Im nächsten Sommer bitte die Spätphilosophie

Ulf Stolterfoht erklärt mit Wittgensteins Tractatus-logico philosophicus, was lyrische Sätze sind

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist experimentell an experimenteller Lyrik? Schreiben ist immer ein Experiment, wenn man mit Experiment Herumprobieren-mit-offenem-Ende meint. Aber das ist hier ja gerade nicht gemeint. Vielleicht gibt es eine Abfolge: zuerst moderne Lyrik, deren Struktur Hugo Friedrich beschrieb. Da wird das Material, die Sprache für undurchsichtige Bauten benutzt. Experimentalfrickler hingegen schauen sich die Backsteine selbst genauer an, kratzen sich am Kopf, wundern sich und legen los. Jedenfalls sind Sprachphilosophie und experimentelle Lyrik für viele der Experimentellen Lyriker siamesische Zwillinge – oder sie nähen sich diese beiden Wesen mal mit grober, mal mit feiner Nadel zusammen.  

Da ist es nicht verwunderlich, dass Ulf Stolterfoht, einer der ausgewiesensten Experimentallyriker, in drei Heidelberger Poetikvorlesungen, die er im Sommer 2019 hielt, in die Vollen geht: Unter Ludwig Wittgensteins spröder Frühphilosophie des Tractatus-logico philosophicus tut er es nicht. Zwar bleibt letztlich unklar, warum gerade der Tractatus für die Lyrik relevant sein sollte, aber das macht nichts, weil man Interessantes und witzige – sprachwitzige – Unterhaltung geboten bekommt.

Stolterfoht geht von Wittgensteins Einteilung der Sätze in sinnvolle, sinnlose und unsinnige aus. Man ahnt, in welcher Schublade lyrische Sätze landen werden, denn diese Dreiteilung ist nicht tricky. Sinnvolle Sätze sind Sätze, denen ein Wahrheitswert zugeordnet werden kann: „Es regnet“ ist wahr oder falsch, wie´s halt draußen zugeht. Das ist die alte Korrespondenztheorie der Wahrheit. Ein Satz ist wahr, wenn er einen Sachverhalt in der Welt ‚abbildet‘. Diese Sätze sind überdies kontingent: Mal regnet es, mal eben nicht.  

Sinnlos sind Kontradiktionen („Manche Junggesellen sind verheiratet“) und Tautologien, also Wahrheiten der Logik. Beide Satzarten haben wenig mit der Welt zu tun, sie bewegen sich nur in der Sprache. Unsinnig ist ein Satz, „wenn einem seiner Bestandteile keine Bedeutung gegeben ist, oder wenn Teile des Satzes keine Entsprechung in der Außenwelt haben“, zum Beispiel Sätze mit einem Einhorn.

So weit, so einfach. Man bemerke aber, dass Stolterfoht „Bedeutung“ mit „Gegenstandsexistenz“ (siehe Einhorn) identifiziert. Lässt sich, was lyrische Sätze sind, mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit begreifen? Das ist doch etwas simpel. Glaubt Stolterfoht das? Ja und nein.   

Das zeigt das Weitere. Nehmen wir, zum Beispiel in einem TATORT gesprochen, den Satz: „Chef, ich glaube, Sie sollten sich das hier mal anschauen!“ (meine Hervorhebung). Wir verstünden diesen Satz, „weil wir seine Struktur verstehen“. Was ist Struktur? Unklar. Unklar, oder besser: fraglich, bleiben auch Stolterfohts weitere Ideen. Auch wenn wir die Struktur dieses Satzes verstünden, so bliebe „die Irritation bezüglich des leeren Zentrums (meine Hervorhebung) dieses Satzes, seines blinden Flecks. Wenn man nämlich dem „das hier“ eine Referenz auf ein Objekt der Außenwelt zugesteht […], löste man dadurch die Idee einer halbwegs stabilen Semantik nicht vollständig auf? Sagte man damit nicht, dass alles buchstäblich alles bedeuten könne?

Natürlich nicht. Schefe versteht oder missversteht, wenn er sieht, was da ist – wir haben hier kein „leeres Zentrum“, sondern eine Praxis. Schefe muss sich schon die furchtbar verstümmelte Leiche ansehen, um „das hier“ zu verstehen. Hier ist keine Leere, hier sind Möglichkeiten: ein sprachlicher Ausdruck, der erst in der Praxis seine präzise Zuordnung erfährt. Das hier kann eine Leiche sein – oder ein Staubkorn – aber beide könnten bei einem Kriminalfall in einen weiteren praktischen Kontext einbezogen sein. Nein, alles kann nicht alles bedeuten – und tut es auch nicht.

Weil aber Stolterfoht Spaß an Wittgensteins Spätphilosophie hat, folgen lange Zitate aus den Philosophischen Untersuchungen. Die haben da nichts zu suchen, sie werden auch nicht befragt, sondern nur wie Preziosen ausgebreitet – das macht aber Spaß, weil Stolterfoht Spaß hat. Ebenso lustig weiß er Erzählungen aus seinem Leben einzuflechten. Auch Lyriker kennen Kindheit und Jugend – und da wurde auch schon ausprobiert, sei es, dass Stolterfoht von der Gründung einer privaten Leihbibliothek (fast ohne Leser) erzählt oder von seiner Freude an Stempeln, Stempelkissen und anderem Gedöns, das sich in Schreibwarenläden findet.  

In der zweiten Vorlesung geht es um „Titel“. Die können nun ja alles sein: Satz, Name, Bauplan, Irreführung. Stolterfoht interessiert sich für Titel von Musikstücken Frank Zappas – welche Beziehung besteht zwischen Musik und Titel? Im Zweifel: keine. Weil das nicht genügt, schnappt sich Stolterfoht Zappa-Titel oder erfindet welche hinzu, aus denen er dann für sich eine Bibliographie bastelt. Die darin erwähnten Bücher gibt es ja nicht. Kurz: es gibt Titel, und die Bücher dazu fehlen – also keine Referenz. Jean Paul wiederum hatte zwar mal ein Buch geschrieben und dafür eine Vielzahl an Titeln, er wusste sich aber nicht zu entscheiden. Man kann dieses Problem des Verweisens, der Referenz noch weitertreiben. Oskar Pastior schrieb Anagrammgedichte unter Verwendung von Titeln aus Hebels Rheinischem Hausfreund; daraus macht Stolterfoht wieder: Gedichte, aber jetzt nach seinen Bauplänen. Kurz und gut: Sprache wuchert, bildet Metastasen und die besten Metastasenbildner sind Experimentallyriker.

In der dritten Vorlesung geht es um lyrische Sätze, die zu den unsinnigen in Wittgensteins Dreiteilung gehören. Warum? Die Pointe wird sein: lyrische Sätze verweisen nur auf sich. Das beschreibt Stolterfoht anhand des Phänomens der Negation. Dass etwas nicht ist, „all diese vermeintlichen Strategien des Ausradierens sind in Wahrheit ja das genaue Gegenteil von Löschung; das, was hier passiert, ist eine ungeheure Emanzipation der Sprache gegenüber der Welt“. Da die Negation vom Nicht-Bestehen eines Sachverhalts spreche, sage sie: „Es gibt nichts, außer mir, dem Satz, der die Nicht-Existenz der restlichen Welt konstatiert“, lyrische Sätze „verweisen nicht auf, sie weisen vielmehr etwas auf. Und zwar im Zweifel: eine Struktur“. Es gebe hier „keine Bedeutung jenseits der Struktur“, und diese resultiere „aus den vorangegangenen Verwendungen dieser Struktur“ – wie gesagt: Satz gebiert Satz.

Und was lehrt uns das? Nun eben, dass Sprache wuchert. Geht es dabei noch um irgendeine Entsprechung mit der Wirklichkeit? Könnte man sich das nicht anders denken? Und zwar?

Vielleicht hilft Stolterfohts Sequenz am Ende der letzten Vorlesung. Er bedankt sich und bemerkt, ihm habe es in Heidelberg so gut gefallen, er würde gerne wiederkommen, ja, eingedenk der leckeren Kneipenlandschaft dort würde er für lau alle folgenden Poetikdozenturen übernehmen (Bierspenden seien willkommen).  

Soll man Stolterfoht das wünschen? Aus ärztlicher Sicht nicht (Leber, Cortex, Herz u.a.). Auf jeden Fall wäre ich 2020 dabei – wenn sich Stolterfoht da der Wittgensteinschen Spätphilosophie annehmen würde. Vielleicht wäre dann die irgendwie unsinnige Frage, ob ein lyrischer Satz die Welt ‚abbilden‘ können soll oder nicht, mit einer kniffligeren Antwort ausgestattet.  

Titelbild

Ulf Stolterfoht: Methodenmann vs. Grubenzwang und mündelsichre Rübsal.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
90 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346249

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