Vom Leben und Denken als Jüdin

„Wir Juden“: Hannah Arendts Schriften zur jüdischen Frage zeigen die Genese einer politischen Intellektuellen

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Bedeutung das Judentum für Hannah Arendts Leben, für ihr Denken und damit für ihr Werk hatte, wie sich jüdische Erfahrung und Denken entwickelten, darüber hat sie selbst immer wieder Auskunft gegeben. Im berühmten Interview mit Günter Gaus (1964) hat sie ebenso anschaulich wie exemplarisch darüber gesprochen und mitgeteilt, in ihrem Buch über Rahel Varnhagen – noch vor dem Exil begonnen und 1933 fast fertiggestellt, aber erst 1959 in Deutschland erschienen – habe sie sich erstmals mit dem Thema beschäftigt; es seien freilich nicht ihre „persönlichen Judenprobleme“ gewesen, die sie dabei erörtert habe. Zwar hätte ihre Mutter, würde sie erfahren haben, dass die Tochter ihr Judentum verleugnet, sie „rechts und links geohrfeigt“, dennoch habe sie die „sogenannte Judenfrage“ im Grunde gelangweilt. Letzteres bekennt Hannah Arendt im September 1952 in einem Brief an Karl Jaspers und ergänzt, sie habe sich „die jüdische Erfahrung […] mit Mühe und Not anerzogen“. Auch hat Hannah Arendt nie einen Hehl daraus gemacht, wer für diese „Erziehung zum Judentum“ verantwortlich war. Es war der sich radikalisierende Antisemitismus der Weimarer Jahre, es war aber – so ergibt sich aus einem Brief vom 1. April 1951 – insbesondere Karl Blumenfeld, dessen Vorträge zu Zionismus und Judentum ihr „eine Art Welt aufgeschlossen“ hätten.

Die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk habe für sie stets außer Frage gestanden, die Beschäftigung mit Assimilation und Antisemitismus sei in hohem Maße durch die politische Entwicklung am Ende der Weimarer Republik bestimmt gewesen, aber dass sie sich „historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren“ begann, das sei zunächst ihrer Mutter, sodann Kurt Blumenfeld zu danken. Solche Bekenntnisse sind nicht nur biographisch relevant, sie korrespondieren einer literarischen und philosophisch-theoretischen Entwicklung der politischen Theoretikerin Hannah Arendt, die man in dem vorliegenden Band nun erstmals anhand der zwischen 1932 und 1966 entstandenen Essays nachvollziehen kann.

Auf literarisch und theoretisch gleichermaßen beeindruckende Weise liefert die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, also Hannah Arendts Buch über Rahel Varnhagen, werkgeschichtlich den Auftakt zum Thema. Viele Bezüge zu dieser Biographie einer weiblichen Intellektuellen finden sich in dem 1946 entstandenen Aufsatz Privilegierte Juden, der seinerseits in das Antisemitismus-Kapitel von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eingegangen ist. Die philosophisch-politische Dimension des Rahel-Buches, gleichsam sein theoretisch-ideengeschichtliches Substrat, wird einprägsam und folgenreich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1932 über Aufklärung und Judenfrage erörtert. Mit ihm wird die von Marie Luise Knott und Ursula Ludz auf bewährt sorgfältige Weise eingerichtete und kommentierte Ausgabe der zwischen 1932 und 1966 entstandenen Schriften Hannah Arendts zu Judentum, Assimilation, Antisemitismus, Zionismus und jüdischem Staat programmatisch eröffnet. Tatsächlich liest sich Aufklärung und Judenfrage als Prolog für Hannah Arendts systematische Reflexion über den Zusammenhang zwischen dem aufklärerischen, durch Lessing und Mendelssohn postulierten und reflektierten Ideal der Toleranz, das seinerseits aus der radikalen Unterscheidung zwischen Vernunft-und Geschichtswahrheiten entwickelt wird. So eng und modellhaft die Freundschaft zwischen Mendelssohn und Lessing, so deutlich sind die Differenzen in der Modellierung des Toleranz-und Vernunftprinzips zwischen beiden. Wo Lessing die Religion als Dogma verabschiedet und zwar als Folge der Trennung zwischen Geschichte und Vernunft, da versucht Mendelssohn aus dieser Trennung die Rettung der jüdischen Religion als eines „ewigen Gehalts“ abzuleiten.

Welche Folgen dieses radikal unterschiedliche Bewusstsein von der Verknüpfung zwischen Vernunft, Geschichte und Religion hatte, dass es ein spezifisches „Unverständnis der Juden für Geschichte“ generierte, all dies sind gewichtige religions- und geschichtsphilosophische Implikationen, die Hannah Arendt in diesem frühen und folgenreichen Aufsatz entfaltet. Von nicht nur philosophischer, sondern genuin politischer Sensibilität zeugt denn auch, dass Hannah Arendt gleichsam parallel zum Leitmotiv ihrer Rahel-Biographie in diesem frühen Aufsatz die zentrale Aporie eines Toleranzideals freilegt, das Menschenwürde und Vernunftfähigkeit direkt aneinanderbindet. Sofern das Menschliche auf dem Vernünftigen basiere und sofern eine spezifische Religion, nämlich die jüdische, als genuin widervernünftig und Juden somit als dem Toleranzideal nicht zugänglich apostrophiert werden, geraten die Konzepte von Menschenwürde, Gleichheit und Emanzipation notwendig in unauflösbare Widersprüche. Es sind solche aporetischen Konstellationen, die Hannah Arendt immer umgetrieben, die ihre sich über die Jahre radikalisierende Kritik an der Assimilation und einer in ihren Augen politikfernen Hoffnung auf die Emanzipation geleitet haben.

Auch wenn man die meisten der insgesamt 21 Aufsätze aus früheren, z.T. von Hannah Arendt selbst zusammengestellten Bänden (u.a. Sechs Essays, 1948; Die verborgene Tradition,1976) oder aus den lange vergriffenen Editionen von Eike Geisel und Klaus Bittermann (Nach Auschwitz und Die Krise des Zionismus, 1989) bereits kannte, so eröffnet diese erstmalige Zusammenstellung aller  – wie der Verlag ein wenig ungeschickt formuliert – „jüdischen Schriften“ einen Einblick in Hannah Arendts Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Tradition, mit dem Zionismus und mit der Gegenwart des jüdischen Staates, den man so prägnant bisher nicht gewinnen konnte und der überdies in Zeiten eines galoppierenden neuen Antisemitismus in Deutschland und Europa von ungeahnter Aktualität ist. In einem Artikel vom Juni 1945 (Die Saat einer faschistischen Internationale) appelliert Hannah Arendt, den Antisemitismus nicht lediglich als „nicht weiter diskussionswürdiges Vorurteil“, sondern als „eine der gefährlichsten politischen Bewegungen unserer Zeit“ zu verstehen. Weit mehr als eine Form des extremen Nationalismus sei der Antisemitismus eine Art „Internationale“, die zu bekämpfen „zu den lebenswichtigsten Aufgaben der Demokratien“ gehöre.

Insgesamt fünf Beiträge sind deutsche Erstveröffentlichungen, darunter findet sich ein kurzer Aufsatz über Martin Buber (1936), außerdem der erwähnte, mehrfach verwendete Text aus dem Jahre 1946 über Privilegierte Juden. Zusammen mit den Essays über Franz Kafka (1944/46), über Wir Flüchtlinge (1943) sowie mit der heftigen Polemik gegen Stefan Zweigs Autobiographie (Die Welt von gestern) aus den Jahren 1943 und 1948 liefert er Hannah Arendts philosophisch-politische Kritik an der Geschichte der Assimilation als Geschichte einer strukturellen Selbstverleugnung. So illusionär wie die Idee des ökonomischen, mentalen, kulturellen und sozialen Fortschritts, so illusionär nennt Hannah Arendt die Hoffnung der Juden auf Zugehörigkeit, Anerkennung und Emanzipation. Schon in Aufklärung und Judenfrage diagnostiziert sie die prinzipielle Doppelbödigkeit der Aufklärung und des Emanzipationsversprechens, vor allem aber kritisiert sie die mentale Orientierung der deutschen assimilierten Juden an der Vorstellung, sie könnten „ein Mensch auf der Straße und ein Jude zu Hause“ sein.

Und doch argumentieren alle Essays, die die Herausgeberinnen im ersten Teil des Bandes unter der Überschrift „Für ein neues kulturelles Selbstbewusstsein“ zusammengestellt haben, aus einer Perspektive des „Wir“; die kritische, zum Teil durchaus sarkastische Analyse der Assimilationsbereitschaft vor allem der deutschen Juden, ihres bildungsgestützten Fortschrittsoptimismus und ihrer damit einhergehenden Blindheit gegenüber der eigenen herkunftsbedingten Ausnahmeposition entstammt nicht einer Haltung urteilsfreudiger Abrechnung, sondern intellektueller, durchaus schmerzhafter politischer Teilhabe. 

Der zweite Abschnitt steht unter der Überschrift „Für ein neues politisches Selbstbewusstsein“ und enthält Hannah Arendts großen Aufsatz Der Zionismus aus heutiger Sicht (1945), einen bisher auf Deutsch nicht erschienenen Text über Bernard Lazare (1948) sowie Beiträge zur Palästina-Frage, zur Verständigung zwischen Juden und Arabern sowie zur Frage Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten? (1950). Insgesamt Texte, die ihre engagierte Beobachtung des Geschehens vor und nach der Staatsgründung, ihre wachsende Skepsis gegenüber einem jüdischen Nationalstaat und ihre fortdauernde Sorge um die Existenz des Staates Israel dokumentieren.

Wollte man einen Begriff für die Denkweise und für die Darstellungsperspektive finden, durch die die Texte dieses Abschnitts zusammengehalten werden, so wäre von intellektueller Partizipation, von einer Haltung engagierter, reflektierter und damit eben kritischer Teilhabe zu sprechen. Sie ergibt sich nicht zuletzt aus dem ebenso treffenden wie schlichten Titel des gesamten Bandes: Wir Juden.

Der dritte große Abschnitt präsentiert unter der Überschrift „Zur Erforschung des Holocaust“ Beiträge aus den Jahren 1945 bis 1966. Sie liefern Überlegungen zur Bedeutung der Protokolle der Weisen von Zion (1945), zu Sozialwissenschaftliche(n) Methoden bei der Erforschung der Konzentrationslager, einen im deutschsprachigen Raum zweifellos weitgehend unbekannten Beitrag zum „Jewish World Symposium“ aus dem Jahre 1964 unter dem Titel Die Vernichtung von sechs Millionen. Warum hat die Welt geschwiegen? Es handelt sich um Hannah Arendts schriftliche Antwort auf zwei große Fragen, die die israelische Zeitung Maariv gestellt hatte: Warum die Welt zu Hitlers Mordmaschinerie geschwiegen hatte und ob das Schweigen zum „Wiederauftauchen des Neonazismus“ aus dem Umstand zu erklären sei, „dass die Nazibarbarei im europäischen Humanismus wurzelt“. Hannah Arendts Antwort fällt kaum überraschend völlig anders aus als diejenige, die Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung geben. Für sie ist der Konnex zwischen Kultur und Barbarei strukturell; Hannah Arendt hingegen konstatiert, der „europäische Humanismus“ sei keineswegs die „Wurzel des Nazismus“ gewesen; vielmehr sei jener auf den „Nazismus oder irgendeine andere Form totalitärer Herrschaft“ schlichtweg nicht vorbereitet gewesen und dies wiederum habe zur Folge, dass man sich beim Versuch, das Phänomen totaler Herrschaft zu verstehen, auch nicht auf Begriffe oder Metaphern des „europäischen Humanismus“ stützen könne. Eher schon müsse man sich eingestehen, dass der „Humanismus“ in Gefahr sei, „irrelevant zu werden“.

Hier zeigen sich die argumentativen Verbindungen zu Hannah Arendts so heftig kritisierten Analysen im Eichmann-Buch, und nicht zufällig greift sie sowohl in diesem Antwortschreiben als auch in ihrer Rezension von Bernd Naumanns Buch über den Frankfurter Auschwitz-Prozess (1966) immer wieder auf die Feststellung zurück, dass totale Herrschaft nicht als pervertierte Ordnung oder als Rückfall von Kultur in Barbarei, sondern als „organisierte“ und damit „neutralisierte“ Schuld zu verstehen sei. Ihre Repräsentanten sind nicht einfach opportunistische oder gewissenlose Befehlsempfänger, sie sind Verkörperungen einer totalen Herrschaft, die die Subjekte aus den Zwängen individueller Verantwortung programmatisch entlassen hat. Hannah Arendts so gern und polemisch missverstandener Begriff von der „Banalität des Bösen“ bezieht seine eigentliche Brisanz aus solchen Befunden zur strukturellen Negation persönlicher Verantwortung als Vollzug totaler Herrschaft.

Als Epilog des gesamten Bandes fungiert denn auch ein Aufsatz aus dem Jahre 1964 über Persönliche Verantwortung unter diktatorischer Herrschaft; auch dies ein Text, für dessen Neuausgabe den Herausgeberinnen großer Dank gebührt. Er nimmt die im Kontext des Eichmann- und des Auschwitz-Prozesses entwickelten Gedanken auf und weist zugleich auf jenes große Thema voraus, dem Hannah Arendt ihr Alterswerk widmen sollte. Die Frage nach dem Leben des Geistes stellt sie in diesem letzten Text aus Wir Juden als Frage nach den tieferen Ursachen dafür, dass totale, diktatorische Herrschaft es vermag, das genuine Urteilsvermögen des Menschen zu neutralisieren. Die Bereitschaft als funktionierendes Rädchen in einer Machtmaschinerie zu wirken, lässt sich machtpolitisch nur nutzen, wenn die individuelle Gewohnheit der meisten Menschen, nicht „mit sich selbst als einem Mörder zusammenzuleben“, ausgehebelt wird. Weder philosophische Begabung noch eine hochentwickelte Intelligenz und auch kein besonders „differenziertes Moralverständnis“ sind nach Hannah Arendt dafür erforderlich, dass man nicht zum Mörder wird und sich später dann auf einen sog. Befehlsnotstand beruft. Erforderlich ist ein gleichsam automatisch funktionierendes Gewissen, bzw. „die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selbst zusammenzuleben, das heißt, sich auf jenes stille Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst einzulassen, welches wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich als Denken bezeichnen“. Totale Herrschaft, so entwickelt Hannah Arendt in ihrer großen Studie, gewährleistet ihre Macht nicht lediglich durch Furcht vor Terror und Verfolgung, nicht lediglich durch individuellen Opportunismus und auch nicht durch glühende Anhänger einer Ideologie; sie gewährleistet ihre Macht dadurch, dass sie vom Innenraum der Subjekte Besitz ergreift; dass sie Gewissensreaktionen auslöscht und Urteilsfähigkeit negiert; und zwar vor allem die Urteilsfähigkeit, die aus dem Zwang erwächst, „dass wir, solange wir leben, dazu verdammt sind, mit uns selbst zusammenzuleben“. Die menschlich-alltägliche Rede, man müsse sich selbst noch im Spiegel ansehen können bzw. – im negativen Falle – man ertrage sein eigenes Spiegelbild nicht mehr, gewinnt für Hannah Arendt also eine philosophische und zugleich eine hochpolitische Bedeutung. Es ist ein Element und eine Funktion totaler Herrschaft, wenn das Ich sich mit sich selbst nicht mehr ins Zwiegespräch zu begeben vermag, wenn Urteilsfähigkeit suspendiert wird.

Titelbild

Hannah Arendt: Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966.
Zusammengestellt und herausgegeben von Marie Luise Knott und Ursula Ludz.
Piper Verlag, München 2019.
464 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783492055611

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