Kinder suchen Kinder

Mit ihrem Romandebüt „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ leuchtet Deepa Anappara tief in die Widersprüche des heutigen Indien hinein

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Armenviertel einer nordindischen Stadt verschwinden immer mehr Kinder – zwei Jungen zu Beginn, dann auch Mädchen und Geschwisterpaare. Eine korrupte, untätige Polizei und zahlreiche Anwohner, die zwar Mitleid zeigen, in erster Linie aber mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind, machen es den verzweifelten Eltern nicht leicht, daran zu glauben, dass sie ihre Töchter und Söhne jemals wiedersehen werden. Nur drei Schulkameraden der Opfer nehmen die Fährte auf und beginnen nachzuforschen, was passiert ist und wer etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Und schon bald haben der 9-jährige Jai, von Detektivserien im Fernsehen inspiriert, seine Freundin Pari, belesen und von dem Traum beseelt, sich durch Bildung eine bessere Zukunft zu verdienen, und der aufgrund seines muslimischen Glaubens unter Gleichaltrigen etwas abseits stehende Faiz erste Anhaltspunkte dafür gefunden, was mit den Verschwundenen geschehen sein könnte.   

Die Detektive vom Bhoot-Basar ist der erste Roman von Deepa Anappara. Die in Indien aufgewachsene, heute hauptsächlich in Großbritannien lebende Schriftstellerin machte bisher vor allen Dingen als investigative Journalistin von sich reden. Für ihre Studien zu den Auswirkungen von Armut und religiöser Gewalt auf die Entwicklung von Kindern wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Ihr literarisches Debüt, in der englischsprachigen Welt vielbeachtet und bereits mit einigen bedeutenden Preisen geehrt, macht sich ihre genaue journalistische Recherchearbeit zunutze und nimmt seine Leser mit in eine Welt voller Widersprüche weit weg von jeglicher Bollywood-Exotik. Stattdessen erlebt man aus kindlicher Sicht das harte Leben der unteren Schichten einer Gesellschaft, die von krassen Standesunterschieden und religiösen Spannungen zerrissen wird.

Mit Jai ist Anappara dabei eine Figur gelungen, die die Sympathien des Lesers schnell auf ihre Seite zieht. Der wissbegierige Junge, den nicht unbedingt schulische Erfolge auszeichnen – für Letztere ist eher seine Freundin Pari zuständig –, ist fasziniert von True-crime-Sendungen im Fernsehen und den Geschichten um bekannte Seriendetektive. Von Sherlock Holmes und Dr. Watson hat er zwar noch nichts gehört – die kennt nur seine belesene Kameradin, die ihre freie Zeit am liebsten in Bibliotheken verbringt –, aber auch in Indien gibt es bekannte Ermittlerpärchen, deren individuelle Eigenschaften sich ähnlich wie bei dem von Arthur Conan Doyle geschaffenen Detektivduo ergänzen. Also warum sollten nicht Jai als der Pragmatiker und Pari als die Logikerin, unterstützt von ihrem muslimischen Freund Faiz, das Rätsel um die verschwundenen Kinder vom Bhoot-Basar lösen können?

Quarter wird der Anführer einer Bande von Jugendlichen genannt, „die Lehrer verprügelt und falsche Eltern an Schüler vermietet“, wenn diese Ärger haben und der Direktor Vater und Mutter zu einem klärenden Gespräch einlädt. Ihn haben die kleinen Detektive zuerst in Verdacht, weil er bereits zum dritten Mal die neunte Klasse ihrer Schule besucht, im Unterricht kaum auftaucht, sich stattdessen auf dem Basar herumtreibt, in der Öffentlichkeit Alkohol trinkt und seine Finger in etlichen kriminellen Unternehmungen hat. Vor allem weil Quarters Vater als Mitglied der rechtsnationalen und moslemfeindlichen Hindu Samaj Partei und Verantwortlicher für das Viertel, in dem Jai zu Hause ist, die Hand über den Sohn hält, ist nur schwer an diesen heranzukommen. Und vielleicht ist er auch gar nicht der gesuchte Täter, sondern der lebt stattdessen weitgehend unbehelligt in einem der schmucken Hochhäuser in Sichtweite des Armenviertels, wo Jais Mutter als Haushaltshilfe beschäftigt ist.

Mit Hilfe des kindlich-naiven Blicks ihrer Hauptfigur gelingt es Deepa Anappara, das Leben in einer indischen Großstadt von heute in all seinen Facetten und Widersprüchen vor den Augen des Lesers erstehen zu lassen. Zwischen riesigen Müllbergen und den gut geschützten Vierteln für die Wohlhabenden – für die Armen sind Letztere die „HiFi-Leute“ – liegt die kleine Welt von Jai, seinen Freunden und ihren Familien. Das illegal errichtete Armenviertel rund um den Basar wird von der Polizei lediglich geduldet. Jederzeit kann die Ordnungsmacht Bagger auffahren lassen, um die primitiven Steinhäuser niederzureißen.

Das sind keine guten Voraussetzungen für die Bewohner, um auch nur die geringsten ihrer Forderungen durchzusetzen. Hat man doch ohnehin genug damit zu tun, im tagtäglichen Überlebenskampf nicht unterzugehen. Am Morgen stehen lange Schlangen vor den öffentlichen Toiletten, man schleppt in den drei Stunden pro Tag, an denen es welches gibt, eimerweise Wasser in seine Behausung und versucht, sich so gut wie möglich vor dem schwarzen Smog zu schützen, der über der ganzen Gegend liegt. Dass es trotz dieser deprimierenden äußeren Umstände eine große Solidarität unter den hier Wohnenden gibt, man sich gegenseitig in Notlagen beisteht, alles tut, um seine Kinder in der Gegenwart zu schützen, damit deren Träume von einer besseren Zukunft die Chance haben, wahr zu werden, und die einfachen Antworten auf existentielle Fragen, wie sie nationalistische und populistische Parteien zu geben versuchen, nicht hinnimmt, ist das kleine Wunder, von dem Die Detektive vom Bhoot-Basar auch erzählt.

Im Grunde freilich ist Deepa Anapparas Romandebüt eine durch den Blick eines Kindes kaum gemilderte kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in einem der bevölkerungsreichsten Länder unseres Planeten. Kaum ein Problem – beginnend bei den riesigen sozialen Unterschieden über die Stellung von Frauen in der Gesellschaft bis hin zu Kinderarbeit und den Auswirkungen der Globalisierung auf das tägliche Leben – wird von ihr ausgelassen. Dass ein versöhnlicher Schluss ihrem Anliegen nicht hilfreich gewesen wäre, wusste die Autorin dabei sicher ganz genau. Und so lässt sie ihre kleinen Helden zwar ermitteln, doch die verschwundenen Kinder – der Direktor der Schule, in die Jai und seine Freunde gehen, weiß, „dass in Indien Tag für Tag hundertachtzig Kinder verschwinden“ – tauchen am Ende, obwohl der Fall eine Lösung erfährt, nicht wieder auf. Auch Jai muss sich damit abfinden, seine ältere Schwester nicht wiederzusehen. Allein die drei „lebensrettenden“ Geschichten, die jedem der Buchteile vorangestellt sind, trösten den Jungen und seine Freunde über den Verlust hinweg, indem sich in ihnen gute Geister auf die Seite der Entrechteten stellen und dafür sorgen, dass deren Leiden gemindert werden und Unrecht nicht ewig währt.

Titelbild

Deepa Anappara: Die Detektive vom Bhoot-Basar.
Übersetzt aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001186

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