Untergegangene Königreiche

Fauvelle liefert in „Das goldene Rhinozeros“ eine postmoderne Geschichte Afrikas im Mittelalter

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Methodisch ist die Historiographie überall dort in die Krise geraten, wo sie noch nach einem Sinn der Geschichte sucht – auch, wenn sie diesen nur noch implizit unterstellt. Denn dieser Sinn, so lässt sich nach Haydn Whites Werken nicht mehr ohne weiteres leugnen, ist eine Konstruktion der Gegenwart. Um sich gegen theoretische Angriffe mit dem Präfix „post“ zu wappnen (ob nun strukturalistisch oder modern), hat man sich gerne auf die historische Wirklichkeit zurückgezogen, die doch unabhängig von der subjektiv konstruierten und im schlimmsten Fall rhetorisch erzählten Geschichtsschreibung existiert hat. Nun wies in Anschluss an Haydn White Hans-Jürgen Goertz selbst diese Konstruktion zurück und nahm der Zunft scheinbar den letzten Rest empirischer Überprüfbarkeit.

François-Xavier Fauvelle umfährt in seiner Studie Das goldene Rhinozeros derlei methodische Probleme mühelos und legt eine Arbeit vor, die sich einer geradezu postmodernen Ästhetik bedient. Eine „Zusammenstellung nacheinander in Schlaglichtern aufscheinender Bruchstücke“ habe der Leser zu erwarten, so liest man schon auf den ersten Seiten, das „Mosaikfenster“ sei dem „narrativen Fresko“ vorgezogen worden. Das schon deshalb, weil über weite Teile der afrikanischen Wirklichkeit des Mittelalters die Quellen beharrlich schweigen. Lassen wir die Fragen, ob ein Mosaik wirklich nicht narrativ ist und ob die Wirklichkeit überhaupt rekonstruierbar ist ‒ denn was Fauvelle grandios in Frage stellt, ist unsere afrikanische Wirklichkeit. Einen Sinn der Geschichte bietet er sicherlich nicht an ‒ es ist Aufgabe des Lesers (und in den oft abrupten Sprüngen, die das Mosaik mit sich bringt, eine teils anstrengende Aufgabe), einen Zusammenhang herzustellen und einen (subjektiven) Sinn in die Darstellung zu legen.

Interessant für den nicht professionell gebildeten Leser sind dabei die Einblicke in die methodischen Erschwernisse historischer Feldarbeit. Denn gerade hier, in Datierungen gefundener Objekte, Skizzen, Erdschichtanalysen und dergleichen mehr, findet sich doch noch ein Teil historischer Wirklichkeit. Aber deutlich wird auch: Ohne Interpretation des Fundortes sagen die Objekte wenig – man muss sie in Zusammenhang mit anderen aufgefundenen Indizien bringen, den Spuren folgen und sie gleichsam immer hinterfragen. So berichtet Fauvelle auch von der ethno-archäologischen Methode, die sich auf das kulturelle Gedächtnis stützt, um Wissenslücken zu schließen: „Weil wir nicht viel mehr andere Optionen haben, um die Fragen zu beantworten, die diese archäologischen Stätten stellen, stützen wir uns auf die Quellen der Kolonialarchive und der Umfragen in den heutigen Bevölkerungen. Auf diese Weise finden wir Werkzeuge, Handgriffe, vielleicht auch Vorstellungen der Bergarbeiter des Mittelalters wieder.“ Nur, die Probleme der Methode liefert Fauvelle gleich mit: Wann, wie intensiv und wohin sich Traditionen gewandelt haben, ist kaum zu erschließen – Gesellschaften sind nie statisch. Dennoch müssen solche Ergebnisse einbezogen werden, sie sind ein weiteres Mosaik, dass nach hier und dort gepuzzelt werden kann, um ein fragmentarisches Bild einer für immer den Blicken entzogenen Zeit zu liefern.

Selbst die historischen Artefakte, wie das titelgebende Rhinozeros, sind oftmals selbst dann noch verloren, wenn sie gefunden wurden. Durch ihren vermeintlichen Wert werden aus Artefakten Schätze, die in die Hände von Hassadeuren, Grabräubern und Abenteurern fallen und so ihrem Kontext für immer entrissen sind: Wo genau lagen sie, in welcher Erdschicht, was konnte sich in der Nähe finden, wie waren sie positioniert etc.? Aber auch abenteuerlichen Geschichten der Archäologie (wie sie nicht zuletzt Indiana Jones inspiriert haben) entzieht Fauvelle postkolonial den Boden: Die Geschichten europäischer Aneignung machen „aus einer banalen Plünderung eine Allegorie, die die Umstände der Bergung der Objekte romanhaft verklärt.“

Die methodische Entscheidung, ein Mosaik und kein narratives Fresko zu liefern, bedingt, dass hier nun nicht die Geschichte Afrikas im Mittelalter nacherzählt werden kann. In 34 knappen Kapiteln wandert Fauvelle in oftmals unverbundenen Sprüngen geographisch über den Kontinent und endet, nachdem er sein erstes Schlaglicht auf das 8. Jahrhundert geworfen hat, chronologisch mit der ersten europäischen Afrikaumrundung 1498. In diesem Zwischenraum macht er den Leser mit einem Afrika vertraut, das gerade in Europa weitgehend unbekannt ist. Entgegen dem Mythos vom schriftlosen Kontinent diskutiert Fauvelle eine ganze Reihe, zumeist arabischer Quellen.

Damit revidiert das erfolgreiche, populärwissenschaftlich ausgerichtete Buch landläufige Klischeevorstellungen über den Kontinent der Krisen und Katastrophen. Die Naturalisierung Afrikas hat jeher die Vorstellung evoziert, der Kontinent habe keine Geschichte ‒ zumindest keine, die zählt. Hier erfährt der Leser von der ‒ im Grunde wenig überraschenden ‒ Präsenz der islamischen, aber auch arabisch-christlichen Kultur, von weiten Handelswegen und einer regen Zirkulation von Menschen, Ideen und Gütern. So kündet etwa die Präsenz von Kauris (Schale einer Meeresschnecke, die als Zahlungsmittel oder Schmuck gebraucht wurde) von Handelswegen bis zu den Malediven. Interessant ist hier einerseits die Rekonstruktion des regen, innerafrikanischen Sklavenhandels und die modern anmutende Strategie, moralisch zweifelhafte Handlungen (wie die Kastration von bestellten Eunuchen) an fremde und in der Regel wirtschaftlich unterlegene Völker zu delegieren. Interessant auch, dass sich schon im 12. Jahrhundert die „Menschen des Nordens“ die Afrikaner als wilde Naturwesen dachten und islamische Händler Werbung für den Handel mit den Königreichen der Schwarzen damit machen, dass sie besonders die Zähmung der wilden Natur vorführen. So soll der König des historischen Königreichs Ghâna hinter gezähmten Giraffen, Elefanten und anderen wilden Tieren mit reichlich Gold geschmückt defilieren. Diese Vorstellung einer afrikanischen Hochkultur fällt bekanntlich nicht nur den Menschen des Mittelalters schwer. So stellen Forscher verschiedener Provenienz angesichts der beeindruckenden Kirchen von Lalibela, die mit großer Kunstfertigkeit aus dem Stein gemeißelt wurden, die unterschiedlichsten Thesen auf, um die Herkunft der Steinmetze zu klären (Romanciers führen bisweilen gar die Tempelritter ins Feld). Eine gründliche Untersuchung der Stätte lässt nach Fauvelle allerdings auch heute nur den Schluss zu, dass das Know-how durchaus lokaler Natur war und Ausdruck einer meisterlich entwickelten lokalen Handwerkskunst.

Fauvelles schlaglichtartiger Streifzug durch eine unbekannte Geschichte endet mit der Afrikaumrundung Vasco da Gamas und des damit entdeckten südlichen Seewegs nach Indien. Damit beginnt die Epoche des imperialen Kolonialismus, die in all ihrer Grausamkeit besser bekannt, wenn auch immer noch unzureichend aufgearbeitet ist. Unzureichend insbesondere, weil gerade die Geschichtlichkeit aller kolonisierten Völker oftmals ignoriert wurde. Erschwert sicherlich durch die imaginäre Geschichtsschreibung der neuen Nationalstaaten am Ende der Kolonialzeit, denen die Befreiung die Stunde Null ihrer Geschichte war. Françoise Fauvelle legt ein gehaltvolles Buch vor, dass in vielerlei Hinsicht zum Neu- und Umdenken anregt. Gut lesbar, was in anderen Rezensionen schon ausführlich gerügt wurde, ist das Buch in der sperrigen Übersetzung allerdings nicht, die in frappantem Widerspruch zu der sonst edlen Ausstattung des Buches steht, das mit hochwertigem Papier, guter Bindung und farblich satten Abbildungen beeindruckt.

Titelbild

François-Xavier Fauvelle: Das goldene Rhinozeros. Afrika im Mittelalter.
Übersetzt von Thomas Schultz.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
319 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406713798

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