Abenteuer – einfach spannend, aber auch philologisch aufregend

Der neue Sammelband „Abenteuer“ von Martin v. Koppenfels und Manuel Mühlbacher hat einen weiten Blick und ist reich an klugen Deutungen

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zentrum eines Abenteuers und einer Abenteuererzählung steht ein leistungsstarker Held, der Gefahren überwindet. Der Begriff Abenteuer lässt sich weit fassen, von Volker Klotz stammt der Satz: „Abenteuerliteratur ist so alt wie Literatur überhaupt.“ Man kann sogar noch weiter gehen und etwa vom ‚Abenteuer des Lesens’, vom ‚Abenteuer der Wissenschaft’ sprechen. Das erstere behandelt in diesem Band ein Aufsatz von Kathrin Härtl über Paratexte in der Abenteuerliteratur. Sie erinnert an Robert Louis Stevensons Wort vom „wollüstigen“ Lesen und zitiert und interpretiert die Vorrede von Mark Twains Huckleberry Finn, die den Leser scharf warnt: „Persons attempting to find a motive in this narrative will be prosecuted“ und: „persons attempting to find a plot in it will be shot“. Lesen belastet und verunsichert! Auf das ‚Abenteuer der Wissenschaft’ werden wir noch zurückkommen. 

Andererseits kann man die Begriffe Abenteuer und Abenteuerliteratur auch präziser fassen und sie eng mit den höfischen Versromanen aus dem 12. Jahrhundert verbinden, mit Parzival, mit Éric und Énide, mit Yvain (Chrétien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach) und anderen. Damals erschien das Wort ‚aventure‘ (daraus mhd. aventiure, Abenteuer, von lat. advenire, ankommen) zum ersten Mal in der Literatur, es bedeutete ‚das von allein Kommende‘, ‚Zufall‘, ‚zufälliges Geschehen‘. Der Held empfindet seinen Kampf gegen diese ‚aventures‘ als Prüfungen. In diesem Sinne sind Abenteuergeschichten diejenigen Heldengeschichten, in denen der Held seine Kämpfe als eine Ehrensache ansieht. Dies ist der Kern der ‚Minimaldefinition des Abenteuers‘, die von der Münchner Forschergruppe ‚Philologie des Abenteuers‘ aufgestellt wurde. Aus dieser Gruppe stammt der vorliegende Sammelband.

Das Abenteuer als eine abzuleistende Ehrensache: Diese Definition bezieht die Psyche des Helden (des ‚Abenteurers‘) ein, ist aber vor allem erzähltheoretisch fundiert: Die Idee der Ehrensache muss sichtbar werden, der Held muss sich direkt oder indirekt zu ihr bekennen, und das heißt: Er erlebt nicht nur Abenteuer, sondern durchdenkt sie, deutet sie und stellt sie den Mitmenschen unter den ihm wichtigen Vorzeichen vor. Kurz: Im Werk findet die Selbstreflexion statt.

Mireille Schnyder erörtert in ihrem Beitrag dieses mündliche Agieren des Abenteuerhelden. Sie spricht von der „Lust des reflektierenden Spiels“ und stellt dar, wie innerhalb des Erzählens selbst die Texte sich nach und nach in Literatur verwandeln. Martin von Koppenfels zeigt in seinem Rundblick, wie dieses ‚zu Literatur Werden‘ stark auf die gebundene Sprache angewiesen war. Ausuferndes, Fantastisches oder gar Triviales musste durch den Reim gleichsam veredelt werden. Doch später, im Prosa-Lancelot und in Cervantes‘ Don Quijote, findet die Abenteuererzählung doch zur Prosa und damit zu einem größeren „perspektivischen Freiraum“. Aber selbst noch im Don Quijote, der das Abenteuer ironisch behandelt, gibt es eine „rhythmische und musikalische Matrix“, und zwar besonders in den Reden des Helden, die zugleich eine Art von „Delirien“ sind.

Angesichts der strengen Definition der Abenteuererzählung ist es eine philologische Aufgabe zu erforschen, inwieweit Kreationen, die gemeinhin zu dieser Gattung gezählt werden, überhaupt ‚abenteuerlich‘ sind. Wie ist es mit Grimms Märchen, mit den Fantasy-Werken von George R. R. Martin und, vor allem, mit Homers Odyssee? Die Märchen behandelt Wolfram Ette. Er betont, dass die Märchenhelden ihre gefährlichen Erlebnisse nicht reflektieren – es ist ja auch „die Not“ (das materielle Elend oder ein Familienstreit), die den Helden hinausschickt, eine wirkliche Abenteuersuche findet nicht statt. Und wo gibt es in den deutschen Märchen den Wunsch „sich abzureagieren“ oder gar die „homoerotisch“ gefärbte Lust am Kampf Mann gegen Mann, also das, was nach Ette den höfischen Roman stark prägt! Jan Söffner legt in seiner Untersuchung zur Fernsehserie Game of Thrones und der ihr zugrunde liegenden Martin’schen Roman-Reihe A Song of Ice and Fire dar, dass beides in der Tradition der Heldenreise steht: Der Held überschreitet eine geografische Grenze, macht aber keine irgendwie ehrenvollen, sondern traumatische Erfahrungen. Den Abenteuerhelden oder Nicht-Abenteuerhelden Odysseus behandelt Susanne Gödde. Zwar sei Odysseus einer, der sogar ins Unbekannte reist. Aber von ‚zufälligen Ereignissen‘ zu sprechen ist nicht angemessen, weil die Götter all die Gefahren geplant haben, und vor allem sucht Odysseus nicht das Abenteuer und betrachtet es erst recht nicht als Ehrensache, sondern er ist ein großer „Dulder“, der vor allem heimkehren will. Das Urteil daher: Die Odyssee ist keine Abenteuergeschichte.

Man könnte Gödde vorhalten, dass ihr Urteil spitzfindig ist, dass sie nur zu diesem kommt, indem sie eine enge Definition des Abenteuers zugrunde legt. Aber der Wert ihrer Arbeit liegt gar nicht in diesem Schlussurteil, sondern in der Fülle ihrer Beobachtungen über Odysseus. Sie erkennt, dass Odysseus auch ein aktiver Sucher ist und der „Götterapparat“ ihn doch nicht zur „Handlungslethargie“ verführt. Sie stellt auch dar, dass Odysseus‘ Erfolge mit einer „Moral der Entbehrung“ erkauft werden und dass Odysseus selbst eine „Ordnung“ in sein ‚Abenteuerleben‘ bringt, indem er als eine Art Sänger am Hof der Phaiaken seine gesamte Irrfahrt rekapituliert. Susanne Gödde analysiert eine Fülle von abenteuerhaften Motiven in der Odyssee, auch wenn sie – und das ist kein Widerspruch – das Werk nicht als Abenteuererzählung anerkennt.

Mit einigen Beiträgen lassen sich auf höchst informative Weise die Jahrhunderte durchwandern. Manuel Mühlbacher beschäftigt sich mit Ariosts Orlando furioso. Er wurde im 16. Jahrhundert zum Diskussionsstoff der Gebildeten in Italien. Man lehnte die fast endlose Abenteuerreihung ab und verunglimpfte den Furioso als degradierte Epik, und zugleich war er heimliches Vorbild der Dichter. Die Wiederentdeckung der Poetik des Aristoteles mit ihrer Forderung nach Einheit der Handlung spielte dabei eine große Rolle. Michael Waltenberger deutet die Abenteuersphäre im Schelmenroman: Sie sei nicht etwas Neu- und Fremdartiges, sondern bestehe aus der ‚Verabenteuerung‘ der vertrauten Umwelt. Das Individuum, so wie es eben ist, zeichne sich dadurch unverfälscht ab. Inka Mülder-Bach erörtert in ihrer Studie Goethes Novelle und damit die Formverwandtschaft von Novelle und Abenteuer. Die mittelalterliche ‚aventure‘ sei „eine episch-romantische Stammart des novellistischen [unerhörten] Ereignisses“. Aage A. Hansen-Löve befasst sich mit den, wie er sagt, „goldenen 20er Jahren“ der Sowjetunion, in denen für kurze Zeit ein freier literarischer Markt funktionierte. Die literarische Avantgarde – Lev Lunc, Jevgeni Samjatin sowie Vsevolod Ivanov und Viktor Sklovsky mit ihrem Roman Iprit – griff die Abenteuerromane auf und brachte eine „experimentelle Schundliteratur“ zuwege, d. h. eine „parodistische Literarisierung von Trivialgattungen“. Hansen-Löves Beitrag ist vorzüglich bebildert.

Dariya Manova widmet sich den Stoffen der Abenteuer, und zwar behandelt sie „Stoffbiographien“. Dies sind die reißerischen Sachbücher über den imperialistischen und kapitalistischen Handel mit Rohstoffen; sie erschienen in den 1920er und 1930er Jahren (u. a. Anton Zischka: Kampf um die Weltmacht Öl; Heinrich E. Jacob: Sage und Siegeszug des Kaffees). Manova zählt sie zur Abenteuerliteraturund erfasst als ihre Vorläufer die Artikel und Essays, die der frühe Karl May um 1875 für die Bergarbeiter-Zeitschrift ‚Schacht und Hütte’ geschrieben hat. May glorifiziert die Bergleute, nennt ihr Schürfen in der Tiefe einen verantwortungsvollen Akt und unterstreicht den Wert ihrer Bodenprodukte für die Massen im Alltag. Ein May’scher Beitrag lautet Ein königlicher Proletarier; gemeint ist das Eisen. Die teils originellen, teils bieder-belehrenden Texte Mays deuten auf die Verknüpfung von „Abenteuer und Rohstoff“ mit ihrer sozialen Brisanz voraus, also auf die genannten Stoffbiographien. Zum anderen bereiten diese Texte das Terrain für Mays späteres Schaffen, für seine exotischen Abenteuergeschichten wie Ein Oelbrand, Der Oelprinz und Der Schatz im Silbersee, in denen die heldische Schatzsuche im Mittelpunkt steht.

Julika Griem fasst den Begriff Abenteuer sehr weit – wir kommen damit auf das eingangs angeschnittene Thema ‚Abenteuer der Wissenschaft’ zurück. Wie kann man Wissenschaft als ein Abenteuer betreiben? Griem nennt zunächst moderne schulische Projekte (Schüler forschen ganztägig naturnah im Wattenmeer) unter der Devise ‚Abenteuer statt Unterricht‘. Sie zitiert Francis Bacon, der in seinem Werk Novum Organum, wie er metaphorisch sagt, „den menschlichen Geist zur Fahrt ins offene Meer vorbereiten“ will. Sie nennt Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf von 1917, in dem Weber den Wissenschaftler sich als nach Wahrheit strebenden Helden wünscht und nicht als bloßes Mitglied im Wissenschaftsbetrieb. Die in all dem anklingende Vorstellung ‚Wissenschaft als Abenteuer‘ findet Griem deutlich in zwei neueren Prosawerken wieder, in denen „imaginierte Reisen in verschiedene Epochen“ stattfinden und in denen Wissenschaftlerinnen – eine Mediävistin bzw. eine Orientalistin – gegen das von Examens- und anderen Riten beherrschte Wissenschaftsszenario ankämpfen. Es handelt sich um Felicitas Hoppes Johanna (2006) und Mathias Énards berühmten Kompass (im französischen Original Boussole, 2015). In beiden Fällen geht es um die „Rettung der Forschung vor ihren Institutionen“, die durch die „Mobilisierung erkenntnisstiftender Leidenschaften“ gelingen soll. Die beiden Wissenschaftlerinnen bestehen Abenteuer, indem sie sich mit Abenteuerhelden und zugleich – das ist entscheidend – mit der Wissenschaft befassen, die diese Abenteuerhelden erforscht. Vielleicht, sagt Griem, können diese beiden Werke mit ihrem ‚abenteuerlichen Elan‘ die Anleitung sein für ein „hartnäckiges und frustrationstolerantes“ Wissenschaftsethos.

Alle Beiträge dieses Sammelbandes sind in lebendigem Stil geschrieben. Allerdings stört, dass die behandelten Werke und Schriftsteller nicht immer klar und deutlich vorgestellt werden. Was ist denn der Prosa-Lancelot für ein Werk, was ist genau unter dem „Roman von der Crone“ und unter dem Wigalois zu verstehen? Nicht für jeden Literaturinteressierten sind das gängige Begriffe. Unsere Kritik gilt besonders dem Aufsatz von Söffner: Der Leser erfährt keine Jahreszahl hinsichtlich des Autors George R. R. Martin, der Erstpublikation seines Romans, der Ausstrahlung (in welchen Sprachen?) seiner Fernsehserie – Kulturwissenschaft nur für einen engen Kreis von Eingeweihten?

Doch halten wir fest: Der Band beeindruckt durch seine sehr breite Sicht, durch seine Aufmerksamkeit, ja Versessenheit auf das philologische Detail und durch sein sorgfältiges und scharf konturierendes Argumentieren. Er führt sonst kaum beachtete Phänomene in der Historie der Erzählkunst vor. Er ist ein geistiger Genuss für den, der Abenteuergeschichten liebt und in ihre Feinheiten eindringen will.

Titelbild

Martin von Koppenfels / Manuel Mühlbacher (Hg.): Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019.
279 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770564729

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