Rückwärtsgewandte Avantgarde?

Ein Sammelband stellt Ritterschaft und Reformation in einen interessanten Zusammenhang

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit der ‚eisernen Männer‘ war zweifellos das Mittelalter, und ganz gleich, ob die – etwa in den höfischen Romanen explizit vertretenen – ritterlichen Tugend- und Ehrbegriffe in vollem Umfang oder auch nur bedingt jeweils der Lebenswirklichkeit entsprachen oder nicht: Zumindest militärisch und damit letztlich auch gesellschaftlich verloren die Vertreter des Ritterstandes in der europäischen Moderne, die in der Kriegsführung immer stärker durch Fernwaffen geprägt wurde, rasch an Bedeutung. Und so scheint es selbstverständlich, dass dies gerade auch einen quasi naturgegebenen Widerspruch zur Reformationsbewegung nach sich zog, die als ein Markstein eben jener Moderne anzusehen ist. Dass dies nicht notwendig ist, macht der vorliegende, von Wolfgang Breul und Kurt Andermann edierte Sammelband deutlich. Hier werden in den verschiedenen Beiträgen Rahmenbedingungen beziehungsweise Veränderungen in jener ‚Achsenzeit‘ thematisiert, die Wandel und Beharrung der Ritterschaft um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrtausends ausmachten.

Zur Vorgeschichte des Bandes: Mit Bezug beziehungsweise im Vorgriff auf die im Jahre 2015 in Mainz realisierte Ausstellung Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation organisierten die Herausgeber dieses Bandes eine Tagung unter dem Titel Ritterschaft und Reformation, deren Ergebnisse nunmehr in Schriftform vorliegen. Hier sind die Vorträge des Symposions zusammengetragen und erlauben einen Blick auf die Vielfältigkeit der Entwicklungen um die Zeit der Reformation, auch wenn es – das ist sicherlich eine der Kernaussagen – keine Einheitlichkeit eben jener Bewegungen gegeben hat. Die Beiträge umfassen zwei größere Bereiche: die Ritterschaft im Reich sowie ihr Verhältnis zur frühen Reformation und den damit ausgelösten konfessionellen Entwicklungen zum einen und zum anderen eben jene Tendenzen im größeren europäischen Kontext.

In den ersten Rahmen gehört der Beitrag Steffen Kriehs Jenseitsvorsorge, Herrschaftsrepräsentation und Familiengedächtnis. Zur Memorialprais des Niederadels im Pfälzer Raum zwischen Spätmittelalter und Moderne, in dem etwa dokumentiert wird, dass es keineswegs eine topographische Stringenz der Grablegen gegeben hat, sondern dass die Mobilität im Leben, die oft genug machtpolitisch ausgerichteten Interessen entsprang, sich gewissermaßen auch in den Grablegen widerspiegelte. Auch Joachim Schneider geht auf diese handlungspolitisch motivierten Aspekte ein, indem die ‚Koalitionen‘, die der archetypische ‚Reformationsritter‘ Franz von Sickingen betrieb (Gesellschaften – Einungen – Ganerbschaften – Netzwerke. Franz von Sickingen und die föderativen Gruppenbildungen in der südwestdeutschen Ritterschaft um 1500). Hier werden Verbindungen, eben ‚Netzwerke‘, nachgezeichnet, die zunächst im Rahmen der ritterlichen Machtpolitik zu sehen sind, die dann aber – wobei der Autor auf die beschränkten Aussagemöglichkeiten bezüglich eines entsprechenden Automatismus verweist – zumindest in Ansätzen auch im Hinblick auf die reformatorisch bedingte konfessionelle Neuorientierung einiger Beteiligter Wirksamkeit entfaltete. In diesen Kontext weist auch der Beitrag Fehdepraxis in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Sickingen-Fehden im Vergleich mit anderen Fehden von Christine Reinle, die den Fokus auf die Konfrontationspraxis des Niederadels richtet. Hier spielte offensichtlich der konfessionelle Aspekt keine Rolle, die Autorin weist im Gegenteil darauf hin, dass es zwar durchaus ‚juristisch‘ motivierte Fehden gegeben habe, der Großteil jener Auseinandersetzungen – und gerade auch derjenigen, in denen Franz von Sickingen maßgeblich hervortrat – jedoch in erster Linie dem Zweck diente, durch den Fehde ‚den Mann zu ernähren‘. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Asymmetrie würden diese in der Gegenwart in den Zusammenhang mit Terrorismus gestellt.

Während Markus Schmettger mit dem Beitrag Kaiser, Reich und Ritterschaft am Beginn der Frühen Neuzeit einen – trotz eingeräumter Defizite – informativen Überblick zum Thema liefert, geht Matthieu Arnold (Die Ritterschaft in Luthers Briefwechsel (1520-1523)) dezidiert auf die Erwartungen des Reformators, aber eben auch auf die Reaktionen zumindest einiger der Reichsritter ein. Diese lassen darauf schließen, dass Luther zum einen handfeste Unterstützung, gerade auch für den Fall, dass ihn sein Beschützer, der Kurfürst von Sachsen, fallen lassen würde, suchte, er andererseits aber auch als ‚Legitimator‘ von Seiten eben jener im Niedergang begriffenen Gruppe der Reichsritter gesehen werden konnte. Als wesentlichen Vertreter greift Mitherausgeber Wolfgang Breul (Ritterschaft und Reformation bei Franz von Sickingen) Franz von Sickingen exemplarisch heraus, um die Positionierungen und Verschränkungen zwischen den Vertretern der Reformation und der Reichsritterschaft zu verdeutlichen. Ansätze zu frühen reformatorisch orientierten Positionierungen in der Ritterschaft sieht der Autor dabei durchaus als gegeben an: „[V]on einer organisierten ‚Adelsreformation‘ waren diese wenigen Verknüpfungen und Anfänge aber weit entfernt – und erst recht von einem ‚Aufstand der Reichsritter‘.“ Mit Hartmuth von Cronberg nimmt Mathias Müller den „frühreformatorischen Flugschriftenautor und Bundesgenossen Sickingens“ in den Blick, der – so der Verfasser – eine nicht unwesentliche Rolle gespielt habe, denn „Hartmuth von Cronberg ist ein Beispiel dafür, dass den Laien in den Anfangsjahren der Reformation für deren Verbreitung und Durchsetzung eine wesentliche Rolle zukam“.

Die Situation in einzelnen Regionen war durchaus divergent. Mitherausgeber Kurt Andermann verweist unter dem Titel Verbum Domini manet in Aeternum auf das Verhältnis von Ritterschaft und Reformation im Kraichgau, der im Unterschied zu anderen Landstrichen früh und nachhaltig durch die Wirksamkeit der neuen Lehre geprägt worden sei. Auch wenn diese Ausrichtung nicht von allen Familien beibehalten wurde – sogar die von Sickingen kehrten zum alten Glauben zurück –, konnte sich die Reformation dort auch in der politischen Organisation der ansässigen Reichsritter dominant etablieren. Auch im Elsass konnten Anhänger der Reformation an Boden gewinnen, wie Marc Lienhardt (Die elsässische Ritterschaft und die Reformation) nachweist. Im Unterschied zum Kraichgau waren diese frühreformatorischen Prägungen nicht von Dauer, denn bereits Ende des 16. Jahrhunderts wurden einige Gebiete im Elsass wieder rekatholisiert, und vor allem die Folgen des Dreißigjährigen Krieges und der Fall des Elsass an Frankreich wendeten die konfessionelle Landschaft dann wieder.

In einem weiteren regionalgeschichtlich orientierten Beitrag (Ritterschaft in der Rhön) beleuchtet Berthold Jäger die konfessionelle Gemengelage in der Frühen Neuzeit in dieser Mittelgebirgsregion, die späterhin durch die ‚konfessionelle Trias‘ Katholizismus, Luthertum und Calvinismus geprägt wurde, aber auch durch die politischen Streitigkeiten zwischen der Ritterschaft und dem Landgrafen von Hessen-Kassel destabilisiert worden war; womöglich war die erfolgreiche Rekatholisierung der Rhön sogar ein Ergebnis dieser Konflikte zwischen Ritterschaft und Landesherrn. In Kursachsen waren ebenfalls die niederadeligen Ritter nicht unwesentliche Exponenten der Frühreformation, wie Uwe Schirmer (Der obersächsisch-thüringische Niederadel in der Frühzeit der Reformation (1520–1525)) beschreibt und nachweist, dass bereits vor der ‚Reformation von oben‘ entsprechende Neuerungen durch Vertreter der Stadträte und eben des niederen Adels eingeführt worden waren.

Mit Mikkel Leth Jespersen (Die Reformation in Dänemark und Schleswig-Holstein und ihre Bedeutung für den Adel) wird die europäische Ebene betreten. Der Autor weist auf die geschickte Positionierung des Adels hin, der sowohl in der Ausprägung des dänischen Territorialadels als auch der Ritterschaft die Veränderungen zur Generierung beziehungsweise Festigung machtpolitischer Privilegien auszunutzen verstand. Maciej Ptaszyński (Toleranzedikt, Wahlkapitulationen oder Religionsfrieden? Der polnische Adel und die Warschauer Konföderation) zeigt Phänomene und Konflikte während der Phase der Reformation, aber auch danach auf, die in Polen zu divergierenden Ergebnissen führten und damit offenbar instabilere Strukturen hervorbrachten, als das im deutschen und nordischen Bereich der Fall war.

Václav Bůžek (Die Reformation und der niedere Adel in den böhmischen Ländern) zeigt die besondere Situation im tschechischen Gebiet auf, die einerseits durch den Hussitismus frühreformatorisch geprägt, andererseits gerade wegen des Scheiterns dieser Bewegung aufgrund deren Verknüpfung mit ethnischer Identitätsbildung der mitteldeutschen Reformation gegenüber eher kritisch eingestellt war. Gleichwohl konnte auch hier gerade der niedere Adel ‚Multiplikatorenfunktion‘ wahrnehmen. Zwischen Aufstieg und Überdauern beschreibt András Korányi den Adel in der Reformationsgeschichte in Ungarn und lenkt damit den Blick auf die habsburgische Peripherie. In den Kernbereich dieser, der habsburgischen, Region verweist auch Arndt Schreiber (Adel und Reformation in den habsburgischen Erbterritorien), der die durchaus tragende Rolle des Adels bei der Etablierung der Reformation aufweist, dessen entsprechende Rechte allerdings im Zuge des Staatsbildungsprozesses durch das streng katholische Erzhaus Österreich nach 1620 verloren gingen, sodass der protestantische Adel entweder konvertieren oder emigrieren musste.

Der Waldenserbewegung beziehungsweise der Präsenz waldensischer Gemeinden und ihrer politischen Wirksamkeit im westlichen Alpenbogen widmet Lothar Vogel einen lesenswerten Beitrag (Ortsadel und Landesherr in ihrem Verhältnis zu den Waldenserpräsenzen), der aufzeigt, dass sich im 16. Jahrhundert neue Gewichtungen in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit ergaben. Philipp Benedict (The Lesser Nobility and the French Reformation) zeigt schließlich die Momente der konfessionellen Vielfalt auf, deren ohnehin fragiler Bestand jedoch nach der ‚Bartholomäusnacht‘ nicht mehr gegeben war.

Abschließend lässt sich konstatieren, dass das vorliegende, durch ein Personen- beziehungsweise Ortsregister abgerundete Buch einen lesenswerten Beitrag zu einem wesentlichen Abschnitt der Frühen Neuzeit liefert, und dabei zwar vornehmlich, aber nicht ausschließlich den Stand der Ritter in den Fokus nimmt. Auch oder gerade wenn die Herausgeber, aber auch Einzelne der Beitragenden auf die notwendige Unvollständigkeit des Buches und entsprechende Desiderate in der Forschung verweisen, erscheint die Publikation ‚rund‘ und in sich durchaus geschlossen. Womöglich ist es ja auch gerade so, dass der eine oder andere Beitrag zu Forschungstätigkeiten Anlass zu geben vermag, mit denen die noch vorhandenen ‚weißen Flecken‘ von der Forschungslandkarte getilgt werden können. Es lohnt sich aber so oder so, das Werk auf die Liste wesentlicher Bücher zur Reformationsgeschichte zu setzen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wolfgang Breul / Kurt Andermann (Hg.): Ritterschaft und Reformation.
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019.
374 Seiten, 63,00 EUR.
ISBN-13: 9783515122580

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