Literarische und mystische Erfahrung

Der Roman „Aminadab“ (1942) von Maurice Blanchot liegt endlich auf Deutsch vor

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Essays Blanchots sind in Frankreich seit den 1940er und im angelsächsischen Raum seit den 70er Jahren ein fester Posten in Literaturkritik und -theorie. Ein Teil ist auch hierzulande zugänglich. Für seine Romane und Erzählungen gilt das nicht gleichermaßen. Sie wurden zwar in Frankreich immer wieder aufgelegt, erschließen sich aber nicht leicht – falls überhaupt. Ihre sprachliche Dichte erzeugt den Glanz eines Dunkels, zu dem das Licht der diskursiven Vernunft keinen Zugang verschafft. Zu Amina­dab (1942) schrieb Jean Paulhan, Lektor bei Gallimard und Herausgeber der Nouvelle Revue Française, seinerzeit, Blanchots Romane seien „vor allem wahr“, aber auch schwer zugänglich. „Was er schreibt, ist fast unerträglich auf 400 Seiten und vollkommen schön auf zehn Seiten.“

Die Bemerkung ist auch auf die Struktur des Romans zu beziehen. Obwohl die einzelnen Passagen auseinander hervorgehen, bilden sie doch keinen Zusammenhang; sie fügen sich nicht zu einem Ganzen. Es gibt keine weitläufigen Handlungen und keine narrativen Spannungsbögen, aber auch keine essayistischen Exkurse. Gleichwohl gibt es eine reflexive Dimension, die allerdings aus dem Erzählten und Beschriebenen selbst hervorgeht. Dieses stellt nicht referentiell-mimetisch dar, es entwickelt vielmehr die Form eines literarischen Denkens in Gestalt der Literatur. Lässt man sich darauf ein, erhält man Zugang zu dem, was Blanchot in einem seiner Essay-Bände den „literarischen Raum“ genannt hat. In ihm gibt es Regeln und Gesetze, deren Logik und Dynamik allerdings nicht denen der rationalen Vernunft folgen. Ähnlich wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Verfassung der Vernunft mit den Mitteln der Vernunft selbst in Form einer Selbstreflexion des Den­kens erkundet hat, so erkundet Blanchot in seinen Romanen das mentale Organon der Literatur – die Phantasie und die Sprache – mit den Mitteln der Literatur selbst in Form einer Selbst­reflexion des figurativen Denkens.

Seinerzeit hat Jean Paul Sartre auf die Ähnlichkeit mit den Romanen Kafkas hingewiesen und Blanchot einen Epigonen Kafkas genannt. Trotz bemerkenswerter Parallelen gab Blanchot jedoch an, er habe Kafka zur Zeit des Schreibens an dem Roman nicht gekannt. Erst später setzte er sich immer wieder mit ihm auseinander, sammelte seine Essays in Von Kafka zu Kafka und deutete ihn als einen der Autoren des 20. Jahrhunderts, die ihre Zeit am deutlichsten in literarische Kon­figurationen ge­fasst haben. Diesen Anspruch hatte er auch an sein eigenes Werk.

Das Gemeinsame der beiden Autoren ist für Sartre das Phantastische. Es sei Ausdruck der menschlichen Fähigkeit, über das Menschliche hinauszugehen und eine Welt zu schaffen, die nicht die alltägliche Lebenswelt ist. Diesen Bereich erkundet Blanchot als literarischen Raum besonders durch Reflexionen über das Sterben und den Tod. Kafkas Erzählung vom Jäger Gracchus, der als Untoter im Zwischenreich von Leben und Tod umhertreibt, war ihm dabei bedeutsam. Dieses Reich hat sich dem mythischen Denken seit alters als das der Traum- und Phantasiebilder erschlossen. Es liegt an der Schwelle zum Reich des Todes, weil das Bild eine Beziehung zur Abwesenheit des Abgebildeten stiftet und der Tod die absolute Abwesenheit ist. Im Bild ist das Abwesende anwesend und bleibt doch abwesend. Es ist dabei letztlich die Frage nach der ontologischen Verfassung des Phantastischen, der Blanchot in seinen Essays theoretisch, in seinen Romanen und Erzählungen poetisch nachgeht.

Die Szenarien Blanchots sind noch weiter von der Alltagswelt entfernt als die Kafkas. In Aminadab gibt es eine Straße und ein Haus ohne jeden städtischen Kontext. Thomas, der Protagonist, ist unterwegs und sieht, wie eine Frau im oberen Stock des Hauses am Fenster erscheint und ein Zeichen macht. Er deutet es als Auf­forderung und betritt das Haus. Dort wird ihm ein Zimmer zugewiesen, er lernt Bewohner kennen, wird mit dem Reglement des Hauses konfrontiert, irrt im Haus umher, übertritt ständig Schwellen, scheint auch voranzukommen, ohne irgendwo anzukommen. Die Suche ist zielgerichtet, zugleich auch sonderbar ziellos, fast intransitiv. Die Handlung besteht in der Suche nach der Frau. Als er sie schließlich findet, geschieht eine sonderbare Vereinigung zwischen den beiden.

Das Haus ist ein Wohnhaus mit sehr vielen Zimmern – eine Art Anstalt, Sanatorium oder Hospiz. Die Bewohner verbringen dort ihr Leben und sind dem Gesetz des Hauses unterworfen. Wenn das Haus als eine allegorische Konfiguration zu verstehen ist, entspricht sie nicht, wie die des Welttheaters, der lebensweltlichen Wirklichkeit. Der Übergang von der Straße in das Haus führt in eine Anderswelt, die zwar aus Elementen der Alltagswelt gebildet ist – Zimmer, Möbel, Betten, Menschen, Gesprächen –, aber sie sind auf andere Weise konfiguriert. Als Thomas „seine Augen umherschweifen ließ, schien ihm, dass das, was sie sahen, nicht von der Beschaffenheit der sichtbaren Dinge war. Alles war so fern, so äußerlich“. Die Raumverhältnisse der Zimmer, Flure, Stockwerke sind in ihrer architektonischen Verfassung nicht nachvollziehbar; die Zeit vergeht, ohne dass sie an irgendwelchen Anhaltspunkten messbar wäre. Das Haus ist ein Unort in einer Auszeit. Der Roman beschreibt das Leben und die Gesetze dieser Anderswelt und reflektiert sie zugleich auf verschiedenen metapoetischen Ebenen. Die Bewegung im Haus ist die Erkundung des literarischen Raums. Der Roman ist seine eigene Kritik, nicht als Reflexion von außen, sondern als Kritik der Fiktion mit den Mitteln der Fiktion: „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“ (Frie­drich Schlegel). Das Haus bildet ein geschlossenes System; es funktioniert nach seinen ei­genen undurchsichtigen Regeln, zu denen es aber auch kein Außen gibt. Es ist das Haus der Bilder und der Sprache.

Beschreibungen von Bildern und bildartigen Strukturen durchziehen den Roman. Die Bilder verhalten sich zur Anderswelt wie die platonischen Ideen zur Alltags­welt. In einem Raum hängen Bilder der Räume des Hauses, in einem anderen steht eine Staffelei mit einem Bild, das den Raum darstellt, in dem die Staffelei steht. Das Haus erschließt sich unter dem Aspekt der Bildlichkeit als Frage nach der Beziehung von Bild und Abgebildeten. Es ist der Raum des Zwischenreichs: zugleich wirklich und unwirklich. Die Wirklichkeit der Unwirklichkeit von Phantasie und Bildern, Sprache und Fiktionen ist die Figur der ontologischen Verfassung des literarischen Raums.

Das elementare Muster der Erzählung bildet die Suche, die traditionell den Schatz, den Gral, die Frau, die Wahrheit zum Ziel hat. Das Abenteuer, das Thomas zu bestehen hat, wird aber nicht mit Elementen des Abenteuerromans, sondern der spirituellen Literatur orchestriert. Der Roman wird zum Organon der mystischen inneren Erfahrung. Wie parallel sein Freund Georges Bataille in seinem epochalen Entwurf Die innere Erfahrung (1943; dt. 2016), erkundet Blanchot die Möglichkeiten einer atheologischen Mystik. Eine Figur der Mystik, aber auch der Phantastik, ist das Schloss. Die heilige Teresa von Avila hat den Raum der inneren Erfahrung als castillo interior – inneres Schloss vorgestellt. In Amina­dab ist es zu einem banalen Wohnhaus geworden. Kafkas K. gelangt nie in das Schloss, Blanchots Thomas kommt fast unmittelbar in das Haus, findet dort aber nichts, was ein Haus ausmacht, geschweige denn ein Schloss; allerdings gibt es Räume mit hohen Gewölben, die an Schloss- oder Kirchenarchitektur erinnern. Das ist der Bereich einer inneren Erfahrung, die aber sonderbar leer bleibt. Die Figuren der Seele, die auf dem inneren Schauplatz auftreten, sind allesamt Einzelfiguren mit Einzelhandlungen, die keine Gesamtkonfiguration bilden. Die allgemeine Verfassung des Hauses besteht darin, dass es zwar diverse partikulare Ziele und Zwecke gibt, die jedoch nie erreicht werden; und der Gesamtzweck, der überdies nie deutlich wird, gerät dabei ganz aus dem Blick.

Wenn Kafka die Entfremdung in der Welt beschreibt, das Ausgeliefertsein an eine Übermacht, die selbst anonym bleibt, erkundet Blanchot die Entfremdung im Medium der Wahrnehmung von Welt, das Ausgeliefertsein an Bilder und Worte, Phantasie und Sprache. Und wenn die Sprache im Allgemeinen die Dinge und die Welt in die phantomhafte Wirklichkeit der Worte ver­wandelt, wird sie als das Medium des Phantastischen erkennbar, das offenbar die menschliche Wirklichkeit schlechthin bildet. Blanchot erkundet den literarischen Raum von innen.

Bei seiner Suche erhält Thomas den Hinweis, der wahre Weg führe nicht nach oben, sondern nach unten durch die unterirdischen Bereiche. In deren Dunkel erfährt man eine Verwandlung, die auf neue Art zu sehen lehrt. Es gibt dort Gewächse, die keine organischen, sondern fiktive Blumen sind: die Blumen der Fiktion – wie die Metaphern die Blumen der Sprache sind. Mit dieser Erfahrung beginnt ein „neues Leben“ – so die entscheidende Figur der mystischen inneren Erfahrung. Die unterirdische Reise ist Vernichtung des alten Lebens und Initiation in ein neues. Die literarische Erfahrung der Fiktion ist das Medium der inneren Erfahrung, die traditionell in der spirituellen Literatur der Mystiker beschrieben wurde. Entscheidend ist dann die Frage, was aus der mystischen Erfahrung wird, wenn sie die Gestalt einer literarischen Fiktion annimmt. Sie wird dadurch akzentuiert, dass Thomas diese Erfahrung nicht selbst macht, sondern man ihm nur von ihrer Möglichkeit erzählt.

Im kompositorischen und konzeptuellen Zentrum des Romans steht der – an den Uraufstand Luzifers erinnernde – Aufstand einer Gruppe der Bewohner, der das Haus in den Grundfesten erschüttert. Nach dem Sturm auf die oberen Stockwerke führt er nach unten. Und später werden der untere Bereich des Hauses und das Unterirdische als der wahre Ort der Freiheit erkennbar. Nach dem Aufstand sind die Bewohner alle „tot und lebendig, lebende Leichen“. Die Worte sind ihnen fremd geworden. Die übriggebliebenen „Fetzen der Wahrheit“ wären nur in der „Sprache der Toten“ verstehbar. Das durch den Aufstand entstandene „Unheil“ führt immer tiefer „ins Herz des Bösen“, denn „das wahre Unheil begann erst nach dem Des­aster selbst“. Nichts im Haus ist „ohne Bedeutung“, aber alles ist „eine Frage der Deutung“. Sie ist Aufgabe des Lesers, der vor der Schwierigkeit steht, dass schon die Figuren des Romans die Dinge und das Geschehen unterschiedlich deuten, die aufs Ganze des Romans immer nur vieldeutiger werden. Beispielsweise scheint der Weg durch das Unterirdische doch wieder nach oben zu gehen – als führte, wie bei Dante, der Gang durch die unteren Regionen ins Paradies. Lucie, die Frau, die Thomas am Ende trifft, hat durch ihren Namen etwas von Luzifer, durch ihre Rolle etwas von Beatrice.

Die Vereinigung zwischen Thomas und Lucie ist mit Elementen der Brautmystik orchestriert. Im Hohen Lied der Bibel und im Geistlichen Gesang (1584) des heiligen Johannes vom Kreuz spielt Aminadab eine Rolle. Der spanische Mystiker nennt ihn eine Gestalt des Teufels, der die Seele an der heiligen Hochzeit zu hindern versucht. Im Roman ist er der Wächter an der Schwelle zum unterirdischen Reich der Freiheit, von dem es aber auch heißt, es gebe ihn gar nicht. Die Vereinigung findet – wie die unterirdische Verwandlung – nicht statt. Lucie beschreibt sie im Fu­tur; sie wird stattfinden, wenn es wahrhaft Nacht ist. Die Suche ist wesentlich zukünftig: das Abenteuer der Zukunft. Hier wird sie als dunkles Rätsel konfiguriert. Dann aber wird Lucie ihm so erscheinen, wie sie wirklich ist und alle Fragen beantworten. Der Roman endet mit dem Einbruch der Nacht:

Er riss die Augen auf und breitete die Arme aus. Seine Hände öffneten sich zaghaft und tasteten in der Nacht umher. Dann dachte er, dass es an der Zeit sei, eine Erklärung zu erhalten. ‚Wer sind Sie?‘, sagte er mit seiner ruhigen und überzeugten Stimme, und es war als würde diese Frage ihm erlauben, alles aufzuklären.

Die Übersetzung von Marco Gutjahr ist der opaken Sprache Blanchots angemessen. Hin und wieder gibt es kleinere Missverständnisse oder Gallizismen. Ein aufmerksamer Lektor hätte solche Stellen finden müssen. Und auch Satz und Layout sind höchst dilettantisch. Man hat die Absatzkontrolle eingeschaltet, ohne dabei auf das Ergebnis zu achten. So wurden zwar Witwen und Waisen vermieden, dafür sind die Seiten immer wieder mal um eine Zeile kürzer.

Titelbild

Maurice Blanchot: Aminadab.
Übersetzt aus dem Französiischen von Marco Gutjahr.
Diaphanes Verlag, Berlin 2019.
287 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783037346556

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