Vermeintliche Paradoxien und wirkliche Widersprüche

Aladin El-Mafaalani entlarvt die Mythen ‚Bildung‘ und ‚Chancengleichheit‘

Von Wulf HopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Hopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer jahrelang über Bildungsungleichheit und -ungerechtigkeit geforscht, gelehrt und geschrieben hat, der verspürt vermutlich eines Tages den Drang, einmal differenziert all das zu entfalten, auf den Punkt zu bringen und in allgemeinverständlicher Form einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Zumal wenn er – Aladin El-Mafaalani, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück – einen Aspekt des Themas, die Situation sehr benachteiligter junger Menschen, in seiner eigenen früheren Berufspraxis als Lehrer an einem Berufskolleg hautnah miterlebt hat. Wer sich ein solches Projekt vornimmt, muss einen großen Spagat bewältigen, muss sehr umfangreiche, spezialisierte empirische Fachliteratur zum Thema verarbeiten und sie so vereinfachen und zuspitzen können, dass dies für die Experten und Expertinnen noch akzeptabel ist und zugleich für die aufgeklärten Laien eines breiten Publikums einen Erkenntnisgewinn bedeutet. El-Mafaalani und sein Verlag haben bereits erfolgreiche Vorerfahrungen mit einem derartigen Balanceakt gesammelt – vor wenigen Jahren hat der Autor einen Bestseller zum Thema Integration geschrieben. 

El-Mafaalani gelingt es erneut, die Balance zu halten. Dazu trägt auch bei, dass er seine profunden Literaturkenntnisse in einem sehr ausführlichen Anmerkungsteil unterbringt, in dem man feineren Verästelungen des Themas folgen kann. So ist der Haupttext entlastet. Es bleibt aber die Schwierigkeit, die Begriffe, Thesen und Ergebnisse der jahrzehntelangen Forschung zum Thema Chancengleichheit im Bildungssystem so zusammenzufassen und darzustellen, dass auch nicht-fachkundige Leser und Leserinnen ein differenziertes Bild gewinnen und das Engagement des Autors für mehr Bildungschancen von Kindern aus unteren Sozialschichten teilen können. Dieser Anforderung genügt das Buch nur teilweise.

Im ersten Teil (Blackbox Bildung) arbeitet El-Mafaalani überzeugend heraus, dass traditionelle Bildungsbegriffe (Bildung als Humankapital und als Persönlichkeitsformung) die besondere Bedeutung der gesellschaftlichen Ungleichheit für Bildungsprozesse nicht einfangen können. Das schafft seiner Ansicht nach dagegen der von Bourdieu übernommene Begriff des „Habitus“ besser, an dem er sich im weiteren Verlauf des Buches immer wieder orientiert.

Die Schwierigkeiten der Darstellung beginnen anschließend mit Teil II (Mythos Chancengleichheit) und Teil III (Paradoxien der Bildungsexpansion). Sie stellen die Grundlage seiner Kritik an der bisherigen Politik der Chancengleichheit und des gegenwärtigen Schulsystems (Teil V) dar und prägen sein eigenes, alternatives Schulkonzept (Teil VI – Bildung der Zukunft). Worin der „Mythos“ der Chancengleichheit eigentlich besteht, wird nicht klar. El-Mafaalani stellt mehrfach fest, dass Chancengleichheit ein „normatives Postulat“ sei, über das in der Gesellschaft ein breiter Konsens herrsche, obwohl empirisch immer wieder nachgewiesen wurde, dass dieses Postulat nicht erreicht wird. Warum besteht der Konsens trotzdem? Weil die angebliche Gleichheit der Bildungschancen die anschließende Ungleichheit im Berufszugang und in den Einkommen legitimiert? Das erfährt der Leser/die Leserin nicht wirklich, und auch der Versuch, das „Proporzmodell“ der Chancenungleichheit und das „meritokratische Modell“ zu erklären, hilft nicht weiter. 

Hier zeichnet sich eine Schwäche des Buches ab, die mit dem Thema Bildungschancengleichheit zusammenhängt: Es ist deshalb besonders sperrig, weil einige Grundbegriffe, das wirkliche Ausmaß herkunftsbedingter Bildungsungleichheit, ihre Ursachen und historischen Veränderungen nur erkennbar sind, wenn Zahlen – nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige – und ihre Interpretation ins Spiel kommen. Das haben Autor und Verlag weitgehend vermieden. Die größte ‚Zumutung‘ ist der schon häufig dargestellte „Bildungstrichter“, der Kinder von Akademikern und von Nicht-Akademikern im Hinblick auf ihren Anteil in Gymnasien, am erfolgreichen Abitur, im Studium etc. vergleicht und die Kluft zwischen ihnen immer größer werden sieht. El-Mafaalani fasst zahlreiche weitere, differenzierte Ergebnisse empirischer Forschung häufig nur so zusammen, dass es „enorme“ Veränderungen, immer weitergehende „Verschärfungen“ von Tendenzen und „enorme Herkunftseffekte“ gibt, ohne dass der Leser/ die Leserin irgendeine Grundlage für solche Einschätzungen erhält.

Im Abschnitt III (Paradoxien der Bildungsexpansion) will der Autor eine Aussage plausibel machen, die den Abschnitt zusammenfasst: „Expansion bedeutet: mehr von dem, was nichts bringt“. El-Mafaalani identifiziert drei Paradoxien, die diese vermeintliche Erfolglosigkeit ausmachen sollen: „Bildungsungleichheit wächst, weil Bildungschancen steigen“; „Abschlüsse werden immer wichtiger und sind immer weniger Wert“; „Alle werden schlauer und keiner kriegt es mit.“ Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sich El-Mafaalanis Paradoxien in Luft auflösen, wenn er einige grundlegende Unterscheidungen getroffen und einige empirische Befunde genauer zur Kenntnis genommen hätte.

Eine erste, grundlegende Unterscheidung ist die von „absoluter“ und „relativer“ Ungleichheit der Bildung bzw. von absoluten und relativen Bildungschancen. El-Mafaalani vermengt beides. Wenn zum Beispiel gesagt wird, im Zuge der Bildungsexpansion hätten alle profitiert, weil der Anteil von Abiturienten am Altersjahrgang erheblich gestiegen, der von Absolventen mit Hauptschulabschluss dagegen gesunken sei, ist von absoluten Ungleichheiten der Bildung die Rede. Sehr viele Aussagen zu erwünschten oder unerwünschten Entwicklungen im Bildungssystem beziehen sich auf absolute Ungleichheit. 

Bei „relativen“ Chancen bzw. relativer Bildungsungleichheit findet dagegen ein Perspektivwechsel statt: es wird gefragt, welche sozialen Gruppen, denen die Schüler und Schülerinnen durch ihre Geburt und Herkunft angehören (soziale Schichten, ethnische Gruppen, Geschlechtergruppen etc.) von einer bestimmten Entwicklung im Bildungssystem besonders begünstigt oder benachteiligt werden. Der Vergleich zwischen diesen Gruppen offenbart Gleichheit/Ungleichheit der relativen Bildungschancen. Dass sich z.B. die absolute Bildungsungleichheit im Zuge der Bildungsexpansion verringert hat, sich aber die relativen Chancen von Kindern und Jugendlichen nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen nicht geändert oder sogar verschlechtert haben, ist kein Paradox, sondern stellt nur unterschiedliche Sichtweisen auf einen historischen Prozess dar.

Zum Paradox kann die Entwicklung nur werden, wenn es eine inhaltliche Verknüpfung zwischen absoluter und relativer Ungleichheit gibt. El-Mafaalani stellt sie mit der Behauptung her, dass die Bildungsexpansion ein politisches Instrument oder eine „Strategie“ zur Erzielung von mehr Bildungschancengleichheit der verschiedenen Sozialgruppen gewesen sei. Das heißt also, dass mittels Abschwächung der absoluten Bildungsungleichheit auch die relative Bildungsungleichheit hätte verringert werden können. Im Fall der Bildungsungleichheit der Geschlechter habe diese Strategie funktioniert, sich sogar später umgekehrt und gegen die Jungen gewendet; im Fall der Bildungsungleichheit von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit dagegen nicht. Hier habe der „Fahrstuhleffekt“ geherrscht: Alle Jugendlichen einer bestimmten Alterskohorte hätten von der Bildungsexpansion profitiert, aber die Abstände zwischen den Jugendlichen unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit seien gleich geblieben. Ergo: Expansion als „mehr vom Gleichen“ „bringt nichts“.

Dem widerspricht jedoch, dass es mittlerweile viele Befunde der Bildungsforschung gibt, nach denen in den letzten Jahrzehnten der Bildungsexpansion die relativen Chancen von Kindern unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit sich angeglichen haben (und nicht „verschärft“). Außerdem ist El-Mafaalanis Annahme strittig, die Bildungsexpansion sei überhaupt als politische Strategie zu verstehen. Welche politische Gruppe oder Partei hat sie in diesem Sinne vorangetrieben? Ist die Politik nicht vielmehr Trends in der Wahl von Schulformen gefolgt, die sich in der Bevölkerung durchgesetzt haben? Viel plausibler ist die Annahme eines politisch nicht gesteuerten, in Deutschland über mindestens zwei Jahrhunderte sich erstreckenden Prozesses der Bildungsexpansion, in dem – neben langen zyklischen Wellen – auch seltene sprunghafte Erweiterungen der höheren Bildung erfolgten: in Deutschland zwischen 1870 und 1900 und dann seit den 1960er Jahren bis jetzt. 

Bei den anderen beiden „Paradoxien“ ist es ähnlich wie bei diesem ersten, ausführlicher erörterten Paradox: Dass Abschlüsse immer wichtiger werden sollen (um überhaupt den Berufseinstieg zu schaffen), aber immer weniger wert sind, ist auf der Ebene einzelner Verdrängungsprozesse beim Berufseinstieg nachvollziehbar. Es zeigt sich aber nicht in den längerfristigen durchschnittlichen Einkommensunterschieden nach erreichten ungleichen Bildungsabschlüssen, die nach wie vor bestehen. Das widerspricht der Zuschreibung als Paradox und wird von El-Mafaalani an anderer Stelle des Buches selbst anerkannt. Das dritte Paradoxon – die Kompetenzen der Absolventen steigen im Zuge der Bildungsexpansion im Durchschnitt, aber je nach Schulform sinken sie – bezeichnet der Verfasser selbst als thesenartiges Gedankenexperiment, das letztlich aber nicht überzeugen kann.

Wenn die Bildungsexpansion wegen der ihr innewohnenden (angeblichen) „Paradoxien“ keine geeignete Strategie darstellt, um mehr Bildungschancengleichheit für Kinder und Jugendliche unterer Schichten zu erreichen – was hilft dann? Um diese Frage zu beantworten, setzt El-Mafaalani an drei Ursachenbündeln an, die für herkunftsbedingte Bildungsungleichheit verantwortlich sind: (1) die Lebensverhältnisse von Familien ungleicher Schichtzugehörigkeit, (2) die Bedingungen im Schulsystem und (3) das Entscheidungsverhalten von Lehrern, Eltern und ihren Kindern bei der Wahl von Schulformen und Bildungsgängen. Bei den unterschiedlichen Lebensverhältnissen der Familien betont El-Mafaalani in einem sehr lesenswerten Abschnitt die Bedeutung der sozialräumlichen Ungleichheiten der Wohnumwelt und Stadtteile. Bei der Wahl von Schulformen und Ausbildungsgängen weist er auf verbesserte Diagnose- und Beratungsinstrumente hin.

Im Mittelpunkt seiner Vorschläge für eine Reform steht indes das staatliche allgemeinbildende Schulsystem selbst. Die Hochschulen, die berufliche Bildung und das Privatschulwesen behandelt er nur am Rande. Letzteres ist erstaunlich, weil das Privatschulwesen und sein gegenwärtig zu beobachtendes Wachstum unter dem Gesichtspunkt von schichtbedingter Chancengleichheit besondere Aufmerksamkeit verdienen würde. Die Herausforderungen der Bildungsbenachteiligung lassen sich nach El-Mafaalani weder durch einen „radikalen Umbau des Bildungssystems“ noch durch „kleinere Maßnahmen“ bewältigen. Strukturfragen seien weniger relevant als die Rahmenbedingungen der einzelnen Schule. Diese Position bezeichnet der Verfasser selbst als „Pragmatismus“. Er zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Bei den Zielsetzungen einer an mehr Chancengleichheit orientierten Pädagogik und Bildungspolitik möchte er einen stärkeren sozialen Ausgleich zugunsten von ungerecht benachteiligten Schülern und Schülerinnen erreichen, zugleich aber eine „Exzellenzförderung für außergewöhnliche Spitzenleistungen“, von der auch begabte Kinder aus unteren Schichten profitieren sollen. „Die Förderung von benachteiligten Kindern ist also in jedem Bereich von zentraler Relevanz, darf aber nicht zulasten anderer Kinder gehen.“ Den darin steckenden Widerspruch sieht El-Mafaalani nicht oder verdeckt ihn unter dem großen Schirm des Pragmatismus.

Auch wenn „Strukturfragen“ in seinem Konzept weniger relevant sind, ist er mit der sich durchsetzenden zweigliedrigen Struktur des Sekundarschulsystems sehr zufrieden. Das Gymnasium als einzige in allen Bundesländern zu findende Schulform bleibt erhalten, und in den verschiedenen Formen von Sekundarschulen kann ein Teil der Schüler und Schülerinnen das Abitur anstreben, während der mittlere Abschluss der Mehrheit vorbehalten bleibt. Auf diese Weise muss die „Selektionslogik“ nicht „verwässert werden“ und es wäre eine „strategische Konsolidierung der paradoxalen Effekte der Bildungsexpansion“, eine „Stabilisierung des derzeitigen Niveaus“ möglich. Was lässt El-Mafaalani hoffen, dass die Bildungsexpansion auch innerhalb eines solchen zweigliedrigen Schulsystems zum Stillstand kommt? Was heißt Nicht-Verwässerung der Selektionslogik im Hinblick auf das Ziel, mehr sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu fördern? Man gewinnt den Eindruck, dass unter dem „Pragmatismus“ des Konzepts die Konflikte einer mit mehr Chancengleichheit verbundenen Bildungspolitik und Pädagogik nicht angesprochen und klein gehalten werden sollen.

Im Hinblick auf das „Kerngeschäft“ der Schule, den Unterricht, vertritt El-Mafaalani eine Position, die zwar eine sicherlich begrüßenswerte Kooperation von Unterricht und sozialem Lernen im Ganztag anstrebt, aber unterschwellig das Lernen im Ganztag höher stellt als den sozialen Ausgleich im unterrichtlichen Lernen. Im Ganztagsbereich sollen „multiprofessionelle Teams“ aus Fachkräften der sozialen Arbeit, der Förderpädagogik, der Psychologie und Medizin sowie Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache zusammenarbeiten. El-Mafaalani schildert beeindruckende Einzelbeispiele, die dem nahe kommen. Es ist unzweifelhaft, dass das Lernen im Ganztag Probleme von Schülerinnen und Schülern erreichen kann, die im Unterricht nicht zur Sprache kommen, ihn jedoch beeinflussen. Aber El-Mafaalani berücksichtigt auf der einen Seite zu wenig die ernüchternden Ergebnisse über den geringen Einfluss des (bestehenden) Ganztagsunterrichts auf die Erzielung von mehr sozialer Chancengleichheit. Andererseits unterschätzt er die vielen Ansätze und Versuche, auch durch einen anderen und gezielt auf benachteiligte Schülerinnen und Schüler ausgerichteten Unterricht zur Chancenverbesserung beizutragen.

Insgesamt spricht El-Mafaalani eine große Reichweite von Fragen zur herkunftsbezogenen Bildungsungleichheit an, die er als nicht gelöstes, gesellschaftliches Problem klar herausarbeitet. Durch seinen pointierenden Stil gibt er zahlreiche Denkanstöße, aber das Konzept, das er zur Lösung des Problems anbietet, bleibt in sich widersprüchlich und defensiv.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
320 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783462053685

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