Arbeit am Mythos
Gerhard Schneider über Feldmarschall Hindenburg an seinem Ruhesitz in Hannover zwischen 1919 und 1925
Von Jens Flemming
Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, der es bis zum Feldmarschall und Reichspräsidenten brachte, entstammte einer alten, durch besondere Leistungen nicht weiter herausgehobenen Adelsfamilie. Emil Ludwig, der sich in den 1920 er Jahren mit populären Biographien in die Bestsellerlisten schrieb, nannte ihn ein „biographisches Unikum“: ein Mann, der im Alter von 67 Jahren in die Geschichte eintritt, dann allerdings eine historisch außerordentlich folgenreiche Spur zieht und dies wiederum nicht allein durch eigenes Ingenium und eigene Verdienste, sondern durch das Talent, andere agieren zu lassen, davon zu profitieren und den Erfolg auf die eigenen Mühlen zu lenken. Im Ersten Weltkrieg wurde er, der reaktivierte General, zum Heros, zum „getreuen Eckart“ des deutschen Volkes. Der Nimbus, der ihn umstrahlte, nahm selbst im Moment der Niederlage keinen Schaden. Verantwortlich war nach seiner Überzeugung nicht er, sondern verantwortlich waren Sozialdemokraten und Parlamentarier, „Parteimänner“, die der kämpfenden Truppe an der Front aus Schwäche und Defätismus in den Rücken gefallen seien. Er war nicht der Erfinder der „Dolchstoßlegende“, aber er war es, der sie öffentlich beglaubigte und der rechtsradikalen Agitation jenes Schlagwort lieferte, das wie kein zweites das innenpolitische Klima der Weimarer Demokratie belastete, die Verfassungsordnung delegitimierte und destabilisierte.
Hindenburg zählte, wie Carl von Ossietzky, der Herausgeber der Weltbühne, 1927 in einem knappen Portrait anmerkt, „zu jenen artigen Kindern Fortunas, die schon bei Lebzeiten in die große Legende eingehen.“ Und mehr noch: Die Legende, der Ruhm und die Popularität blieben ihm treu, abzulesen an unzähligen Huldigungsadressen, die ihn zum ewigen Symbol deutschen Volkscharakters verklärten. Der Berliner Historiker Erich Marcks, der damals als einer der bedeutenden Biographen in der Tradition Leopold von Rankes galt, war sich 1932 nicht zu schade für panegyrische, heutigen Lesern peinliche Ergüsse. Wer wie er „durch sich selber ins Allgemeine“ hinaufwachse, trage die „Unsterblichkeit in sich“, hieß es da: „In granitener Monumentalität gehört das Bild Hindenburgs, wie wir es dankbar und ehrfürchtig und zugleich in tiefer Liebe vor Augen und im Herzen haben, wirklich in Bismarcks Nachbarschaft hinein“. Der Militärhistoriker Hans Delbrück dagegen bezeichnete ihn als „ehrwürdige Null“, und der in Hannover an der Technischen Hochschule lehrende Philosoph Theodor Lessing nannte ihn 1925 im Prager Tageblatt ein bloß „repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero“, fügte freilich warnend hinzu, dass „hinter einem Zero“ nicht selten „ein künftiger Nero“ lauere: eine, wie wir Nachlebenden wissen, hellsichtige Prognose, denn Hindenburg war es, der am 30. Januar 1933 das Schicksal der Nation einem blutrünstigen Schlächter, Adolf Hitler nämlich, anvertraute.
Lessings Urteil findet sich im Schlusskapitel von Gerhard Schneiders ausgreifender, mit zahlreichen Details gespickter, akribisch recherchierter, chronologisch und sachthematisch argumentierender Studie über Hindenburgs Wirken im Ruhestand, den er nach dem Abschied von der Spitze der Obersten Heeresleitung im Sommer 1919 bis zur Wahl zum Reichspräsidenten Ende April 1925, in Hannover verbrachte, wo er ein von der Stadt zur Verfügung gestelltes Haus in einem der nobleren Quartiere bewohnte. Die Quellen, aus denen der Autor schöpft, sind die am Ort erschienenen Zeitungen, fünf davon in der Mitte und auf der Rechten angesiedelt, am prominentesten der nationalliberale bis deutschnationale Kurier, und nur eines im linken Spektrum, der sozialdemokratische Volkswille. Jener unterstützte und beförderte mit Entschiedenheit und Eifer Hindenburgs politische Ambitionen, dieser war zwar geneigt, dessen militärische Leistungen anzuerkennen, wurde aber nicht müde, die reaktionären Machinationen in seinem Umfeld anzuprangern, dabei den Radius, den Macht- und Gestaltungswillen des pensionierten Troupiers sträflich unterschätzend.
Es ist eine eigentümliche Parallelwelt, die in den Berichten und Kommentaren der bürgerlichen Blätter hervor tritt. Da tummeln sich Angehörige der untergegangenen Feudalität, Prinzen aus dem bayerischen Königshaus, Standesherren und Rittergutsbesitzer, Offiziere gleich welchen Dienstgrades, örtliche Honoratioren, Repräsentanten des Handwerks und der Industrie, Agrarlobbyisten, Pastoren und Konsistorialräte, reaktionäre Organisationen und Gruppierungen, Regiments- und Kriegervereine, Wehrverbände wie „Stahlhelm“ und „Kyffhäuser“, der „Hochschulring deutscher Art“, nicht zuletzt rank and file der rechtsstehenden Parteien, der Deutschnationalen Volkspartei, in der sich der Konservatismus aus den verwehten Tagen des Kaiserreichs mit antisemitischen und völkischen Strömungen amalgamierte, ferner die Deutsche Volkspartei, in der sich der ältere Nationalliberalismus, nun allerdings mit deutlicher Drift nach rechts, ein Stelldichein gab. Sie alle einte, dass sie Hindenburg nicht nur als eine Art säkularen Heilsbringer verehrten und inbrünstig anbeteten, sondern mit ihm auch politische Ziele dieser und jener Art im Sinn hatten. Die Tonalität, die in diesem Milieu gepflegt wurde, die Parolen, die ohne Bedenken und ohne Scham ausgerufen wurden, die Methoden, derer man sich bediente, zehrten von der Erinnerung an König und Kaiser, von preußischen Ruhmestaten, von Weltgeltung, Weltpolitik und dem Streben nach dem imperialen „Platz an der Sonne“.
Keine Rede war hier, wie Schneider anhand einer Fülle von Belegen und Episoden zeigt, von der 1919 installierten Republik und deren Verfassungsordnung. Keine Frage, dass auf Aufmärschen und Versammlungen nicht die schwarz-rot-goldenen Farben der Demokratie, sondern die schwarz-weiß-roten Flaggen der Monarchie flatterten. Anlässe waren wie früher Kaisers Geburtstag, der Sedantag, die jährliche Wiederkehr der Tannenbergschlacht, die Hindenburgs Ruhm begründet hatte, Gefallenengedenken, Kolonial- und Reichsgründungsfeiern, ganz so als sei die Republik nicht existent. Typisch war, dass Hindenburg sich fernhielt von Veranstaltungen, die dem Rahmen und dem Geist der neuen demokratischen Ordnung verpflichtet waren. Feiern zu Ehren der Verfassung mit seiner Anwesenheit zu beehren, verweigerte er sich mit der ihm eigenen Beharrlichkeit. Selbstreflexives Innehalten nach dem verlorenen Krieg sucht man vergebens, von Einkehr und Umkehr keine Spur. Dass Hindenburg als Chef der Obersten Heeresleitung die faktische Verantwortung für die Kriegführung trug, insofern auch für die Niederlage und das überhastete Verlangen nach Waffenstillstand im Herbst 1918, Verantwortung nicht zuletzt für die jahrelange Überdehnung der Kräfte, für millionenfaches Sterben in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern in Ost und West, für die Überbürdung der Zivilbevölkerung, für Hybris, Leichtfertigkeit und strategische Fehlentscheidungen: dies alles wurde gar nicht erst thematisiert, weder von Hindenburg noch von seiner Entourage und den Scharen seiner Adoranten. Denn das hätte Schatten geworfen auf den zum Helden verklärten Mann und das von ihm verkörperte System, das jedoch spätestens im Krieg seinen Nichtbefähigungsnachweis erbracht hatte.
In diesem Kosmos inszenierten sich die Verdrängungsbedürfnisse all jener, die Deutschland ohne Not in das Abenteuer des Krieges gestürzt hatten, und nun danach strebten, sich ihrer Verantwortung durch Nichtanerkennen der Realitäten zu entschlagen, dabei für sich in Anspruch nahmen, die graue, mit mannigfachen, selbst verschuldeten Problemen beladene Gegenwart an einer mit unverdienten Gloriolen behängten Vergangenheit zu messen und niederzuschreien. Dazu passte, dass Hindenburg bei seiner Rückkehr nach Hannover, wo er seit 1911 gelebt hatte, wie ein strahlender, Lorbeer bekränzter Triumphator begrüßt wurde und nicht, was eigentlich angebracht gewesen wäre, wie einer, der – vom Schlachtenglück längst verlassen und mit Asche auf dem Haupt – mitgewirkt hatte, Deutschland in seine bis dahin tiefste Katastrophe zu steuern. Davon unberührt, versammelte sich vor dem hannoverschen Hauptbahnhof am 4. Juli 1919 eine unübersehbare Menschenmenge, davor Abordnungen der Studentenkorporationen, die sich in vollem Wichs und Fahnen tragend aufgebaut hatten, der Oberpräsident der Provinz Hannover, Mitglieder der städtischen Körperschaften, Generäle, die Rektoren der Technischen und der Tierärztlichen Hochschule. Nur einer fehlte: der Oberbürgermeister, der Sozialdemokrat Robert Leinert. Die entbotenen Grußworte und Ansprachen trieften vor Devotion, verloren sich in „unbegrenzter Bewunderung, unauslöschlichem Dank, hingebender Verehrung und Liebe“.
Hindenburg war kein begnadeter Rhetoriker. Schneider verzeichnet nur zwei, drei Reden, die an die dreißig Minuten Grenze heranreichten. Die Regel waren knappe, mit wenigen Worten bestückte Statements. Und die wurden gleichsam in einer Endlosschleife wiederholt, bei Bedarf leicht variiert, waren in der Aussage aber immer identisch. Beschworen wurde Deutschlands Wiederaufstieg, vorausgesetzt die Leute hielten sich fern von Parteigezänk und orientierten sich an Leitbegriffen aus dem preußischen Tugendkatalog: an Treue, Ehre, Tapferkeit, Arbeitsfreude. An vorderster Stelle rangierte der nimmermüde Appell, einig zu sein, fest und entschlossen aufzutreten nach innen wie nach außen. Das hatte, auch wenn es nicht offen ausgesprochen wurde, immer eine Spitze gegen die Republik. Zumindest schwang der Soupçon mit, dass sie der Monarchie bei weitem nicht das Wasser reichen könne. Die „Zeit“ werde und müsse „kommen“, erklärte Hindenburg im Mai 1924, in der die „schwarz-weiß-rote Fahne“ erneut „vorangetragen“ werde „zu Sieg und Ehre“. Wie selbstverständlich schlug dem Parlament und den Parlamentariern Verachtung entgegen, die Vision von Deutschlands Wiederaufstieg implizierte die Revision nicht nur des Versailler Friedensvertrages, sondern auch die der Weimarer Verfassungsordnung. Dabei war klar, dass dieses nicht ohne Umsturz und jenes nicht ohne Krieg zu haben sein würde.
War Hindenburg wirklich nicht mehr als eine „ehrwürdige Null“? Seine öffentlichen Äußerungen, die an intellektueller Schlichtheit kaum zu überbieten waren, lassen das vermuten. Tatsächlich steckte darin System. Dies anhand überzeugender Evidenz zu erhärten, ist eines der wesentlichen der Anliegen des Autors. Danach strebte Hindenburg von Anbeginn an nach Höherem. Schon bald nach seiner Ankunft in Hannover erwog er, sich bei den anstehenden Wahlen zum Reichspräsidenten als Kandidat zur Verfügung zu stellen. Der Kapp-Putsch im März 1920 machte diesen Plänen einstweilen einen Strich durch die Rechnung. Aber völlig erledigt hatten sie sich damit nicht. Mit Bedacht pflegte Hindenburg seine Kontakte in das Milieu seiner Unterstützer und potentiellen Wähler. Persönlichkeiten aus dem Lager der Rechten machten ihm ihre Aufwartung, versuchten ihn für ihre Ziele einzuspannen und drängten ihn erneut, sich nach dem Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur Verfügung zu stellen. Die regelmäßigen Auftritte, die er in der Öffentlichkeit absolvierte, nicht selten in der Uniform des Feldmarschalls, auf dem Kopf die Pickelhaube, waren sorgsam orchestriert. Sie ähnelten, wie Schneider am Beispiel eines Besuchs in Göttingen notiert, dem „Adventus der Kaiser in deutschen Großstädten“ in den Jahren vor 1914. Häuser, Straßen und Plätze prangten in schwarz-weiß-rotem Fahnenschmuck, Einheiten der Reichswehr paradierten mit klingendem Spiel, der Weg vom Bahnhof zum Rathaus glich einer „via triumphalis“. Über allem schien der „Geist von 1914“ zu schweben, jenes rauschhafte Augusterlebnis, in dem sich zu Beginn des Krieges, wie viele damals empfanden, die deutsche „Volksgemeinschaft“ offenbarte, die freilich unter den Widrigkeiten des Alltags bald darauf schon wieder zerbröselte.
Lässt man die von Schneider in seltener Vollständigkeit erhobenen und ausgewerteten Artikel aus der bürgerlichen Presse Revue passieren, gewinnt man den Eindruck, als hätte ganz Hannover dem greisen Feldmarschall zu Füßen gelegen, als sei die Stadt zur Hindenburg-Metropole mutiert. Dieser Eindruck jedoch täuscht. Lautstarken, zum Teil handfesten Widerstand leisteten die Kommunisten. Auch die lokale Sozialdemokratie hielt sich demonstrativ fern, übte Kritik und sparte nicht mit Spott. Hindenburgs Kandidatur für die Reichspräsidentenwahlen bewertete der Volkswille im April 1925 außenpolitisch als „Katastrophe“ und innenpolitisch als mögliche Quelle „schwerster Erschütterungen“. Ihn zu wählen, sei identisch mit einem „unverhohlenen Bekenntnis zur Monarchie und zum Krieg.“ In Hannover immerhin fielen dergleichen Warnungen offenbar auf fruchtbaren Boden. Zur Ehrenrettung der städtischen Gesellschaft muss gesagt werden, wie der Autor am Schluss seines lesenswerten Buches zu Recht hervorhebt, dass Hindenburg hier gegen den Kandidaten der Weimarer Koalition, den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx, deutlich in der Minderheit blieb.
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