Aus dem Kohleschacht hinaus aufs Meer

Benjamin Myers zeigt uns Englands „Offene See“ – und was im Leben wirklich wichtig ist

Von Léonie KlotzbücherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Léonie Klotzbücher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wo ist das Leben geblieben?“ Diese Frage stellt sich der Ich-Erzähler in Benjamin Myers Roman jeden Tag aufs Neue. Er weiß, dass er alt geworden ist, die Zeit nagt an ihm und an seinem Haus – schmerzende Gliedmaßen und abgewetzte Farbe deuten den Verfall an. Doch in seiner Erinnerung kann er zumindest vorübergehend wieder jung sein. So geht der Erzähler Robert Appleyard gedanklich den Weg zurück in seine Jugend, auf der Suche nach dem Gefühl der Lebendigkeit.

Im Jahr 1946 ist der Krieg zu Ende und Robert hat endlich die Schule beendet. Schluss mit dem stundenlangen Warten und Aus-dem-Fenster-Schauen. Er will eine Ahnung von seinem wahren Ich bekommen, das „Königreich Anderswo“ entdecken, bevor er seinem Vater in den dunklen Schacht des Bergwerks folgen soll. Er zieht los, nur das Notwendigste in einem Rucksack verstaut. Robert streift durch die Natur, lebt von der Hand in den Mund.

Eines Tages findet er zufällig ein kleines Cottage, das sich auf einer wuchernden Wiese versteckt. Es gehört Dulcie Piper, die ihn sofort großzügig bewirtet. Dulcie ist anders als alle Menschen, die Robert bisher in seinem Bergdorf getroffen hat: Sie ist eine unkonventionelle Lebenskünstlerin, die auch in Zeiten des Hungers nach dem Krieg die köstlichsten Mahlzeiten zubereitet und von irgendwo eine Flasche Wein und ein gutes Buch herzaubert. Obwohl Dulcie auch voller Schmerz und Traurigkeit ist, weiß sie das Leben zu genießen. Robert indes ahnt noch nicht, in welche Bahnen sein Leben durch diese Begegnung gelenkt werden soll.

Dulcie ermutigt ihn, ein Leben voller Poesie und Genuss zu führen, unabhängig von (familiären) Erwartungen und Pflichten. Denn „die Natur trägt immer den Sieg davon“; sie behauptet sich am Ende gegen grasstutzende Gartenscheren und neue Fassadenanstriche und auch gegen den Wunsch, ewig weiterzuleben.

Myers Sprache ist voller bildhafter Vergleiche, ja beinahe schon damit überladen, denn eine ausgefallene Metapher reiht sich an die andere. Ähnlich wie seine Romanfigur Robert, der sich „mit dem Leben vollstopfen“ will, verfährt Myers beim Schreiben und scheint seinen Roman gewissermaßen mit Metaphern vollstopfen zu wollen. Auf einer einzigen Seite wachen „oberhalb der Bucht […] herrschaftliche Häuser, während die Sonne kupferne Scherben wie Schrapnellsplitter über das Meer“ wirft, „geöffnete Netzgardinen wie hauchfeine Wolken“ aussehen und die „Erkerfenster des Speisesaals über die Klippe zu ragen [scheinen] wie der Bug eines Entdeckerschiffs“. Jede Metapher hat ihre Faszination, doch kann sie ihre Kraft nicht entfalten, weil schon das nächste starke Bild wartet. Gerade die detailverliebten Naturbeschreibungen üben jedoch einen starken Sog aus – beim Lesen verliert man sich ganz – und wenn man von den Buchseiten aufschaut, steht man noch immer auf dieser grünen Wiese vor Dulcies Cottage und sucht den Blick auf das Meer.

Offene See ist am Ende vor allem eins – eine typische Coming of Age-Story mit einer stellenweise konstruiert wirkenden Handlung. Den Leser wird es nicht überraschen, dass Robert immer noch einen Tag länger bei Dulcie bleibt, als er es eigentlich geplant hatte, und auch Dulcies dunkles Geheimnis bleibt ihm nicht lange verschlossen, da die Andeutungen doch ziemlich offensichtlich sind. Die Geschichte um Robert und Dulcie ist nicht neu und unerwartet – aber sie ist kunstvoll erzählt.

Titelbild

Benjamin Myers: Offene See. Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
270 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181192

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