Über Juicer, Uber und Fahrradlieferdienste
Colin Crouch versucht sich in „Gig Economy“ an einer Lösung der Anerkennungskrise
Von Sebastian Engelmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseColin Crouch ist wahrlich kein Unbekannter in der Arena der politisch engagierten Literatur. Seine Essays zu Themen wie der Logik der Finanzmärkte, zum Neoliberalismus oder sein wohl bekanntester über Postdemokratie regen die Diskussion immer wieder an, geben Impulse und werden intensiv diskutiert. Seine aktuelle Publikation Gig Economy. Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co. verspricht eine Diskussion des wohl aktuell brennendsten sozialpolitischen Krisenphänomens: schlecht bezahlte und kaum anerkannte prekäre Arbeit. Die Gig Economy – so viel schon vorab – erweist sich als treffender Begriff für die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt, die wohl allen Lesern und Leserinnen nicht fremd sein dürfte.
Denn spätestens mit dem Aufkommen von E-Scootern in beinahe allen europäischen Groß- und auch Kleinstädten wurde die Gig Economy in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Juicer und Juicerinnen laden die Roller auf, die oft genug den Weg versperren oder rasend schnell auf Fußgängerwegen fahren. Diese JuicerInnen benötigen einen Gewerbeschein, sind also selbstständig, und laden die Roller in ihren eigenen Wohnungen auf. Selbstverständlich sind die Roller auch einzusammeln, was ohne Auto schwierig genug erscheint. Ein flexibler, dennoch prekärer und anforderungsarmen Job, der wohl keine Selbstständigkeit begründet, sondern in der Beschäftigung auch gefangen halten kann. Sozialer Aufstieg, gesichertes Einkommen oder gar betriebliche Weiterbildung sind in diesem Arbeitsverhältnis kein Thema.
Ähnlich verhält es sich auch mit den seit einigen Monaten heftig in die Kritik geratenen bekannten Lieferservices, welche von Lieferanten und Lieferantinnen aufrechterhalten werden, die mit dem Fahrrad unterwegs sind. Auch hier ist eine sozialversicherungspflichtige Anstellung nicht die Regel. Die Arbeitszeiten sind unregelmäßig und der Zeitdruck enorm hoch. Natürlich, als Zuverdienst oder auch als Möglichkeit „den Kopf freizukriegen“ mögen diese Jobs angemessen sein. Sie produzieren aber eine problematische Konstellation, welche von Crouch in Gig Economy eingehend analysiert wird. Zudem liefert Crouch aber auch einen Vorschlag zur Lösung des Problems – ob dieser auch trägt, soll abschließend diskutiert werden.
Der Essay fügt sich mit seinem Fokus auf den sich verändernden Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts in eine Vielzahl von zeitdiagnostischen Schriften ein. Seien es nun die Überlegungen von Oliver Marchart zur Prekarisierungsgesellschaft, die Analysen Oliver Nachtweys zur Abstiegsgesellschaft oder die Diagnose einer regressiven Moderne bei Heiner Geiselberger: Sie alle eint die Feststellung, dass der Arbeitsmarkt die Individuen zusehends ausnutzt.
Bestätigt wurde diese Diagnose 2017 auch von Andreas Reckwitz. In seinem Buch Gesellschaft der Singularitäten beschreibt er einen Wandel der Struktur der Spätmoderne, der sich auch in einer Veränderung der Arbeitsverhältnisse und einer damit verbundenen Krise der Anerkennung äußere. Prekäre, schlecht bezahlte und keineswegs der gehypten und vermeintlich freiheitlichen Kreativindustrie zugeordnete Jobs werden schlicht und ergreifend nicht wertgeschätzt. Das mündet in einer Krise der Anerkennung, welche die in prekären Jobs arbeitenden Menschen – so die Diagnose – in die Verzweiflung treibt und ihr Selbstkonzept unterminiert. Für die Soziologie ist hier freilich kein Handlungsbedarf geboten. Crouch wiederum, der Governance und Public Management lehrte, scheint aber eine handlungsorientierte Perspektive einzunehmen. Konsequenterweise endet das Buch dementsprechend auch in Vorschlägen zur Veränderung der Situation.
Bis diese Reformvorschläge dann aber tatsächlich formuliert werden, mäandert das Buch durch vier inhaltliche Kapitel, die zwischen Darstellung und Bewertung schwanken. Im ersten Kapitel verweist Crouch auf den Aufstieg prekärer Arbeit. Er eröffnet hier die Diskussion der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass prekäre Arbeitsverhältnisse einen zunehmenden Teil der Beschäftigungsverhältnisse darstellen und das Normalarbeitsverhältnis fast schon „unnormal“ geworden ist. Das erste Kapitel dient zudem der Einführung in den gesamten Band; Crouch bereitet die Plausibilisierung seiner These vor und gibt einen Einblick in die Argumentation, die in den drei folgenden Kapiteln entfaltet wird. Interessanter als der Gang der Argumentation – der sich konsequent an die internationale Diskussion um wohlfahrtsstaatliche Fragen hält – ist jedoch Crouchs Lösungsvorschlag.
Das Problem, das durch die Gig Economy entsteht, ist für Crouch schnell ausgemacht: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen keinen gesicherten Lebensstil. Die Antwort auf dieses Problem sieht er nun nicht auf individueller Ebene verortet. Denn ein strukturelles Problem zu lösen, ist für Crouch nicht Aufgabe der Individuen. Er spricht sich daher für eine sozialstaatliche, gesetzliche Regulierung aus, die den Druck von den Beschäftigten nimmt. So wird die Politik gegen den Markt in Stellung gebracht. Dies ist eine Bewegung, die sich auch bei Reckwitz finden lässt. Anstatt die strukturelle Problemlage weiterhin zu individualisieren, müsse sie als allgemeines Problem adressiert und so auch gelöst werden.
Konkret spricht Crouch sich für eine Übernahme der Arbeitnehmerbeiträge durch jene aus, welche die Arbeitskraft schlussendlich auch nutzen. Als erster Schritt auf diesem Weg müsse freilich definiert werden, was die „Nutzung menschlicher Arbeitskraft“ bedeutete – das formelle Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde dann in den Hintergrund treten. Generell laufen die Forderungen von Crouch auf eine erneute Diskussion und damit einhergehend eine Neuaushandlung des Machtverhältnisses von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hinaus. Insbesondere in der Gig Economy müsse zunächst das eigentliche Problem markiert werden: Die ArbeitnehmerInnen sind nicht frei, sondern auch als „Selbstständige“ Teil der Gewinnmaximierung von Konzernen, die sie ausbeuten.
Politische Regulation kann sich nun den Regeln des Marktes beugen und die Gewinnmaximierung der Konzerne weiter unterstützen. Stattdessen – so Crouch – müsse durch kluge Regulationsmaßnahmen auf rechtlicher Ebene das Normalarbeitsverhältnis ausgedehnt und für eine größere Gruppe verfügbar gemacht werden. Letztlich gehe es darum, „dass Besteuerung und Regulierung keine falschen Anreize setzen, und die Spaltung der Arbeitnehmerschaft in die auf der sicheren und die auf der prekären Seite zu verhindern“. Crouch sucht in seinem Essay nach den Stellschrauben für den Markt auf regulatorischer Ebene. Er versucht eine Steuerungsinstanz zu konzipieren, die neue Anschlussmöglichkeiten für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit prekären Beschäftigungsverhältnissen eröffnet. Den metaphorischen Gegner findet Crouch dabei im Neoliberalismus.
Unabhängig davon, ob die Leserinnen und Leser dieser Diagnose und seinem Vorschlag nun zustimmen oder nicht, erscheint eine Dimension jedoch eigentümlich unterbeleuchtet. Auch wenn die Machtverhältnisse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern letztlich neu konfiguriert werden sollen, bleibt der Staat selbst als durch Gesetzgebung regulierende Instanz in Crouchs Essay beinahe ein machtfreier Raum. Die der Argumentation von Crouch zugrunde liegenden Überlegungen zur Handlungskoordination funktionieren im machtfreien Raum sehr gut, das Argument überzeugt. Die Gesetzgebung erscheint als Apparat aber weit weniger wirkmächtig, als sie von Crouch skizziert wird. Sie wird von Crouch als neutral, rational eingeführt – realpolitisch wird sie aber durch genau die Mechanismen gesteuert, die Crouch in Postdemokratie selbst beschrieben hat. Und möglicherweise ist der Vorschlag von Crouch genau deshalb zu kritisieren. Eine solche Kritik führt aber sicherlich auch nicht zur Änderung der Verhältnisse.
Selbstverständlich darf niemand von einer Intervention qua Essay erwarten, dass sie bis in den letzten Buchstaben alle theoretischen Einwände mitdiskutiert und reflektiert. Und deswegen ist der Entwurf von Colin Crouch trotz allem erneut ein wichtiger Einwand und eine Erinnerung daran, dass zumindest im Denken noch Alternativen zur Realität des Neoliberalismus vorhanden sind. Ganz abgesehen davon, dass der Autor Leserinnen und Leser mit strukturellen Problemen konfrontiert, macht er aber auch darauf aufmerksam, dass wir alle von der prekären Beschäftigung anderer Menschen profitieren – und das sollte uns nun endlich aufhorchen, nachdenken und idealerweise auch handeln lassen.
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