Gesamtbild aus einzelnen Puzzleteilen

Der von Jörg Später und Thomas Zimmer herausgegebene Sammelband „Lebensläufe im 20. Jahrhundert“ demonstriert die Ergiebigkeit biographischer Studien

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ziemlich am Ende des von Jörg Später und Thomas Zimmer herausgegebenen Buches, das 15 einzelbiographische Essays und eine kollektivbiographische Studie von bedeutenden und weniger bedeutenden Männern und Frauen versammelt, findet sich ein rätselhaft anmutendes Doppelportrait. Es zeigt Gudrun Ensslin und Bernward Vesper: Sie, die Tochter eines Pfarrers aus dem Schwäbischen, er, der Sohn des NS-Barden Will Vesper, beide eingetaucht in das Milieu eines zunehmend uferlos werdenden gewaltbereiten Linksradikalismus. Ensslins Gesicht im Vordergrund verschwimmt, um so greller sticht Vespers Physiognomie hervor. Sie wirkt, als habe die Visagistin des Fotografen sie weiß geschminkt, die Augen sind verborgen hinter einer Sonnenbrille, die Hände halten eine Kamera, die das Dunkel, von dem die zwei umhüllt sind, jedoch nicht zu durchdringen vermag. Das Bild, die Inszenierung einer entrückten, zugleich jedoch präsenten Einsamkeit zu zweit, illustriert den Aufsatz von Gerd Koenen, der die „68er“ als „neurotischen Familienroman“ konfiguriert, was den Autor, wie er nebenher andeutet, einschließt.

Beachtung verdient das nicht zuletzt deshalb, als hier – anders als in den übrigen Beiträgen – die Kontexte nicht allein in sozialen, kulturellen und politischen Verhältnissen gesucht werden, sondern wesentlich in psychologischen. Diese sind freilich auf das Engste mit generationellen Lagerungen verquickt, die wiederum ohne die deutsche Vergangenheit nicht erfasst werden können. Denn die Nachkriegsgeneration arbeitete sich unaufhörlich und in den unterschiedlichsten Verkleidungen an der Weltkriegsgeneration ab, an ihren Vätern und Müttern, erprobte sich an radikaler Entheimatung, an Abnabelung von einem als „kontaminiert“ imaginierten „Gesellschaftskörper“. Und doch blieb sie mit dem verabscheuten Alten verwoben, gleichviel ob man sich das eingestehen wollte oder nicht, ob man wie Vesper den Freitod wählte oder wie Ensslin den Untergrund. Darin stecke, so Koenen, „etwas Unauflösliches, dessen existentieller Kern von den scheinbar so eindeutigen politischen Stichworten der Zeit nur vordergründig erfasst“ werde.

Seinen Ausdruck fand dies in einem Gestus permanenter Selbstermächtigung, legitimiert durch mannigfache Phantasmen. Ulrike Meinhof zum Beispiel sprach von ihren „Auschwitzphantasien“, die keine Traumbilder, sondern in Stuttgart-Stammheim „realistisch“ gewesen seien. Täter mutierten so unversehens zu Opfern, gestützt von ubiquitärem Faschismusverdacht, der nicht nur in den Haftanstalten kursierte, sondern auch in den Zirkeln wohlmeinender Unterstützer. Das Kursbuch, damals eines der links-intellektuellen Leitmedien, brachte im Mai 1973 ein Heft unter der Spitzmarke „Folter in der BRD“ heraus, in dem der Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel, von „strukturellem“, als Reformismus getarntem „Staatsfaschismus“ schwadronierte. Das „Leiden an Deutschland“ ging einher mit Antiamerikanismus, vor allem auch mit Antizionismus, einer verdeckten, links gewendeten Spielart des Antisemitismus. Dass man dabei die eigenen Projektionen umstandslos „mit den Interessen der Welt, der Menschheit, der Geschichte“ identifizierte, versteht sich, da gefangen in den Denkgebäuden eines wie immer rezipierten Marxismus, fast von selbst.

Unter den 15 Einzelportraits tauchen nur drei Frauen auf: ein getreulicher Spiegel der Geschlechterordnungen im 20. Jahrhundert. Patrick Wagner sieht im Wirken der indischen Regierungschefin Indira Gandhi Symptome einer allgemeinen Krise „postkolonialer Staatlichkeit“. Hier steht allerdings weniger die Person im Vordergrund als deren Handlungsoptionen im Rahmen eines Systems, das sich trotz erheblicher Defizite, trotz Massenarmut und sozialer Ungleichheit, trotz zeitweiligen Hantierens mit dem Ausnahmezustand als parlamentarische Demokratie zu behaupten vermochte.

Isabel Heinemann portraitiert die amerikanische Eugenikerin Margaret Sanger als „Pionierin der Geburtenkontrolle“ und aktiver Bevölkerungspolitik. Diese argumentierte auf einer Linie, die man im Deutschland der zwanziger Jahre mit einer eigentümlich spröden Formulierung als „Rationalisierung des Geschlechtslebens“ etikettierte. Das hieß, Verhütungswissen, die Verbreitung von Antikonzeptiva und in den 1970 er Jahren dann die Antibabypille zu propagieren sowie das Bewusstsein dafür zu schärfen, „dass Mutterschaft mehr sein konnte als lediglich Versklavung oder Zufall.“

Sehr eindringlich und in dieser Sektion singulär sind die Entdeckungen, die Christina von Hodenberg dem Leben einer Frau abgewinnt, die sich nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit bewegte. Aus Gründen des Datenschutzes wird sie anonymisiert und Carolina Rahm genannt. Geboren 1893 als Tochter einer Kleinbauernfamilie in einer der russischen Ostseeprovinzen, im heutigen Lettland, brachte sie es zwischen 1930 und 1939 aus eigener Anstrengung zu einem gewissen Wohlstand. Als sogenannte Volksdeutsche ausgesiedelt, profitierte sie in Poznan von der Ausplünderung Polens durch das deutsche Okkupationsregime. Die Erinnerungen an die Kriegsjahre bis 1944 waren umglänzt von Reichtum, der 1945 mit der Flucht allerdings verloren ging. Obwohl sie es war, die in den Dreißigern die Initiative zur Gründung eines kleineren bis mittleren Textilunternehmens ergriffen hatte, hing sie traditionellen Geschlechterrollen an. Ihr zweiter Mann, von dem sie sich später scheiden ließ, galt nach außen hin als Inhaber des Geschäfts: „Er war der Chef“, resümiert Rahm, „und ich war das Arbeitspferd.“ Im Vordergrund stand für sie „nicht die eigene Entfaltung“, eher schon „die kollektive Sicherung der Familie“.

Derartige von Schicksalsschlägen begleitete Wege einer einfachen Frau dienen als Warnung vor allzu schneller Generalisierung. Denn sie zeigen, resümiert die Autorin, dass die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ kein „kontinuierlicher, das ganze 20. Jahrhundert durchlaufender Prozess“ einer sich Schritt für Schritt ausweitenden „weiblichen Handlungsfreiheit“ gewesen sei. Auch eine nach 1945 landläufig vermutete bzw. erwartete „Konversion zur Demokratie“ lasse sich in diesem Fall nicht feststellen. Im Gegenteil: „Nationalsozialismus und Krieg“ seien von Carolina Rahm „im Sinn von Reue und Umorientierung“ nicht „aufgearbeitet“ worden, sondern „positiv im Gedächtnis“ haften geblieben.

Die meisten Beiträge handeln von männlichen Geistesarbeitern, von Schriftstellern, Journalisten, Künstlern und Juristen. Den Reigen hier eröffnet Shulamit Volkov mit Überlegungen zu Walther Rathenau, dem Industriellen und Politiker im Mantel des Intellektuellen. Die Autorin beobachtet ihn bei der „Suche nach dem kapitalistischen Utopia“. Sein signifikantester Wesenszug sei der nicht aufzulösende Widerspruch zwischen „seinem Eigeninteresse“ als Unternehmer und „seiner Weltanschauung“ gewesen. Jenes gewährleistete das materielle Substrat einer luxuriösen Existenz, war Ausdruck und Ausfluss einer vom Kapitalismus bestimmten Ordnung, diese zielte nicht auf deren Überwindung, wohl aber auf Zähmung durch neue Formen einer „organisierten Wirtschaft“.

Zwei von Rathenaus Zeitgenossen, der Theologe Ernst Troeltsch und der Romancier Thomas Mann sind die Protagonisten im Aufsatz von Jörn Leonhard, auch sie Zeugen und Interpreten tiefer gesellschaftlicher Umbrüche, hervorgerufen durch Krieg und Revolution. Beide, der eine früher, der andere später, entfernten sich von ursprünglichen, im Kaiserreich verankerten Positionen und näherten sich – jeder auf seine Weise, mit unterschiedlicher Reichweite und Begründung – der Demokratie von Weimar. Insofern waren sie Repräsentanten einer „Demokratisierung des Bürgertums“, stießen dort allerdings nicht auf die Resonanz, die sie verdient hätten.

Vom „katastrophischen Glück eines Emigrantenlebens“ handelt Arvid Schors Aufsatz. Der Mann, an dem das exemplifiziert wird, ist der Reporter und Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller, als Wiener Jude ein Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik nach dem „Anschluss“ Österreichs. Dass er davonkommen konnte, verdankte er der „Willkür“ und dem „Zufall“: zwei Aspekte, die, wie der Autor notiert, gewöhnlich vernachlässigt würden, weil „methodisch kaum zufriedenstellend zu erfassen“. Das trifft gleichermaßen auf das existentielle Unbehaustsein zu, das nie überwunden werden konnte, vielmehr als Trauma dauerhaft präsent blieb. Alle „Hoffnung, zu einem status quo ante“, nämlich zu dem von vor 1938, zurückzukehren, „wurde enttäuscht“.

Der noch vor Erscheinen des Buches verstorbene Hamburger Historiker Axel Schildt lenkt die Aufmerksamkeit auf Armin Mohler, ein bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein einflussreicher Chronist der Alten und Vordenker der Neuen Rechten, zeitweilig Ernst Jüngers Privatsekretär, Adorant von Carl Schmitt und „Propagandist eines deutschen Gaullismus“. Sein Buch über die „Konservative Revolution“, das mehrere Auflagen erlebte, beurteilt Schildt ohne Schnörkel als das, was es war: „Eine Apologie der konservativen Eliten der Weimarer Republik, die in ihren konzeptionellen Differenzen filigran unterschieden und zugleich in ihrer Gesamtheit von jeder Mitverantwortung für den Nationalsozialismus freigesprochen werden.“ Zwei Vertretern des entgegengesetzten Spektrums, den Rechtsanwälten Otto Schily und Christian Ströbele, gilt die Aufmerksamkeit von Stefan Reinicke, jener wie dieser aus wohlhabenden bürgerlichen Familien stammend, die es als Anwälte der ersten Generation der RAF zu einiger Berühmtheit brachten. Während Schily in den achtziger Jahren das „Linksbürgerliche wie ein altes Hemd abstreifte“ und zum Law-and-Order-Mann mutierte, bewahrte Ströbele seine Grundüberzeugungen. 1968 blieb „Fixpunkt seines Denkens“. Es spreche jedoch viel dafür, so die Deutung des Autors, dass „das Revolutionäre die Maske des Bürgers war.“

Gewidmet ist der Sammelband dem im Sommer 2019 pensionierten Freiburger Historiker Ulrich Herbert, der mit seiner großen Studie über den SS-Führer und Schreibtischtäter Werner Best Maßstäbe gesetzt hat. Die ihm zu Ehren dargebrachten Essays sind dem verpflichtet. Sie demonstrieren einmal mehr die Leistungsfähigkeit biographischer Zugriffe und die Vielfalt der darin aufgehobenen Perspektiven. Nicht zuletzt belegen sie dies: die Biographie, die über Jahre hinweg im Schatten der Sozial- und Strukturgeschichte das Dasein eines akademischen Mauerblümchens fristete, ist wieder in der Mitte kulturwissenschaftlicher Forschung angelangt, dabei den Menschen den Raum gewährend, der ihnen gebührt. Der Reiz der hier nur in Ausschnitten gewürdigten Sammlung liegt nicht zuletzt darin, dass aus den je individuellen Schicksalen in der Summe so etwas wie ein Panorama des 20. Jahrhunderts, aus einzelnen Puzzlestücken ein Gesamtbild erwächst, in dem sich eindringlicher als alle theoretische Konstruktion das wirkliche Leben in seinen mannigfachen, vielschichtigen, auch gegenläufigen und widersprüchlichen Bezügen spiegelt.

Titelbild

Jörg Später / Thomas Zimmer (Hg.): Lebensläufe im 20. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
325 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835335134

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