von Korinth oder vor allem Bram Stokers Dracula durchaus vorausgesetzt werden kann, wäre insgesamt mehr konkrete Textarbeit wünschenswert, auch wenn dies den Umfang der Monographie deutlich vergrößert hätte.

Was das Buch verspricht, hält es dennoch in jeder Hinsicht. Neben einem fundierten und methodisch sauber erarbeiteten Überblick über die Geschichte des Vampirs zwischen „Aberglauben der Osteuropäer, Fledermaus, Energiesauger, Sadist und Lusttraum“ erhält man vor allem auch eine wertvolle Zusammenschau des aktuellen Forschungsstandes, die es ermöglicht, einzelnen – auch forschungsgeschichtlichen – Aspekten des Großprojekts noch einmal en detail nachzugehen. „Man hätte den Vampir nicht besser erfinden können“, schließt Unterholzner seine Untersuchung. Ob man die Erfindung des Vampirs besser hätte beschreiben können, ist zumindest fraglich.

Titelbild

Bernhard Unterholzner: Die Erfindung des Vampirs. Mythenbildung zwischen populären Erzählungen vom Bösen und wissenschaftlicher Forschung.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2019.
372 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783447112994

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch