Vom Verteidiger der Wölfe gegen die Lämmer

Hans Magnus Enzensberger mit neuen Gedichten und einem malerischen Mitstreiter: „Wirrwarr“ in Wort & Bild

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein neuer Gedichtband von Hans Magnus Enzensberger? Der wievielte ist das jetzt? Der vierzehnte seit 1957. Das ist ein Œuvre mit zahlreichen, ja großartigen Texten, die mitgenommen haben, auch wenn ihnen nicht immer zu trauen war. Die ihre große Zeit hatten, vor allem in den 1960er und 1970ern: Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer, Ins Lesebuch für die Oberstufe, Rädelsführer, Aufbruch in die siebziger Jahre, Eine schwache Erinnerung – die Enzensberger-Lektüren der frühen Jahre stammen schon aus einem Sammelband, der die Gedichte der Jahre 1955 bis 1970 zusammenstellte. Und danach kam noch viel mehr: Mausoleum etwa oder Der Untergang der Titanic – Texte, die in ihrer Zeit zu den großen, viel besprochenen und besonders wirksamen gehören. Auch wenn ihr Autor zwischenzeitlich die Wirkung der Belletristik sehr skeptisch beurteilt hatte. Das sehen wir ihm heute nach.

Enzensberger gilt als der intellektuelle Wendehals in der Literaturgeschichte der Bundesrepublik, als wenig verlässlich in seinen Ansichten, die allerdings immer gut begründet waren. Das kann man ihm vorwerfen, muss man aber nicht. Denn zu Verlässlichkeit ist nicht einmal die Lyrik da. Und wer will Enzensberger vorwerfen, er habe über einen Zeitraum von fast 65 Jahren immer gleich gedacht, auch als Lyriker? Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können – das ist nicht von Enzensberger, aber er scheint dieser Sentenz mit besonderem Eifer gefolgt zu sein.

Und – für den Fall, dass auch seine neuen Gedichte nicht gefallen – wer will ihm Stil, Machart oder gar Inhalt vorwerfen? Nur der, der mit dem Herausgeber des Museums der modernen Poesie (1960), dem Begründer des Kursbuchs, der Transatlantik, der Anderen Bibliothek oder dem Verfasser des Wasserzeichens der Poesie (1985) streiten will. Dabei kann man nur den Kürzeren ziehen.

1929 ist Enzensberger geboren, seinen 90. Geburtstag hat er im letzten Herbst gefeiert, er hat in der deutschen Literatur und Kultur eine Menge bewegt und will damit nicht aufhören, warum auch? – So sieht also der Clint Eastwood der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts aus… Aber der Vergleich hinkt, denn Enzensberger ist ein bisschen Selbstgewissheit abhandengekommen, wenn man denn seine Vorschrift nicht ironisch ernst nehmen will. Dort fragt er: „Ob das Gedichte sind?“ Aber am Ende ist auch das egal, allein schon deshalb, weil kein Leser der Koketterie eines Autors, so alt er auch sei, nachgeben sollte.

Hand aufs Herz, es ist doch nur ein Zufall und ein bisschen Manier, dass diese Texte die Form von Gedichten haben. Das macht sie nicht besser oder schlechter, aber vielleicht hilft es, sie ein bisschen vom hohen Lyrikross zu stoßen und sie als das zu nehmen, was sie wohl sein sollen: knappe Notizen, Reflexionen eines greisen Mannes von Rang, der zwischendurch immer mal wieder Atem holen will. Was einer langatmigen Autobiografie deutlich vorzuziehen ist.

Was diesen Texten aber fehlt, ist der Wunsch, es im letzten Moment noch allen zu zeigen und sich selbst so zurecht zu legen, dass das, was über diesen Autor gesagt werden wird, keine unerwünschte Note bekommt. Stattdessen riskiert Enzensberger eigentlich alles. Jahrzehnte literarischer Produktion, dutzende, ja, hunderte Seiten an Argumentationen und Exempeln. Statt Rechtfertigung und Testament lesen wir ein bisschen von diesem und jenem, was einen alten Mann zu bewegen scheint. Die nächtliche Kolik, die ihn auf seine Körperlichkeit zurückwirft und schaltet und waltet, wie es ihr gefällt. Zum Beispiel produziert sie Ablagerungen, die ausgerechnet am Wochenende durch allzu enge Kanäle abgeführt werden müssen. Gerade dann, wenn niemand zur Verfügung steht, um einem aus dem Schmerz herauszuhelfen.

Biografisch Motiviertes findet sich also trotz der dezidierten Abneigung gegenüber der Schlussabrechnung, dem Memento, dem Alter, der Krankheit und mehr. Aber keine Fragen nach einem Leben nach dem Tod, das wäre von Enzensberger auch nicht zu erwarten. Dafür in ironische Notate eingebettete Skizzen von dem, was dann – wenn es passiert – geschehen mag. Das geht teilweise so unprätentiös vor sich, dass sogar der Lyriker gelegentlich aus der Haut fährt: „Man kann es auch so sagen: / Der Dichter ist eine taube Nuß. / wenn er nichts zu sagen hat, / sollte er auf das Radebrechen / der zahllosen andern achten / und eine Weile das Maul halten.“

Aber im Großen und Ganzen ist er ganz in der Gegenwart, die für alte Leute oft in der Vergangenheit liegt. Da blitzt dann gelegentlich noch der alte sperrige Geist heraus, der in den „Alten Schlagern“ noch die Erinnerungen an die bösen Zeiten erkennt: „Diese wattigen Melodien – / nur wen sie bewegt haben / in einer fernen Sommernacht / oder im Schützengraben, / dem sagen sie viel. // Immergrün sind diese Ohrwärmer / nur für gewisse Jahrgänge. / Die jüngeren vernehmen / in ihren Kopfhörern / bloß schmalzigen Lärm / und scheppernde Reime.“ Was man ihnen nicht übel nehmen kann.

Wenn denn darin nicht doch eine selbstherrliche Pose steckte, mit der das Reden der anderen als so unerträglich qualifiziert wird, dass dagegen nicht anzukommen ist: Besser als ein Leben im Geschwätz ist es also zu schweigen. Woran sich der Autor selbst dann natürlich nicht hält. Aber das darf er ja.

Freilich klingen darin auch ein wenig die Zeiten an, in denen nicht jeder für sich der Musik lauschte, sondern so etwas wie Gemeinschaft nötig war. Die war nicht immer gewünscht, aber kam man um sie rum? In der fernen Sommernacht? Im Schützengraben? Auch an anderer Stelle kommt der alte, widerständige Kopf hervor – allerdings klingen die Töne heute anders: „Ausmisten, eine ewige Aufgabe, / nicht nur, wo ein Stück Gold winkt. / Der Saustall in der Politik, in der Wirtschaft / und in der Küche sind unbesiegbar.“ Was eben das ewige Lamento der Alten sein kann: dass nichts mehr so ist, wie’s mal war, und sowieso alles ein Saustall.

Aber auch ein Echo der alten ideologiekritischen Haltungen kann man darin erkennen oder auch nur einen Restbestand an Wendungen, die einfach wiederkehren. Das ist für einen Autor, der so viel Wert auf den Wortwitz legt, aber vielleicht doch ein Eingeständnis: „Es ist wahr, ich habe einen Vogel / der mir vorsagt, was ich denke, / wenn ich nicht schlafen kann.“ Aber zum Glück kommt auch für schlaflose alte Leute irgendwann ein neuer Tag: „Und wenn es endlich hell wird, / zittern die Fensterscheiben, / sobald die erste Trambahn, / Linie 9, menschenleer, / mit schwarzen Fenstern, / metallisch kreischend, / vorbeischlingert, / unter meinem müden Kopf.“

An solchen schlaflosen Nächten können auch die Bilder von Jan Peter Tripp nichts ändern, die teils wahllos, teils im Block in die Textabfolge der Enzensberger-Gedichte eingestreut sind. Eine Korrespondenz zwischen Text und Bildern findet sich nicht, eine eigene Narration der Bildabfolge anscheinend auch nicht. Bleiben die Bilder selbst – die wohl als rätselhaft daherkommen, am Ende aber dann doch vor allem manieristisch und dekorativ sind. Im Vergleich dazu hebt jeder Fettblock und jede dadaistische Montage die Stimmung erheblich, was wohl mehr über den Schreiber dieser Zeilen aussagt als über den Maler. Bleibt zu fragen, warum sich Enzensberger solche Beigaben antut.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Wirrwarr. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
140 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429167

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