Im Antiquariat der Vergangenheit

Ingo Schulze versucht in seinem Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ aufzuzeigen, warum es so schwer ist, Antworten auf den Rechtsruck im Osten Deutschlands zu finden

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Februar schrieb ich im Zusammenhang mit dem Schwerpunkt „Politisierung in der Gegenwartsliteratur“ über den Fall Uwe Tellkamp und die Debatte um seinen neuen Roman, die von den zunehmend erratischen öffentlichen Auftritten des Autors ebenso überschattet wurde wie die von ihm angeprangerte Tendenz, rechte Positionen in der Kunst zu stigmatisieren. Im Dresdner Buchladen von Susanne Dagen – auch sie, nicht zuletzt als Initiatorin der Charta 2017, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten – stellt Tellkamp nun eine neue Erzählung vor. Diese erschien in der von Dagen initiierten Reihe „Exil“, wobei die Buchhändlerin hiermit wohl eher das innere Exil meint, in das sich ‚kritische Köpfe‘ ihrer Meinung nach im heutigen Deutschland begeben müssen. Nebenbei sei angemerkt, dass Tellkamp bei besagter Lesung, glaubt man dem Bericht über die Lesung in der FAZ, „ein T-Shirt mit dem Logo der aufgehenden Sonne, auf dem die Buchstaben FDJ durch CDU ersetzt waren, auf die Bühne [trug], fiel davor auf die Knie und flehte: ‚Lieber Kritiker, bitte, ich will in der Mitte der Gesellschaft sein und es ganz bestimmt nicht wieder tun.‘“

Was das alles mit dem neuen Roman von Ingo Schulze zu tun hat? Tatsächlich ziemlich viel. In „Die rechtschaffenen Mörder“ geht es um den angesehenen Dresdner Antiquar Norbert Paulini und dessen langsamen Niedergang nach der Wende. Schulzes Sprachduktus im ersten Segment des dreigeteilten Romans erinnert an ein Märchen, dazu noch an eines aus ferner Zeit. Das erste Kapitel steigt in der Hochphase von Paulinis Schaffen als eine Art Magier unter den ostdeutschen Buchhändlern ein. Der, wie wir im Laufe des Romans erfahren werden, ziemlich schrullige Mann wird vom Erzähler als empathisches Universalgenie eingeführt. Sein Laden scheint die Pilgerstätte literaturverliebter DDR-Bürger zu sein. Für die Gegenwart ist hier wenig Platz, Kunden und Antiquar schwelgen in der deutschen Klassik oder Romantik. Der Zauber der Haptik wird hervorgehoben, die Vorsicht, mit der Paulini seine Bücher, die ja irgendwie seine Kinder zu sein scheinen, behandelt, immer wieder herausgestrichen.

Ab dem zweiten der zahlreichen kurzen Kapitel dieses ersten Teils bekommt der Leser chronologisch das Leben Paulinis erzählt: Der Tod der bücherliebenden Mutter, sie auch Buchhändlerin, kurz nach der Geburt, das Aufwachsen unter den geerbten Büchern, der Unwillen, sich in die DDR-Gesellschaft zu integrieren und das Ziel, das Leben nur noch mit Büchern zu verbringen. Die Ehe mit einer wenig belesenen Friseurin wird nur eingegangen, weil Paulini sich in gesellschaftliche Normen zu fügen versucht (und weil er, wie wir später erfahren, doch einiges für das weibliche Geschlecht übrighat).

Doch mit der Wende beginnt der Niedergang. Paulinis Bücher werden zum Symbol des Zerfalls der DDR. Sie, die einst mit großer Sorgfalt vom Antiquar gepflegt und verkauft wurden, werden ihm plötzlich zu Spottpreisen angeboten oder landen gleich auf Müllkippen. Sehr bewegend und gleichzeitig erdrückend ist die Szene, als Paulini auf einen Tipp hin eine dieser Büchermüllkippen ausfindig macht und wie manisch versucht, die abertausenden DDR-Ausgaben zu retten. Einerseits wird der Antiquar nun zu einer Art Büchermessie, der alles hortet, was er finden kann; andererseits zwingt ihn der schonungslose Kapitalismus, seinen Laden und damit seinen Traum aufzugeben. Er schlägt sich ab sofort mit Gelegenheitsjobs durch, durchleidet eine Scheidung und zieht sich schließlich frustriert mit seinen Büchern aufs Land zurück.

Dieser erste Teil, der allerdings den Großteil des Romans einnimmt, endet abrupt, mitten im Satz sogar, mit der Andeutung einer politischen Radikalisierung Paulinis im Zuge von Pegida und den zunehmenden Übergriffen auf ausländische Mitbürger im Dresden der Gegenwart. Im zweiten Teil wird deutlich, dass die gerade gelesene, märchenhafte, literarisch ausgeschmückte Biographie des Buchhändlers von einem Dresdner Schriftsteller namens Schultze (mit t) stammt, der dem Autor Ingo Schulze ziemlich ähnlich ist. Dieses Segment erzählt die Geschichte eines gescheiterten Versuchs, ein Buch über Paulini zu schreiben, nämlich jenes, das wir gerade gelesen haben. Es kommt zu zahlreichen, auch amourösen, Verwicklungen, die schließlich zu einem tragischen Ende führen.

Der sehr kurze dritte Teil wiederum ist aus der Perspektive von Schultzes Lektorin geschrieben, die dem Geheimnis um Paulinis politischer Radikalisierung und Schultzes Rolle dabei nachgehen möchte, um das immer noch unfertige Buch ihres Schützlings vielleicht doch noch irgendwie zu einem Ende zu bringen. Wie zu erwarten war, bleiben am Ende mehr Fragen als Antworten, auch wenn die Auflösung des plötzlich eingefügten Krimiplots extrem konstruiert und vorhersehbar wirkt.

Dennoch ist es bewundernswert, wie subtil Schulze mit seiner eigentlichen Thematik, der Frage nach dem Grund der politischen Radikalisierung in Ostdeutschland umgeht. In „Die rechtschaffenen Mörder“ gelingt es ihm, diese so geschickt in den Hintergrund zu drängen, dass sie trotzdem immer präsent bleibt, als eine Art Elefant im Raum. Dass die Lektorin (und mit ihr der Autor Ingo Schulze) am Ende keine Erklärungen findet, die rational nachvollziehbar wären, außer einem steten Abwägen von persönlicher und öffentlicher Geschichte und wie beides gerade im Zuge der Wende dann doch miteinander verwoben ist, auch wenn der Protagonist dies zeitlebens von sich weist, ist der besondere Clou an diesem Roman. Es gibt keine Schuldzugeständnisse, jede Art einer kollektiven Schuldzuweisung endet im luftleeren Raum. Auch der seit langem in Berlin lebende Schulze gibt indirekt zu – mittels seines Alter Egos Schultze – die Bindung und damit auch das Verständnis für seine ostdeutsche Heimat mit den Jahren verloren zu haben. Gleichzeitig ist der Roman aber auch eine gnadenlose Abrechnung mit der bornierten Ignoranz, die unsere Gegenwart politisch bestimmt; ein Bericht aus einer Region, die von der Geschichte überrollt wurde.

Vielleicht hat sich Schulze Susanne Dagen und Uwe Tellkamp zum Vorbild für seinen Roman genommen, vielleicht um aufzuzeigen, dass Schuldzuweisungen nicht immer das probate Mittel sind, um uns unverständliche gesellschaftspolitische Vorgänge zu beschreiben. Das ist mitfühlend und verständnisvoll. Vielleicht sollte aber auch Uwe Tellkamp in Zukunft ein wenig an seiner Garderobe arbeiten, um eine Art Annäherung nicht unnötig zu verkomplizieren.

Titelbild

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
272 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103900019

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