Wal! Da stößt er!

Gelungene Neu-Edition von Owen Chases „Tage des Grauens und der Verzweiflung“, des Tatsachenberichts hinter Herman Melvilles Welterfolg

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der 12. August des Jahres 1819. Von Nantucket im Staat Massachusetts, dessen Name wie allenfalls noch das benachbarte New Bedford für jene Hochzeit des Walfangs steht, in der Mensch und Kreatur sich noch nahezu auf Augenhöhe begegneten, sticht die „Essex“ in See. Ausgerüstet und verproviantiert für eine Fahrt von zweieinhalb Jahren auf den damals üblichen Fangrouten im Atlantik und Pazifik. Kommandiert wird der Walfänger von Kapitän George Pollard junior, 28 Jahre alt, und seinen beiden Steuerleuten Owen Chase und Matthew Joy; 24 und 26 Jahre alt. Die nach heutigen Maßstäben sehr junge Führungsriege der „Essex“ stellt für die damalige Zeit keine Ausnahme dar. In der Regel bedurfte es nur einer erfolgreichen Fangfahrt, um einem besonnenen und unerschrockenen Seemann das Rüstzeug für ein erstes eigenes Kommando an die Hand zu geben. Dies war auch ganz im Sinne der Schiffseigner, denn der Walfang erlebte eine Blüte und die Nachfrage nach den Gütern, die dem Leib des Pottwals zu entnehmen waren – in erster Linie Brennstoff für Leuchtmittel aller Art und Ambra als Duftstoff, zudem Fischbein für Korsagen und Regenschirme, Maschinenöl und nicht zuletzt Fleisch – stieg stetig. Je mehr Schiffe die Meere kreuzten, umso besser für das Geschäft der Reeder und Händler.

Zu Beginn der Reise lässt alles auf einen guten Abschluss derselben hoffen. Bereits im Atlantik werden die ersten Wale erlegt und verarbeitet. Der Schiffsraum füllt sich mit Fässern voll Tran und jeder der zwanzig jungen Männer an Bord ist sich sicher, durch sein hartes, gefahrvolles und entbehrungsreiches Geschäft eine solide Lebensgrundlage in Gestalt der üblichen Beteiligung am Ertrag der Reise zu erwirtschaften. Es wird gejagt und die „Essex“ steuert verschiedene Inseln an, um sich mit Frischwasser, Fleisch und anderen Dingen zu versorgen und um die üblichen Schäden an den Fangbooten auszubessern. Die schwierige Fahrt um Kap Hoorn gelingt ebenfalls. Bis sich am 20. November 1819 mit einem Mal alles ändert.

Beim Jagen in einem Schwarm von Pottwalen geschieht das Unfassbare und Unerhörte. Nicht durch Zufall oder unglückliche Verkettung der Umstände, wie bei anderen Berichten über Schiffe, die von Walen beschädigt oder gar zerstört wurden, sondern offenkundig aus Absicht, schlägt einer der Wale ein Loch in den Schiffsrumpf. Zweimal wendet sich das Tier in sichtlicher Raserei der „Essex“ – nicht etwa den Fangbooten, die seine Artgenossen attackieren – zu und rammt den Walfänger frontal. Die sich addierenden Geschwindigkeiten des Meeressäugers und des Schiffes potenzieren den Schaden, der sich als irreparabel erweist. Die „Essex“ macht stark Wasser und beginnt, über Bug zu sinken. Der Rumpf läuft voll und das Gewicht der Masten bringt sie in starke Schlagseite. Rasch rettet man, was zu retten ist, in die verbliebenen Boote und der Kapitän, der zum Zeitpunkt des Angriffs ein Boot befehligt, kann nur ungläubig ausrufen: „Mein Gott, Mr. Chase, was ist geschehen?“

Chase, der erste Maat und später Berichterstatter, schildert die Ereignisse um den Untergang des Walfängers „Essex“ ebenso nüchtern wie schmucklos. Dem initialen Höhepunkt, mit dem die Leidensfahrt in den offenen Booten ihren Anfang nimmt, dem Rammstoß des Wales, widmet der Chronist nur wenige Seiten. Fast könnte man die Stelle überlesen, so rasch ist alles geschehen. Die Mannschaft findet sich fassungslos in den Booten wieder und es beginnt das qualvolle Ringen der Männer, die vor dem Entschluss stehen, die vermeintliche Sicherheit, die die Trümmer des Schiffes bieten, das bis vor wenigen Minuten noch ihre Heimstätte war, zu verlassen und sich der Weite der offenen See anheimzugeben. Durch das Kappen der Masten richtet sich die „Essex“ etwas auf und es gelingt den durch das schockierende Geschehen nahezu gelähmten Männern, die verbliebenen drei Boote mit Brot, Wasser und weiteren nützlichen Dingen auszustatten. Der Positionsbestimmung nach dem Unglück folgt die Entscheidung, in welcher Richtung man hofft, auf Land zu treffen. Land, bei dem feststeht, dass seine Bewohner keine feindseligen Wilden und im schlimmsten Falle Kannibalen sind. Zur Navigation bleiben den Männern nur die damals üblichen Manuale, die Inseln und Küsten nach ihrer Position in Länge und Breite verzeichnen. Dass wichtige Orte in relativer Nähe zur Stelle des Unglücks in den Handbüchern fehlen – darunter die Insel Pitcairn, die seinerzeit den Meuterern der „Bounty“ als halbwegs erträglicher Aufenthalt diente – ist nur einer der Zufälle, die das Leid der Männer ins beinahe Unermessliche steigern sollen.

Die Boote lösen sich schließlich von den Resten ihrer vorigen Heimat und geben sich der See und der Gnade Gottes anheim. Eine weitere Steigerung von Ohnmacht und existentiellem Geworfensein als eine Odyssee in leichten, offenen Booten inmitten von tausenden Meilen Ozean ist nur schwer denkbar. Binnen weniger Tage sind die Männer ausgemergelt und beinahe wahnsinnig vor Durst, der aufgrund der strengen Rationierung des verfügbaren Trinkwassers kaum zu lindern ist. Hinzu kommen die ständigen neuen Schrecken: Stürme, sich lösende Planken und eine weitere Attacke – vielleicht aus spielerischer Absicht – eines anderen großen Fisches auf eines der Boote.

Doch die Tage, an denen nichts geschieht, das es wert wäre, von Owen Chase auf den wenigen geretteten Blättern Papier in seiner Seekiste verzeichnet zu werden, sind nicht minder grauenhaft. Auch sie haben vierundzwanzig Stunden voller Hunger, Durst, Übelkeit, Angst und Schlaflosigkeit.

Auf der monatelangen Irrfahrt schwanken die Seeleute zwischen lähmender Verzweiflung und dem plötzlichen Aufkeimen einer noch so kleinen Hoffnung, die in der Lage ist, die letzten Kraftreserven in den geschwächten und von der gnadenlosen Sonne völlig verbrannten Leibern zu mobilisieren. Chase lotet in seiner Schilderung alle Tiefen des Grauens aus: vom Verzehr lebender Fische, die der Zufall ins Boot wirft; der Entscheidung, die nach und nach sterbenden Leidensgenossen nicht zur Gänze der See zu übergeben, sondern das, was von ihren Leibern irgend genießbar erscheint, zu verzehren, bis hin zum Ziehen des Loses, wer von den verbliebenen Männern durch die Hand der Übrigen den Tod finden soll, um im Anschluss von diesen verzehrt zu werden. Wenngleich niemand im Lesesessel und vielleicht mit einer Tasse Tee oder einem Glas Wein neben sich im Entferntesten in der Lage ist, wirklich zu verstehen, was die Zeit in den offenen Fangbooten für die Männer bedeutet haben muss, wundert man sich dennoch nicht, dass manche der Seeleute mit einem Mal entscheiden, weiterer Hoffnung keinen Raum mehr zu geben. Ein Entschluss, der binnen Stunden das Erlöschen der Lebensgeister nach sich zieht.

Dass dieses Schicksal nicht alle trifft, zeigt bereits der vorliegende Bericht. Wenige Männer überleben die Katastrophe; manche von ihnen in den Booten, andere auf einem kargen Eiland, welches die Boote durch Zufall erreichen und auf dem zu bleiben sie sich entschließen.

Den Neu-Editionen von Werken, in der Regel sogenannten Klassikern, deren Urheberrecht 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers erloschen ist und die somit gemeinfrei sind, ist oft eines gemeinsam. Sie erscheinen entweder als gratis Ausgaben für E-Reader oder als sehr günstige Leseausgaben auf schnell alterndem Papier, bei welchen schon ein Inhaltsverzeichnis wie Luxus anmutet. Ganze Verlage haben sich auf derlei Publikationen spezialisiert. Die von Michael Klein im Heidelberger Morio-Verlag erschienene Ausgabe von Chases Bericht stellt das genaue Gegenteil dieser wohlfeilen Literatur dar.

Chases Text wird in der wertigen Hardcover-Edition um weitere Berichte und Essays ergänzt, die Hintergrundinformationen und Erläuterungen bereithalten und es zudem erlauben, Owen Chase als Quelle und Inspiration für Herman Melvilles Roman Moby Dick; or, The Whale besser einzuordnen. Die Texte aus der Feder des Herausgebers widmen sich dem Walfang als Industriezweig in Zeiten von Chase und Melville, der politischen Situation auf den Meeren, der Frage nach der Plausibilität des Essex-Ereignisses in den Augen der Zeitgenossen oder auch dem Schicksal jener Männer, die auf eigenen Entschluss auf jener kleinen Insel Henderson blieben, die sie aufgrund lückenhafter Informationen und mangelhafter Standortbestimmungen für die Insel Ducie hielten. Im Anschluss an Chases Bericht enthält der Band die Erzählung Mocha Dick – Der weiße Wal des Pazifiks des Südseeforschers Jeremiah N. Reynolds, die 1839 in der Mai-Ausgabe einer New Yorker Monatsschrift erschien.

Mit Anmerkungen zu den Kapiteln und einem Verzeichnis weiterführender und verwendeter Literatur macht Kleins Ausgabe Anleihen bei wissenschaftlichen Editionen und tatsächlich fehlt lediglich die Gegenüberstellung mit dem Originaltext und ein kritischer Apparat, um den Eindruck einer solchen zu vervollständigen. Angesichts der vielen Fakten und Details – ein Beispiel dafür ist die Abbildung der Pottwale in zeitgenössischer Abendgarderobe, die ausgelassen auf die Erdölfunde in Pennsylvania anstoßen – fällt es nicht schwer, die Neu-Edition als liebevoll zu bezeichnen.

Abschließend stellt sich die Frage, für welchen Leserkreis die vorliegende Ausgabe von Owen Chases Bericht gedacht ist. Wissenschaftlich interessierte Rezipienten dürften das englische Original vermissen. Wer von Herman Melvilles Welterfolg um Kapitän Ahabs verzweifelte Jagd nach dem verhassten weißen Wal seit seiner Kindheit fasziniert ist, wird möglicherweise von Chases Bericht enttäuscht sein. Die Tatsachen, die der erste Maat der „Essex“ schildert, sind außergewöhnlich und erschreckend. Dennoch bleibt es der Tatsachenbericht eines ehrbaren und gottesfürchtigen Arbeiters der See, auch wenn er, wie bereits Melville mutmaßte, einem literarisch begabten Ghostwriter in die Feder diktiert haben dürfte.

Mithin bleibt der von maritimen Stoffen und Erzählungen rund um die Hochzeit des Walfangs und der Segelschiffe begeisterte Leser und für einen solchen ist Michael Kleins mit viel Liebe zum Detail besorgte Neuausgabe gedacht.

Titelbild

Owen Chase: Tage des Grauens und der Verzweiflung.
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Klein.
Morio Verlag, Heidelberg 2019.
205 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783945424711

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