Die Von-Lucke-Falle

Mit Rechten reden: Eine japanische Perspektive

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Von Auslandsgermanist*innen wird neben der Lehre deutscher Literatur- und Mediengeschichte oft ein wenig Landeskunde erwartet. So auch von mir am Standort Tokio: ein Fünftel des Deputats. Wie „das gegenwärtige Deutschland“ (Modulname) vorstellen? Eine Möglichkeit ist, mit den Studierenden politische Diskussionssendungen durchzugehen. Man macht das in der Hoffnung, der japanischen Kundschaft die aktuellen Konfliktfelder in Deutschland zu vermitteln; manchmal aber verhält es sich mit dem Lerneffekt umgekehrt. Die Japaner*innen sehen am deutschen Material, was der deutsche Professor übersehen oder unterschätzt hat. Dafür ein Beispiel, vielleicht gar nicht so untypisch für die German Studies.

Ende November 2019 ging es in „maischberger. die woche“ um die CDU nach und die AfD vor ihrem Parteitag, zudem um die Verfassung der SPD kurz vor der Stichwahl zum Vorsitz. Gleich drei Parteien als Thema, günstig für die Lehre. Als Kommentator*innen eingeladen waren der konservative Kolumnist Jan Fleischhauer, die Finanzberaterin Sandra Navidi und Albrecht von Lucke, ein linksliberaler Politologe und Publizist, der für den Aufreger des Abends sorgte.

Vom Bundessprecher der AfD, Jörg Meuthen, wollte die Moderatorin Sandra Maischberger wissen, wie es um seine angeblich konsequente Abgrenzung von rassistischen und völkischen Parteikolleg*innen bestellt ist. Nach dem Gespräch ‒ Meuthen war eigentlich schon gegangen ‒ rief von Lucke ihn zurück, um ihn weiter mit kritischen Fragen einzudecken. „Vor lauter Reden und hastig vorgetragener Kritik vergaß er dabei aber, eben diese Fragen zu stellen – für Meuthen ein einfaches Spiel, das er locker weglächeln konnte. Chance vertan“, monierte anschließend die Berliner Morgenpost. Ähnlich der Einwand des Focus: Von Lucke halte „einen gefühlt zehnminütigen Monolog und Meuthen, wartend am Rande stehend, erhält noch nicht einmal die Chance, die nie gestellte Frage zu beantworten. Wer AfD-Politiker öffentlich vorführen will, sollte sie auch zu Wort kommen lassen.“

Stimmt, trotzdem nahm ich die gekaperte Moderation etwas positiver wahr. Bei allem Eifern war von Luckes Wortschwall durchaus eine Frage entnehmbar, nämlich was Meuthen von Gottfried Curio halte, der Burka tragende Frauen als „schwarze Säcke mit Schlitzen“ bezeichnet. Gute Frage – dass dehumanisierende Worte Mord und Mordversuch den Weg bereiten können, hätte man ja schon vor Hanau wissen können und müssen. So nachvollziehbar das Kopfschütteln über von Luckes Hektik war, in einem sensiblen Punkt haben die printmedialen Kritiker seinen Auftritt verzerrt.

Schmücken kann er sich mit der Flut von Beschimpfungen, die danach im Internet über ihm niederging. (Zu besichtigen in der Kommentarspalte auf YouTube, wenn Sie sich das antun wollen.) Den hohen AfD-Anteil der Invektiven erkennt man an der Mischung aus Pöbelei und stabilem Feindbild, falscher Rechtschreibung und ebensolcher Grammatik („ein Hampelmann von den öffentlich rechtlichen“, „so ein Dreck hält doch kein Intellektueller aus [!, MJ]“, „dieser lucke ist von Hass gegen die afd regelrecht zerfressen“, „fürstlich für Seine Agitation im zwangsabgabenfinanzierten Staats-TV entlohnt“, „nur abstoßend, Luke ganz besonders“ usw.). Zumal sich einige Stimmen oder besser Trolle zu Roland-Freisler-Vergleichen verstiegen, darf sich der Talker im Shitstorm geadelt sehen.

Also alles gut, weil Klemmnazis wirksam provoziert? Warum der erbauliche Schluss, dem ich zunächst zuneigte, zu einfach ist, zeigt die Reaktion der japanischen Student*innen auf die Sendung. Einer meiner Kurse hat das Gesprächsverhalten der drei Diskutant*innen nach folgender Skala bewertet: sympathisch = 3 Punkte, eher sympathisch = 2, eher unsympathisch = 1, unsympathisch = 0. Ergebnis im Durchschnitt: Fleischhauer 2,7 Punkte, Navidi 2,0, von Lucke 1,0. Dabei sind die Junggermanist*nnen an der Privat-Uni hier mehrheitlich linksliberal orientiert, betrachten etwa „Fritz Bauer-Filme“ als musterhafte Aufarbeitung nachwirkender Nazi-Vergangenheit, finden die Migrationspolitik Deutschlands vorbildlich (Demographie!). Affinität zur AfD beziehungsweise zum japanischen Äquivalent Nippon Ishin no Kai: null. Von Lucke befindet sich im eigenen Lager, warum schneidet er dann eher schwach ab?  „Er spricht zu lang“, ist eine typische Antwort. „Es sieht für mich so aus, dass er keine Lust hat, anderen Leuten zuzuhören.“ Unbehagen daran lässt sich im Übrigen auch einigen wenigen politisch unbestimmten Äußerungen der deutschen Kommentarspalte entnehmen („hat interessante Positionen, er benimmt sich aber überdreht“).

Wer anderen ständig das Wort abschneidet ‒ das war seine angreifbarste Praxis ‒, missfällt also selbst dann, wenn er politisch auf der ‚richtigen‘ Seite steht. Was daraus folgern? Natürlich nicht, dass ein „Großinquisitor“ (Netz) durch allzu garstigen Umgang mit Herrn Meuthen herzensgute ARD-Zuschauer in die Arme der AfD getrieben hätte. Das ist die Mär von Leuten, die es ohnehin nach rechts zieht, dafür aber eine Rationalisierung brauchen.

Das wirkliche Problem ist, dass herrisches Gehabe auch Zuschauer*innen diesseits der Rechten nervt und so eine vernünftige Intention des Sprechenden in Vergessenheit geraten lässt. Und was wäre vernünftiger, als das bürgerliche Feigenblatt der AfD damit zu konfrontieren, dem Konflikt mit den übelsten Hetzern der eigenen Truppe auszuweichen? Durch seinen Furor dabei sabotiert sich der linksliberale Akteur selbst. Dies auch, weil von Lucke es einem Blatt wie dem Focus, das naturgemäß den Mitarbeiter Fleischhauer unterstützt, zu leicht gemacht hat, die fällige Frage an den AfD-Mann zu übergehen. Ist der Gesprächsstil ganz daneben, wird nur noch über ihn geschrieben.

An der Punkteverteilung stimmt aber noch etwas nachdenklich. Nicht der 2,0-Wert von Navidi – dass sie sich, wie eine Studentin schreibt, „folgerichtig äußert“, „Ruhe verströmt, außerdem den Kommentaren der anderen Gäste und den Fragen der Moderatorin zuhört“, verdankte sich einfach dem sicheren Auftreten – Typ selbstbeherrschte Bankerin – und einer Sonderrolle. Mit den Themen Negativzins und Risiken eines Börsencrashs, Nebengebieten der Sendung, agierte Navidi abseits der Parteienbeobachter Fleischhauer und von Lucke, deren Konkurrenz sie mit neutralem Interesse verfolgen konnte. Anders als der Verfasser dieser Zeilen. Denn dass die beiden Herren in der Runde von den Student*innen so unterschiedlich bewertet werden, Fleischhauer mit 2,7 Punkten weit vorn liegt, ist unerfreulich. Damit hat der hauptamtliche Linkenfresser abgeräumt. Seit zehn Jahren schon entdeckt Jan Fleischhauer Woche für Woche, dass links und rechts sich doch sehr nahestehen – das ewige Hufeisen. Aber die Studen*Innen haben recht, neben von Lucke wirkt er fast cool. Wie kann es so weit kommen?

Den Japaner*innen gefällt, dass Fleischhauer „freundlich und mit Humor spricht“ oder „wahrscheinlich einen Sinn für Humor hat“, „ruhig aussieht“. Von Lucke hingegen rede „in gebieterischem Ton“. „Er will zeigen, wie groß er ist“ kann man auch kaum als Kompliment auffassen. Diese Kommentare beziehen sich auf die Phase vor dem Meuthen-Streit, und betrachtet man den Abschnitt näher, ist ihnen zuzustimmen.

Fleischhauer bemerkt, Markus Söder habe es unerwartet vom bayerischen Holzklotz zum König der Herzen gebracht. Und (einen Kollegen zitierend): Mit seiner Vorsicht auf dem CDU-Parteitag gleiche Friedrich Merz dem Jungen im Schwimmbad, der die Riesen-Arschbombe ankündigt, auf den Sprungturm klettert – dann aber zur Enttäuschung der Fans hinten wieder runter steigt. Beides keine Killerpointen, aber treffende und allemal Stimmungsheber im Studio. Nur einer schaut in solchen Momenten skeptisch drein.

Albrecht von Lucke mag keine Scherze. Er ist der Mann der Seriosität und knallharten Analyse. Er spricht auch nicht, er doziert. Mit nicht eben angenehmer Stimme, wie aufgezogen und über zaghafte Einwürfe Maischbergers hinweg. Dabei stets mit der linken Hand weit ausholend, wie es Lokalpolitiker lieben, wenn sie große Zusammenhänge erklären wollen. Und Wichtiges hat er immer mitzuteilen: „Die große Frage“ ist, ob die nächste Bundestagswahl für Söder zu früh kommt. Wer statt seiner Kanzlerkandidat werden könnte, ist aber ebenso „die große Frage“, und wer zweiter Bundessprecher der AfD wird, ist erst recht „die große Frage“. Auch groß: von Luckes Ungeduld, sobald andere sprechen. Dann scheint er auf eine Zitrone zu beißen, seine Miene spricht dafür. Später beginnt er vor lauter Anspannung auch noch mit dem rechten Daumen zu trommeln. Erinnern Sie sich an Professor Crey („Schnauz“) in „Die Feuerzangenbowle“? Der wirkte lockerer.

Die Schlüsselszene: Als Fleischhauer mit einer Sottise über die Sozialdemokratie beim Studiopublikum einmal mehr zu gut ankommt, weist von Lucke ihn zurecht: „Wir machen ja hier nicht nur Unterhaltung, wir machen ja auch eine Analyse“, und schiebt noch ein herablassendes „ja, kabarettistisch gute Einlagen“ hinterher. Schließlich hat der Diplom-Politologe die glasklare Analyse zum Rennen um den SPD-Vorsitz geliefert: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sind so schwache Kandidaten und begehen so schwere strategische Fehler, dass sie gegen Scholz/Geywitz keine Chance haben werden. Belohnt wurde die Meister-Expertise übrigens eine Woche später vom „Spiegel“, der wen als SPD-Kenner interviewte? Genau.

Jeder kann mal mit einer Vorhersage falsch liegen. Peinlich wird eine Fehlprognose erst, wenn im Ton absoluter Gewissheit vorgetragen. Museal wirkt die dem Schulmeistern von Fleischhauer zugrunde liegende Vorstellung, Unterhaltung und politischer Kommentar seien unvereinbar. Wie sich beides optimal verbinden lässt, könnte von Lucke eben von den Bühnenkünstler*innen lernen, garantiert linksliberalen, aber kurzweiligen. Ein Hauch Jon Stewart, ein Schüsschen Max Uthoff, und schon röche es nicht mehr so muffig im intellektuellen Psychodrom. Auf Witz herunterzuschauen, weil er einem komplett abgeht, ist keine gute Idee. Ihn Konservativen zu überlassen, eine noch schlechtere. Bei „Dateline London“ (BBC) könnte er sich abschauen, wie man kantig und doch zivilisiert diskutiert, weniger provinziell. Japanisches Höflichkeitsniveau verlangt keiner, an ihm scheitert auch der Verfasser, gewohnheitsmäßig.

Aber was erfahren Japaner*innen durch eine „maischberger“-Folge über das heutige Deutschland? Außer, dass es in der und der Partei die und die Strömungen gibt und unter deutschen Journalisten sehr unterschiedliche Stile? Zunächst einmal: Viele Germanistik-Student*innen Nippons wissen das Format politische Talkshow schon deshalb zu schätzen, weil in ihrem Land die öffentliche Diskussion politischer Angelegenheiten Mangelware ist.

NHK etwa, der größte Sender, ist von der Liberaldemokratischen Partei so gut wie gleichgeschaltet, was sie als strenges „Neutralitäts“-Gebot verkauft. Das Problem liegt aber nicht nur bei der von der langjährigen Regierungspartei beherrschten Medienlandschaft. Wie der Sozialphilosoph Kenichi Mishima unlängst in Habermas global kritisierte, kommt die Tendenz der japanischen Linksintellektuellen hinzu, sich in einer „akademischen Krypto-Öffentlichkeit“ abzukapseln. Deshalb hat das in Deutschland Selbstverständliche, nämlich Inklusion und Selbstbeteiligung linker Stimmen in den Massenmedien, in Japan Seltenheitswert. Folge: Die schiere Pluralität einer Sendung wie „maischberger“ empfinden viele Deutschland-Interessierte bereits als erfrischend.

In der Sendung vom 27. November 2019 nun können die Studierenden den Sprecher einer Partei erleben, die sich wie die Vereinigung der Verfolgten des Merkelregimes aufführt, weil man doch in Deutschland nicht mehr alles sagen dürfe. Seltsam nur, dass Meuthen sich dann 20 Minuten lang in einem TV-Interview verbreiten darf. Politisch bedrohte Minderheiten führen in Doitsu (Deutschland) offenbar ein komfortables Leben. Das ist der Punkt, an dem die Gegenseite und mit ihr ein heikler Aspekt ins Spiel kommt, sage ich den Studierenden wie auch an diesem Ort. Sind Linksliberale im deutschen Fernsehen auch ungleich präsenter als im japanischen, unter AfD-Beschallung kann ihr Auftritt daneben gehen – wenn „-liberal“ ein Mindestmaß an Gesprächsbereitschaft und Besonnenheit bezeichnen soll.

Das „Gebieterische“, von Luckes Oberlehrer-Attitüde, ist mehr ein individuelles Problem, habituell aus der Zeit gefallen – altdeutsch, wie man den Student*innen beflissen versichert. Anders steht es, wenn er den AfD-Professor nicht zu Wort kommen lassen will. Darin steckt ein Impuls, den die meisten politisch zurechnungsfähigen Deutschen kennen. Wer spürte keine Lust, Leuten wie Meuthen über den Mund zu fahren? Auf Benimmregeln zu pfeifen, weil Profiteure des Fremdenhasses ihre Einhaltung nicht wert sind?

Nur fürchte ich: Wer dem Impuls nachgibt, hat verloren. Nicht nur, weil es selbst bei progressiven Töchtern und Söhnen Nippons schlecht ankommt. Man geht damit auch der AfD-Führung in die Falle. Füttert man die Meuthens und Weidels mit Wutreaktionen, blühen sie auf. Dann können sie sich erst recht als furchtlose Herausforderer des „Establishments“ inszenieren, vom selben schrecklich misshandelt, was die Diener der nationalen Sache heroisch durchzustehen gedenken. Einen Gefallen tut man ihnen mit Aufgeregtheit à la von Lucke zuvorderst, weil sie sich dann wichtig fühlen.

Klüger wäre kühle Verachtung, wenn man schon ein Gespräch mit ihnen führt. Die Herrschaften wollen doch als bürgerlich gelten. Dann sage man ihnen ruhig und distanziert, warum sie das nicht sind: Wer seine Karriere der Repräsentanz rückständiger und potentiell mörderischer Ressentiments verdankt, ist nicht gesellschaftsfähig. Reden kann man mit deutschnationalen Krawatten sicher. Nur im richtigen Tonfall, wie mit dem besoffenen letzten Gast.