Der Prozess der Verwandlung

„Matisse – Metamorphosen“ entwirft neue Perspektiven auf das Verhältnis von Bildhauerei und Malerei des französischen Künstlers

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

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Sonnenhelle Strände, Badende unter blauem Himmel, Fensterausblicke zum Meer, auf Orientteppichen ruhende Odalisken, Balkone voller Blumen und Vogelkäfige, Liebesfreuden, Tanz und Lebenslust, paradiesische Bilder der Sorglosigkeit – und das inmitten einer von schlimmsten Kriegen und Katastrophen erschütterten Welt? Der Franzose Henri Matisse, der als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt, scheint dem Erschrecken über seine barbarische Zeit aus dem Wege gegangen zu sein. Seine Kunst ist eine positive Gegenwelt, einer der letzten Rettungsversuche der Realität mit Farben von solch unergründlicher Tiefe, die das Entrückt-Sein im Träumen beschwören.

Matisse war aber auch ein bedeutender Bildhauer, mit dem eine Entwicklung der Auflösung des Volumens, der Entmaterialisierung begann, die innerhalb der Skulptur des 20. Jahrhunderts entscheidend werden sollte. An die Stelle der Masse, eines geschlossenen Volumens tritt die offene Form, die Arabeske, an die Stelle des antiken Vorbildes werden auch in den Skulpturen von Matisse außereuropäische Einflüsse wirksam, die die in der Plastik noch immer spürbare Tradition der Antike überwinden sollen. Matisse begann sich auch von der Welt Auguste Rodins – so in seinem Leibeigenen (1900–1903), den eine stark modellierte Oberfläche in Bewegung versetzt – wie Aristide Maillols – so in seinem Hauptwerk La serpentine von 1902, einem stehenden und sich auf einen Pfosten stützenden Akt, den Matisse aus einer Fotografie entwickelte – zu distanzieren.

Von den lebensgroßen Rückenakten abgesehen, haben die Skulpturen von Matisse überschaubare Dimensionen. Ihre Titel benennen lediglich die Vornamen der Modelle. Gefühl wird für Matisse zum zentralen Begriff seiner künstlerischen Konzeption. Zwar hat er nur etwa 80 Skulpturen hinterlassen, während Picassos skulpturales Werk rund 700 Plastiken umfasst, und doch gibt es zwischen seinem plastischen und malerischen Werk einen äußerst spannenden Dialog. Zusammen mit dem Musée Matisse in Nizza, wo die Ausstellung noch bis 6. Mai 2020 zu besichtigen ist, hat sich das Kunsthaus Zürich dem Thema Metamorphose im plastischen Schaffen von Matisse verschrieben, dabei Einblicke in die Schaffensweise des Künstlers, seine Ideen und Vorbilder, in die Wechselwirkung zwischen seiner Skulptur und Malerei gewährend. Seine Erfahrungen in der Bildhauerei kamen seiner Malerei zugute und seine eigenen Skulpturen hat er auch in seine Malerei übertragen und weiterentwickelt.

Sandra Gianfreda, die die Ausstellung konzipiert und kuratiert hat, erläutert im Katalog den Stellenwert der Bronzen von Matisse. Manche Figuren seien singulär, wobei gewisse Charakteristiken sie miteinander verbinden, etwa ihre Vielansichtigkeit, Vertikalität oder der s-förmige Aufbau. Andere wiederum habe er in verschiedenen Zeitabständen immer wieder aufgegriffen, variiert und verwandelt. Daraus entwickelte Matisse einen konzeptuellen Ansatz, den sie als „Methode der formalen Progression“ bezeichnet. Jeweils ausgehend von einer Naturform haben sich Matisses Figuren in eine eigengesetzliche Kunstform verwandelt. Die formale Verwandlung in Rückenakt I-IV (1908/09–1930), die von einer naturalistisch anmutenden Gestaltung hin zu einer radikalen Stilisierung führt, findet sich auch in Madeleine I-II (1901–1903), Liegender Akt I.III (1907–1929), Jeannette I-V (1910–1916) sowie Henriette I-III (1925–1929). Diesen Prozess der Verwandlung dokumentierte Matisse auch in seiner Malerei. Von zahlreichen Gemälden ließ er sich vor allem ab Mitte der 1930er Jahre Fotografien anfertigen, die verschiedene Zustände während der Entstehung dokumentieren.

Als Höhepunkt unter Matisses Skulpturen und gleichzeitig als ein plastisches Hauptwerk des 20. Jahrhunderts gelten die vier Reliefs weiblicher Rückenakte, die zwischen 1909 und 1930 entstanden sind. Die Verbindung von Fläche und Körper, von Abstraktion und Realität gehört zu den zentralen Gestaltungsproblemen des Künstlers und wurde in den großen Reliefs zum eigentlichen Thema der Darstellung. Matisse strebte eine Vereinheitlichung der Körperformen an und in der vierten Fassung hat er Figur und Grund in der Behandlung der Oberfläche angeglichen, sind die Körperformen zu vertikalen Architekturelementen geworden. Auf der Suche nach Dauer, nach Wahrheit ist er in den Rückenakten bis an den Rand völliger Abstraktion gelangt.

Seine entscheidenden Entdeckungen in der Plastik, die Matisse auch in der Malerei weiterhalfen, setzten im Sommer 1907 in dem alten Fischerdorf Collioure ein. Matisse arbeitete an seinem Liegenden Akt, den er aus seinem Bild Luxus, Stille und Wollust (1904/05) weiterentwickelt hatte. Die kleine Figur hat ihren total verdrehten Körper mit dem einen Arm abgestützt, während sie mit dem anderen Arm ihren Kopf umfasst. Diese Liegende sollte ihn in verschiedenen Arbeitsphasen 30 Jahre lang beschäftigen. Beim Modellieren in Collioure brach die Figur auseinander. Aber kaum hatte sich Matisse von der Plastik abgewandt, stellte er das Motiv in dem Bild Blauer Akt (1907) dar: Das Blau der teilweise schraffierten Schatten betont hier das rosige Leuchten des Fleisches.

Die Plastik Liegender Akt behielt aber für Matisse ihre Bedeutung. Mit ihr kam er dem Ideal realistischer Natürlichkeit am nächsten. Auf keine seiner Skulpturen hat er so oft zurückgegriffen, wenn es in seinen Stillleben darum ging, ihnen den nötigen Eindruck von Körperlichkeit zu verleihen, so etwa in Skulptur und Goldfische (1911), wo sie im Ausdruck wirklicher Angst aus der purpurnen Leere herausblickt. 15 Jahre später griff Matisse in den beiden Plastiken Liegender Akt II und Liegender Akt III, die seine klassische Phase eröffneten, wieder auf sie zurück. Eine ganze Reihe von Zeichnungen und mehrere Entwicklungsstadien von Akt in Rosa dokumentieren, wie die Figur 1935 ihre endgültige Form im flachen idealisierenden Stil fand. Die herausfordernde Drehung der Hüfte ist verschwunden. Das plastische Schaffen ermöglichte Matisse eigene Verkörperungen sinnlicher Lebendigkeit. 

Ellen McBreen, die 2014 eine bahnbrechende Studie zu diesem Thema verfasst hat, erläutert, wie Matisse die Konzepte der westafrikanischen Skulptur durchdachte und Werke schuf, in denen seine konzeptionellen Anleihen deutlich zutage treten. Dabei arbeitete er auch nach Fotografien. Er erforschte die Veränderlichkeit körperlicher Zeichen und die Frage, wie sich diese Zeichen auf mehr als eine Art geschlechtsspezifisch einsetzen lassen. In Zwei Frauen (1907/08) kann einer der Körper entweder männlich oder weiblich sein. Hier wird ein Spiel zwischen den Geschlechtern betrieben. Matisse hatte in seiner Sammlung afrikanischer Plastiken solche Paare, deren Körper gleich und doch grundlegend verschieden waren. Auch die Schlangenförmige (1909) zeigt den Einfluss des Bamana-Figurenpaares in Matisses Sammlung. Der Wechsel der Blickrichtung und die Orientierung der Figur im Raum sorgen für eine Belebtheit, die einen produktiven Gegenpol zu Matisses fotografischen Quellen und deren „eingefrorenen Momenten“ bildet.

Bärbel Küster beschäftigt sich mit der von Matisse praktizierten Form der Prozesshaftigkeit, die sich vor allem in verschiedenen Strategien der Wiederholung und Abwandlung eigener Werke manifestiert. Gerade weil Schichten, Arbeitsvorgänge, Auslöschungen und Reste vorheriger Zustände erhalten bleiben, durchbricht der Künstler die Hierarchisierung von Medien als Abfolge der künstlerischen Arbeit hin zu einem fertigen Werk.

Von den Rückenakten sind vier Abformungen bekannt, fünf von den Jeannette-Köpfen. Doch bei seinen Gemälden zog Matisse eher die Fotografie heran, um zu systematischen Aufzeichnungen seiner Arbeitsweise zu gelangen. In der Ausstellung 1945 – nach der Befreiung –  der Pariser Galerie Maeght ließ Matisse sechs seiner jüngeren Gemälde mit nahezu auf das Format der Werke vergrößerten Fotografien aufhängen. Das „Kino seiner Sentimentalität“, so Gaku Konfu, hatte begonnen, seine Kunst zu durchdringen. Die Zustandsfotografien wurden dann durch eine andere Art von Bildern – Gemälde oder Zeichnungen, aber vor allem die Gouacheschnitte – ersetzt.

Claudine Grammont untersucht die vier Rückenakte von Matisse. Ihr Flachrelief tendiert von der ersten Fassung an zu monumentaler Größe, Doch hatten diese Skulpturen zu Lebzeiten Matisses nie den Anspruch auf Öffentlichkeit. Nach der großen Retrospektive von 1951–1952 erwarb das Museum of Modern Art in New York die Fassungen des Reliefs – 1956 wurde der vierte und letzte Rückenakt dem Ensemble hinzugefügt. Sie veranschaulichen am überzeugendsten die Wechselwirkung zwischen Malerei und Skulptur. Mit diesen Flachreliefs erreichte Matisse eine Monumentalität, die er in den entscheidenden Phasen in seine Malerei übertrug, in der sie das wandfüllende Format erreichte.

Welches Ziel aber mag der Künstler letztlich angestrebt haben, wenn er sich einer Arbeit widmete, in der es jenes Element nicht gab, das während seines ganzen Lebens eine so ungeheure Faszination auf ihn ausübte: die Farbe. Da jedoch die Farbe bei ihm dazu berufen war, auf jede Beziehung zum Volumen zu verzichten, könnte es doch wohl sein, dass er eine Art Kompensation darin fand, sich manchmal einzig dem Vergnügen hinzugeben, eine Form zu schaffen. Zu einer derartigen Form inspirierte ihn eben oft eines seiner Gemälde, oder sie tauchte später in seiner Malerei auf. So findet man seinen Rückenakt bereits im Mädchen am Fluss, und sein Liegender Akt von 1928 gleicht eben dem Blauen Akt von 1907. Matisse äußerte sich kaum dazu. In einem Gespräch mit Georges Charbonnier begnügte er sich zu sagen: „Ich machte Skulpturen wie ein Maler, nicht wie ein Bildhauer“.

Titelbild

Kunsthaus Zürich (Hg.): Matisse – Metamorphosen. Meilenstein in der Skulptur der Moderne. Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2019.
228 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783858816504

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