Das Ereignis Mutterschaft

Rachel Cusks „Lebenswerk. Über das Mutterwerden“ spricht mit der Kraft und Intelligenz einer durch und durch femininen literarischen Stimme

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Großbritannien ist das Buch bereits 2001 erschienen und machte Rachel Cusk aufgrund ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Mutterwerdung zur „meistgehassten Schriftstellerin“ des Landes (The Guardian).  Erst jetzt, da die in Kanada geborene Autorin auch im deutschsprachigen Raum über ihre Trilogie Outline, In Transit und Kudos – die in rascher Abfolge im Suhrkamp Verlag erschienen sind – endlich bekannt geworden ist, liegt Lebenswerk. Über das Mutterwerden in der Übersetzung von Eva Bonné auch auf Deutsch vor. Ausgangspunkt für das Buch war die Geburt von Cusks erster Tochter Albertine und das dringende Bedürfnis, möglichst unmittelbar niederzuschreiben, was durch die Mutterwerdung emotional in ihr als Frau geschieht.

Tatsächlich ist das Buch auch mehr oder weniger parallel zur noch frischen Erfahrung der Mutterschaft entstanden – nachdem Cusk sechs Monate nach der Geburt der Tochter erfuhr, erneut schwanger zu sein, wie es in der „Einleitung“ heißt. Es ist diese zeitliche Nähe zum auslösenden Ereignis, die die Form des Buches bedingt, das im Englischen als Memoire geführt wird, im Deutschen als Roman betitelt ist und von Cusk selbst im Text als Brief bezeichnet wird. Doch weder ist es ein erinnernder Rückblick, wie es dem aktuell beliebten Genre des Memoire eigen ist, noch erzählt der Text tatsächlich eine Geschichte wie ein klassischer Roman, und es gibt auch keine direkte briefliche Anrede oder Spuren einer indirekten, versteckten Adressierung einer anonymen Leserschaft. Lebenswerk liest sich vielmehr wie ein sehr kluger und zugleich äußerst persönlicher, sprachlich zudem eleganter und präziser Essay, der das eigene individuelle Erleben brillant in den Dienst einer allgemeineren Reflexion stellt. Eine solcherart „feminine Essayistik“, die das sinnliche Erleben dem abstrakten Gedanken konsequent voranstellt und beidem gleiche Bedeutung beimisst, kennt man ansonsten etwa auch von Cusks US-amerikanischer Kollegin Siri Hustvedt und deren stark in der persönlichen Erfahrung wurzelnden Essaybänden.

Zur Form des Essays passt, dass sich Lebenswerk trotz der zeitlichen Nähe zum verhandelten Geschehen nicht wie ein Tagebuch chronologisch gliedert, sondern thematisch in dreizehn Kapitel. Cusk berichtet von der Erfahrung der Geburt mittels Kaiserschnitt, der Hilflosigkeit angesichts der Koliken ihrer Tochter, dem missglückten ersten „Freigang“, einem abendlichen Konzertbesuch ohne Kind, der Mühsal, ein Kindermädchen zu finden, von Stillberatung, Spielgruppen und Zufüttern, dem Versuch, aufs Land zu ziehen und dem babyfeindlichen London zu entkommen, vor allem aber von dem emotionalen Karussell, das all diese Erfahrungen nicht nur begleitet, sondern sie zu jenem grundstürzenden, existenziellen Ereignis macht, auf das der Titel Lebenswerk, im Original A life’s work, anspielt.

Eine intellektuelle Frau wie Cusk, die es als Schriftstellerin gewohnt ist, über ihre Zeit frei zu verfügen und sich in der Arbeit zu verwirklichen, wirft das Ereignis Mutterschaft, wenig überraschend, vollkommen aus der Bahn. Der Kampf zwischen dem „alten Ich“ der Schreibenden und dem „neuen“ mütterlichen ist der Grundkonflikt, um den sich der Text in der Tiefe strukturiert. Wäre das Buch 2015 auf Deutsch erschienen, als Regretting Motherhood von Orna Donath die Debatte um das Bereuen von Mutterschaft ausgelöst hat, hätte Cusks Text einen äußerst differenzierten Beitrag zur Diskussion beisteuern können, denn das Buch kommuniziert die Verzweiflung darüber, das alte Leben der unabhängigen, beruflich erfolgreichen Frau verloren zu haben, offen, und zeigt die Überforderung mit der neuen Rolle als Mutter, die wohl jede Frau, wenn auch auf unterschiedliche Weise, erfährt, vollkommen uneitel. Erfahrungen, denen nach wie vor im Weltbild vieler kaum Platz eingeräumt wird, obwohl sie sich logisch aus dem in der westlichen Welt längst vollzogenen Wandel der Frauenrolle ergeben.

„Rettung“ ist für Cusk in diesem permanenten Ausnahmezustand das Lesen, die Literatur. Neben bekannten pädagogischen Ratgebern zur Babypflege betreibt Cusk eine Relektüre zahlreicher Klassiker, die sie als Mutter nun plötzlich anders liest. Die literarischen Beispiele, aus denen sie im Text teils auch ausführlich zitiert, reichen von D. H. Lawrences Der Regenbogen über Gustave Flauberts Madame Bovary, Charlotte Brontës Jane Eyre und Leo Tolstojs Krieg und Frieden bis zu Frances Hodgson Burnetts Der geheime Garten und Marcel Prousts Swanns Welt. Gerade in dem Gespräch über andere Bücher zeigt sich die erstaunliche Klarsichtigkeit, zu der Cusk – obwohl sie, was sie gerade erlebt, ganz und gar nicht gleichgültig lässt – dennoch fähig ist. Lebenswerk selbst wird damit auch zu einem Beispiel dafür, wie Literatur – das Lesen fremder und das Hervorbringen eigener – als eine Lebenspraxis gelten kann, um mit überwältigenden Ereignissen wie jenem der Mutterwerdung umzugehen. Denn Versöhnung der scheinbar unvereinbaren Pole der intellektuellen Frau und der hingebungsvollen Mutter findet hier zweifach über die Literatur statt: einmal im Lesen, durch die Lektüre, in die das Ereignis der Mutterschaft positiv einfließen kann und neue Textfacetten zu erschließen hilft, und einmal im Schreiben: indem Cusk das Lebensereignis in ein literarisches überführt und sie die gegensätzlichen Rollen der Schriftstellerin und Mutter damit verbindet.

Vermissen könnte man in Lebenswerk die Einbettung des Erlebens der Mutterwerdung in das Cusk umgebende familiäre Umfeld. Der Name der ersten Tochter fällt nur ein einziges Mal, der Name des Ehemanns nie, er spielt auch im gesamten Text erstaunlicherweise so gut wie keine Rolle. Natürlich ist das mit dem Vorsatz des Schutzes anderer Persönlichkeitssphären zu begründen. Und natürlich lässt sich dieses Aussparen all jener Gedanken, die die Verwandlung der Paarbeziehung durch das gemeinsame Faktum der Elternschaft betreffen, mit einem möglichst engen Fokus auf dieses, dem weiblichen Geschlecht vorbehaltene Ereignis der Mutterwerdung, argumentieren. In dem ansonsten sehr intimen Nachdenken über eine existenzielle Erfahrung wirkt diese Leerstelle dennoch etwas unnatürlich. Aber das ist nur ein sehr kleiner Wermutstopfen. Lebenswerk bestätigt voll und ganz, weswegen Rachel Cusk zurecht als bedeutende und international gefeierte Autorin gilt, es zeigt beispielhaft die Kraft und Intelligenz einer durch und durch femininen literarischen Stimme, die Verstand und Gefühl aufs Klügste miteinander zu verbinden weiß.

 

Titelbild

Rachel Cusk: Lebenswerk. Über das Mutterwerden. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428894

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