In den Straßen der guten Gedichte

Lutz Seilers mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2020 ausgezeichneter Roman „Stern 111“ lässt das deutsche Wendejahr 1989/90 noch einmal in magischen Bildern Revue passieren

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 1960 wurden im VEB Stern-Radio Berlin tragbare Radioempfänger, so genannte Kofferradios, produziert. Das Gerät mit der Nummer 111 erblickte 1964 das Licht der Welt. ‚Stern 111‘ war kein Ghettoblaster, auch wenn manche Jugendliche das kleine, knapp 27 mal 16 cm messende Plastikgehäuse stolz auf ihrer Schulter oder in der Armbeuge durch die Straßen Ostdeutschlands trugen. Man hörte Radio Luxemburg, AFN oder den Berliner Rias, in dem man sich am Samstagnachmittag sogar Musiktitel wünschen und dazu unter Pseudonym Grüße „aus der Zone in die Welt“ senden konnte. Letzteres war nicht ungefährlich – Stasihaft drohte, wenn obrigkeitlicherseits herausgefunden wurde, welcher „Republikfeind“ sich etwa hinter dem „Mistkäfer aus Döbeln“ verbarg. Aber die große Freiheit im Äther lohnte das Risiko.  

Stern 111, wie jener legendäre Transistorempfänger, heißt auch die erste größere epische Arbeit des in Gera geborenen Lutz Seiler (Jahrgang 1963) nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichneten Romanerstling Kruso. Der Leser stößt darin auf etliche Parallelitäten zu dem von der Kritik gefeierten Vorgängerroman. Ist es eine tragisch zuende gegangene Liebesgeschichte, die den Helden von Kruso im letzten Jahr der DDR auf die Insel Hiddensee und in das von der Titelfigur geführte Ausflugslokal Zum Klausner‘ treibt, so sind es diesmal die Eltern des Helden, die nach der Grenzöffnung im Spätherbst 1989 beschließen, die DDR zu verlassen und ihren Sohn, Carl Bischoff, zu ihrem Geraer Statthalter, ihrer „Nachhut“, wie es im Text heißt, bestellen. Der ahnt sofort, dass hier irgendetwas ganz und gar falsch läuft: „‘Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.‘ Etwas stimmte nicht mit diesem Satz.“

Allerdings bleibt der sich zum Dichter berufen fühlende Mittzwanziger nicht lange vor Ort. Aus der Thüringer Provinz zieht es ihn dahin, wo die meisten der von ihm bisher bewunderten Helden der Feder ihre täglichen Inspirationen aufsaugten und – hauptsächlich in illegalen Druckerzeugnissen wie den Untergrund-Zeitschriften Mikado oder Liane – publizierten: in das nach dem Mauerfall von Energie und Pioniergeist pulsierende Berlin. Und während sich Inge und Walter Bischoff – „ab Gießen getrennt“, weil man sich so größere Chancen ausrechnet – bemühen, westlich der Elbe Fuß zu fassen, treibt sich Karl auf den „Straßen der guten Gedichte“ herum, bis er eines Tages auf das „kluge Rudel“ von Hoffi, dem Hirten, stößt und Anschluss findet.

Stern 111 ist Wende-, Künstler- und Liebesroman in einem. Die Zeit zwischen dem Mauerfall im November 1989 und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ein knappes Jahr danach erscheint auf den Seiten dieses Romans als eine anarchische Übergangsperiode. Während ein Land langsam „ins Nichts“ verschwindet, kann man zwar bereits ahnen, worauf das Ganze letzten Endes hinauslaufen wird, aber noch sind die neuen Verhältnisse nicht etabliert. Zeit also zum Experimentieren und Erproben alternativer Lebensformen. Zeit auch für Carl, sich als Künstler zu finden und eine Liebesgeschichte, die bis in seine Geraer Schulzeit zurückreicht, endlich nicht mehr nur in Träumen, sondern auch in der Realität zu leben. Letzteres wird, auf Dauer gesehen, nicht funktionieren. Seinem Ziel allerdings, in Berlin die „Passage in ein poetisches Dasein“ zu finden, kommt Seilers Held, hierin seinem Erfinder eng verwandt, ein ganzes Stück näher.

Genau zwanzig gültige Gedichte sind es – noch „nicht genug für ein Buch“ –, mit denen Carl ankommt. Allein für das „kluge Rudel“, inmitten dessen er sich eines Nachts wiederfindet, spielen zunächst andere Fähigkeiten eine Rolle. Als gelernter Maurer ist er für den Anführer der kleinen Gemeinschaft der Prototyp des Arbeiters, den der „Assisi von Berlin“, wie Carl ihn einmal nennt, für seine „antikapitalistische Untergrundkolchose“ im Keller eines besetzten Hauses in der Oranienburger Straße dringend benötigt. Denn Carl hat aus Gera nicht nur den gut gepflegten Shiguli seiner Eltern mit nach Berlin gebracht, sondern auch etliches von dem Werkzeug, in dessen Gebrauch ihn sein Vater Walter – besessener Handwerker und Bastler – einst im heimischen Keller eingeweiht hat. Und so macht er sich, nachdem er mit Hilfe des Rudels eine leerstehende Wohnung in der Rykestraße gefunden hat, an die Arbeit. „Schneller als die Okkupanten und ihre Spekulanten“, die laut Hoffi mit Säcken voller Geld bereitstehen, um Ostberlin in ein einziges großes Spekulationsobjekt zu verwandeln, gilt es zu sein, um die Häuser, die man „in Obhut genommen“ hat, zum einen vor dem endgültigen Verfall zu schützen und zum anderen vor denen, die den Abriss schon bis ins Detail geplant haben, zu verteidigen.

Während unter Carls Anleitung eine Kellerflucht, der man nach dem Ungeziefer, das die Räume scharenweise besiedelt, den Namen „Assel“ gegeben hat, langsam die Gestalt der später in diesen Räumen betriebenen alternativen Kneipe annimmt, kümmern sich um Fragen des bevorstehenden Kampfes um die besetzten Häuser und der dabei einzusetzenden Mittel von „Nazi-Einsatzschränken“ bis hin zu ehemaligen DDR-Grenzhunden zwei Figuren, die man aus Seilers Vorgängerroman bereits kennt: Alexander Krusowitsch, kurz Kruso genannt, der sich in der Berliner Untergrundszene zum „Comandante“ gemausert hat und einen „irgendwie beschädigten Eindruck“ bei Carl hinterlässt, sowie dessen „Adjutant“ Edgar Bendler.

Die beiden, ein Jahr zuvor noch im ‚Klausner‘ auf der Insel Hiddensee zu finden, haben nur ein paar kurze Auftritte. Mit dem Doppelgänger-Motiv – „Doppelgänger war zu viel gesagt, aber die Ähnlichkeit war deutlich“ – weist Seiler auf die Verwandtschaft zwischen den von ihm erfundenen Figuren Edgar Bendler und Carl Bischoff hin, die beide inmitten einer Gruppe von Aussteigern – angeführt von Kruso dort und Hoffi, dem Hirten, hier, zwei charismatischen Figuren, wenn auch ein wenig seltsam und aus der Zeit gefallen wirkend – zu Dichtern werden und damit natürlich auch den biografischen Werdegang ihres Schöpfers widerspiegeln.

So wie Carl Bischoff seinen Eltern gegenüber übrigens verschweigt, dass er längst nicht mehr auf die ihm anvertraute Geraer Wohnung aufpasst – die hauptsächlich von der Mutter verfassten Briefe, mit denen der Sohn über den Stand der Dinge im Westen auf dem Laufenden gehalten wird, werden ihm von einer auf der Post arbeitenden Bekannten der Familie nachgesandt –, halten auch Inge und Walter Bischoff mit dem wahren Ziel ihrer Odyssee zunächst hinter dem Berg. Dass sie schon lange einen bestimmten Plan haben, weiß der Sohn zwar, aber nicht welchen. Ihr Weg zu ihrem lebenslangen Sehnsuchtsort, so stellt sich am Ende jedenfalls heraus, ist weiter als der von Carl und führt über verschiedene Stationen zwischen Gießen und Gelnhausen letzten Endes über den großen Teich und bis an die amerikanische Westküste.

In Malibu trifft sie Carl schließlich wieder und erfährt, dass es der Rock‘n‘Roll-Sänger und -Gitarrist Bill Haley war, der Inge und Walter 1958 im Anschluss an ein Konzert in Westberlin einlud, sofort mit ihm in die USA zu kommen. Allein die Bischoffs trauten sich damals nicht und ein zweiter Versuch, im Jahr des Mauerbaus der DDR zu entkommen, schlug fehl. Was ihnen danach all die Jahre in Gera Kraft gab, war der unbedingte Wille, ihr Leben eines Tages selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht von einem Staat ihre äußeren wie inneren Grenzen vorzeichnen zu lassen. Als die Mauer schließlich im November 1989 fällt, lassen die Bischoffs deshalb ohne zu zögern das meiste ihnen lieb Gewordene zurück. Nur sein altes Akkordeon, auf dem er einst die geliebten Rock‘n‘Roll-Melodien nachspielte, trägt Carl Bischoff auf dem Rücken mit sich in die Fremde, bis er vor dem Bill Haley gewidmeten Stern auf Hollywoods Walk of Fame seinem zehn Jahre zuvor verstorbenen Idol noch einmal nahe sein kann.

Vielfältig ist das literarische Netzwerk, auf das Lutz Seiler in seinem Roman Bezug nimmt. Es reicht vom gut gewählten Rilke-Motto aus dessen Künstlerroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) über Elke Erbs Gedichtband Kastanienallee (1987) bis hin zu Wolfgang Hilbigs Essay Die Arbeiter (1976). Etlichen Vertretern der ostdeutschen Lyrik- und Literaturszene der Wendezeit begegnet Carl Bischoff persönlich, an anderen – u.a. Jörg Schieke, Matthias Baader Holst, Reiner Kunze und Heiner Müller – und ihren Werken sucht der werdende Dichter Orientierung. Den Leipziger Thomas Kunst – „Carl war sicher, dass Kunst einer der Granden ihrer Zeit werden würde, oder nein: Er war es schon.“ – macht er gar eifersüchtig mit einem seiner Gedichte, worauf der sich revanchiert, indem er hemmungslos mit Carls Freundin Effi zu flirten beginnt. Und natürlich arbeiten Carls Gedichte genauso selbstverständlich mit dem Et-Zeichen, wie das sein Erfinder in seinen lyrischen Werken durchgehend tut.

„Nicht wenige sind unterwegs in dieser frisch befreiten Stadt. Die ganze Welt wird neu verteilt in diesen Tagen […]“, sind die ersten Sätze, die Carl von Hoffi, dem Hirten, hört. Wendezeit ist für die jungen Menschen in Stern 111 Abenteuerzeit und Zeit, eine große Utopie zu leben, zugleich. Von seinen Eltern zu ihrer „Nachhut in Gera“ bestimmt, wird Carl binnen eines Jahres zur Vorhut in Berlin. Doch der Traum, inmitten einer Gesellschaft die sich im Wandel befindet die eigenen Vorstellungen von einem guten und richtigen Leben für alle zu verwirklichen, währt nur kurze Zeit. Es sind die Monate, in denen sich Prostituierte und Sowjetsoldaten, Anarchisten und Künstler gemeinsam in der ‚Assel‘ versammeln und von einer Zukunft träumen, in der jeder seine Kreativität frei entfalten kann. Alles scheint möglich in diesen Tagen und dass Dodo, die Ziege des Hirten, sich sogar in die Luft erhebt, wundert kaum jemanden. Doch Hoffi selbst kann das nicht. Sein Absturz von einem Dach endet damit, dass er für den Rest des Romans nur noch ein Schatten seiner selbst ist – Symbol für jene Ernüchterung, die nach dem kurzen Jahr der Anarchie Einzug hält.

Übrigens spielt ein kleines Transistorradio auch im Vorgängerroman Kruso eine wichtige Rolle. Die Klausner-Besatzung auf Hiddensee informiert sich mit seiner Hilfe über die Ereignisse jenseits der Insel. Tag und Nacht ist der Apparat in Betrieb. Seine Bedeutung für die Männer und Frauen kann man schon daran ermessen, das ihm sogar ein Name gegeben wurde: Viola. Ob sich Botschaften mit Flüchtlingen füllen, der ungarische Grenzzaun zu Österreich niedergerissen wird oder verschlossene Züge ihren DDR-müden Passagieren noch einmal einen Blick auf das Land gestatten, das Glück für alle versprochen hatte, ohne dieses Versprechen letzten Endes zu halten – durch Viola reißt der Kontakt der sich „vom Land ausgespuckt“ Fühlenden zur Realität des Jahres 1989 nicht ab.

In ähnlicher Weise ist ihr Kofferradio auch für die Bischoffs immer mehr gewesen als nur ein schlichter Apparat zur Information und Unterhaltung: „An jedem Morgen und an jedem Abend hatte das Radio auf ihrem Esstisch gestanden, der kleine hölzerne Kasten mit der goldenen Blende war das geheime Zentrum ihres Familienlebens gewesen.“ Kein Wunder deshalb, dass das unscheinbare Gerät mit der magischen Ausstrahlung es in Lutz Seilers zweitem Roman sogar auf den Titel geschafft hat: Stern 111.

Titelbild

Lutz Seiler: Stern 111. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
500 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429259

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