Reduktion auf das Archetypische und das Schöne
Felicitas Hoppe präsentiert „Grimms Märchen für Heldinnen von heute und morgen“
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Brüder Grimm-Preises der Universität Marburg am 31.10.2014 erläutert Ruth Klüger detailliert die These, dass es „nur wenige Werke in der Weltliteratur“ gebe, „in denen Frauen und Mädchen so selbstständig handeln, so viele Abenteuer erleben, sich derartig im Wald und in der Welt herumtreiben wie in den Grimmschen Märchen“. Grimms Märchen seien Frauenliteratur, was die typischen „Mädchenmärchen“, z.B. Dornröschen, Schneewittchen oder Die sechs Schwäne, unter Beweis stellten. In ihnen werde die Pubertät „immer wieder durchgespielt“, es wimmele von bösen Frauen, insbesondere Stiefmüttern und Hexen. Mütter und Töchter rivalisierten auf’s Ärgste miteinander und Brüder hingen von ihren Schwestern ab. Manche der Mädchenmärchen seien gar „in einem totalen Matriarchat verankert“, etwa Schneeweißchen und Rosenrot und insbesondere Frau Holle. Nicht selten sei in den Mädchenmärchen „die spielerische Entmachtung des männlichen und die Ermächtigung des weiblichen Geschlechts“ zu beobachten.
Diese Annahme hätte Felicitas Hoppe im Gedächtnis haben können, als sie unter den Rubriken „Schönheit“, „Klugheit“, „Mut“, „Handwerk“ und „Verwandlung“ jeweils eine Auswahl von fünf bis sieben bekannten und weniger bekannten Grimmschen Märchen zusammengestellt hat. Diese sollen für „Heldinnen von heute und morgen“ geeignet sein. Unter dem Titel „Wie wünscht man richtig?“ ist dem Band ein mehrgliedriger Essay vorangestellt, in dem Felicitas Hoppe die erwähnten Rubriken Revue passieren lässt und sie mit einer Schlussfolgerung („Himmelsschlüssel“) komplettiert.
Eine genaue Lektüre der kurzen Texte zeigt, dass Hoppe nahezu gänzlich auf wissenschaftlich fundierte und/oder tradierte Deutungen verzichtet. Vielmehr bezieht sie sich sehr subjektiv auf die einzelnen Märchen und offeriert dementsprechend individualisierte, modernisierte und teils autobiografisch geprägte Interpretationsansätze. So entfaltet sich ein impressionistisches Panorama, das mit einer Eloge auf die Schönheit beginnt, denn diese sei „die größte Ressource des Märchens, die unerschöpfliche Quelle seiner Energie“, bringe aber sowohl Gutes als auch Böses hervor. Von der „Schönheit des Märchens“ gehe auch heute noch eine große Faszination aus. Den Reigen der Grimmschen Texte, quasi als Beleg für die Schönheit im Märchen und die Schönheit des Märchens, eröffnen Rapunzel, Schneewittchen, Allerleirauh, Dornröschen, Die zertanzten Schuhe und Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich. Dass es sich in diesen Märchen um sehr viel mehr als dieses eine Thema handelt, um sehr viel mehr als die „uralten Träume von Selbstoptimierung und Perfektion“, muss nicht eigens betont werden.
Wenn man verstanden habe, was Schönheit bedeute, „Anziehungskraft und Gefahr in einem“, habe man auch begriffen, dass eine Wanderung durch „die dunkle Landschaft der Märchen“ Mut voraussetze. Im einleitenden Text folgt auf die „Schönheit“ der „Mut“, irritierenderweise stehen in der Textsammlung jedoch die Märchen zur „Klugheit“ vor denen zum „Mut“. „Unter der Knute der Grimmschen Märchen“, so heißt es im Essay, „sind Frauen scheinbar zu Meisterinnen der Selbstverleugnung und des passiven Widerstands geworden, die sehr genau wissen, wie man strategisch und taktisch jene Plätze im Haus und bei Hof verteidigt, die längst für andere vorgesehen sind“. Vor allem jedoch verfügten die Grimmschen Frauen über Tugenden, die zwar nicht mehr modern, aber nicht minder wirksam seien: „Standhaftigkeit, Ausdauer, Geduld und Güte“. Als Beweise für Klugheit versammelt Hoppe Die kluge Bauerntochter, Der Teufel und seine Großmutter, Die kluge Gretel, Die Hochzeit der Frau Füchsin, Der süße Brei, Das Meerhäschen und Die kluge Else. Letzteres, so Hoppe, sei ihr „unangefochtenes Lieblingsmärchen“. Elses „überbordende Vorstellungskraft“ sei „weder dem Märchen noch dem Handwerk des Lebens gewachsen“.
Unter der Überschrift „Mut“ werden danach Hänsel und Gretel, Die sieben Raben, Schneeweißchen und Rosenrot, Brüderchen und Schwesterchen, Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, Die Gänsemagd und Rotkäppchen subsumiert, bevor unter „Handwerk“ Rumpelstilzchen, Spindel, Weberschiffchen und Nadel, Die drei Spinnerinnen, Das Waldhaus und Die sechs Schwäne folgen. Das im Märchen bevorzugt praktizierte Handwerk sei das Spinnen, und dies verstünden Frauen besser als Männer und dies mache „ihre Schönheit und Klugheit aus, ihre Kraft, ihren Mut und jenen unermesslichen Reichtum, den nur spinnende Frauen hervorbringen können“. Quod esset demonstrandum.
Zwar sind Metamorphosen unterschiedlichster Art dem Handwerk nicht fremd, doch Hoppe widmet sich zusätzlich der „Verwandlung“ im Besonderen. Hier findet man Aschenputtel, Die zwölf Brüder, Das singende springende Löweneckerchen, Die Gänsehirtin am Brunnen und Die Sterntaler. Sie alle unterstreichen, dass die Gattung Märchen ein Reich der unbegrenzten Verwandlungsmöglichkeiten parat hält. Verwandlung, so schreibt Hoppe, führe immer wieder vor Augen, dass „der Weg zur Erlösung ein Umweg“ sei „und ständiger Wiederverwandlung“ bedürfe. „Bei Lichte besehen“ (Hoppes Lieblingsidiom?) sei „das Märchen bis heute nicht auf Entmachtung, nicht auf Geschlechter- und Klassenkampf aus, sondern auf Verwandlung und Erlösung“. Es gehe dem Märchen „weder um Reichtum noch um Gewinn oder Vorherrschaft, sondern um das eigene höchst persönliche Glück, eine bis heute unbestimmbare Größe.“ Und noch einmal: Quod esset demonstrandum.
In „Himmelsschlüssel“, dem letzten Teil ihres Essays, würdigt Hoppe das freie Nacherzählen der Grimmschen Märchen, so wie ihr Vater es praktiziert habe. Leider ergreift sie nicht die Chance, die persönliche Erinnerung zu transzendieren und ihre Ausführungen im Hinblick auf die vielfältigen Optionen der Narration ad libitum auszuweiten.
Rosa Loy, die als feministische Künstlerin gilt, hat den Märchenband mit sechs großformatigen Aquarellen bebildert: „Weiß & Rot“ heißt die Illustration auf dem Umschlag, die doppelseitigen Abbildungen im Buch selbst orientieren sich an den Titeln der einzelnen Rubriken, leiten diese quasi ikonografisch ein und lassen ein Spannungsverhältnis zu den Märchentexten einerseits und zu Hoppes Essay andererseits aufkommen. Der Künstlerin gelingt es vorzüglich, die Abstrakta zum einen eher statisch als Allegorien abzubilden und sie zum anderen mit vielen Details zu dynamisieren und damit die simple Personifikation auszuhebeln.
Schönheit hat lange flatternde rötliche Haare, auf ihrer rechten Stiefelspitze sitzt ein Vogel mit Liebesbrief im Schnabel, in ihrer linken Hand hält sie eine Peitsche, mit der sie den zwergenhaft erscheinenden Mann, der an ihrer Seite kniet, bändigt. Diese femme fatale mit knallroten Lippen und einem ebensolchen Oberteil mit weißem Jabot ist eine von mehreren grellen und schrillen Frauengestalten, die Hoppes Behauptung, dass es nicht um weibliche Dominanz gehe, Lügen straft. Manche Illustrationen sind plakativ und wollen ein bisschen zu intensiv für ein weibliches Empowerment vereinnahmt werden, manch andere verlangen eher nach einem ironischen Blickwinkel. Klugheit etwa sitzt auf einem Stuhl und liest aus einem offensichtlich nicht bedruckten Buch, das sie zu allem Überfluss verkehrt herum (Umschlagseiten oben) zu halten scheint.
Drei verschiedene Welten durchmischen sich also in diesem Band zu einer Montage von miteinander konkurrierenden Details. Nichtsdestoweniger fügen sich die Märchentexte, Hoppes Essay und Loys Aquarelle in ihrer Gesamtheit zu einem ästhetisch vollendeten „Objekt Buch“ zusammen. Felicitas Hoppe indessen bleibt in ihrem Essay sehr verhalten, schöpft den Raum, der sich ihr geboten hätte, bei Weitem nicht aus. Das lässt vermuten, dass das Buchprojekt vielleicht in erster Linie ein Auftragswerk, initiiert vom Reclam-Verlag, war.
Zu kritisieren ist, dass alle Teile des Essays kaum eine Systematik aufweisen, dass von einer Tabula rasa ohne Prätexte ausgegangen wird und sich mitunter der Eindruck einer Vermischung von Gattung und Inhalt aufdrängt: „Genau deshalb küsst es Prinzessinnen wach und macht Bauerntöchter zu Königinnen. Dabei geht es ihm allerdings weder um Reichtum […]“. Abgesehen davon, dass aus dem syntaktischen Kontext heraus nur bedingt deutlich wird, dass „es“ sich auf das Märchen bezieht, wirkt es hier seltsam, die Gattung zu personifizieren. Was zuvorderst die Qualität des Essays ausmacht, ist ohne Zweifel das Lob der Gattung, ein Lob, das sich aber bescheiden im Hintergrund hält. Hätte Hoppe zudem den Besonderheiten der Form des Märchens, auch und gerade in der Distanzierung zu benachbarten Großgenera, etwa zum Fantastischen, nachgespürt, hätte man beim Lesen nicht die leicht unbehagliche Empfindung, dass der Inhalt zerbröselt.
In Abgrenzung zur Fantastik kann man nicht genug verdeutlichen, dass Volksmärchen ihre LeserInnen, ErzählerInnen und ZuhörerInnen in übernatürliche Alternativwelten entführen, die an archetypische Persönlichkeitsschichten rühren. Den jeweiligen AkteurInnen sind diese in den unterschiedlichsten intra- und interindividuellen Zusammenhängen gleichermaßen undurchsichtig und präsent. Auch wenn Bettelheims psychoanalytische Deutungen heute in manchen Teilen überzogen wirken, sind sie für Märcheninterpretationen nach wie vor taktgebend.
Geschlechteregalität mag in vielen Märchen zwar vorkommen, doch nur dann, wenn man sozioökonomische Realitäten, die in die Alternativwelt hineindiffundieren, ausklammert und ignoriert, dass letztendlich immer der schöne Prinz wartet, der die Frau heim in sein Reich führen möchte. Frauen sind, wenn überhaupt, aus der Not heraus eigeninitiativ. Dann jedoch kämpfen sie erfolgreich gegen die Unbilden, von denen sie umzingelt werden.
Im Abseits von Mythos und möglichen Genderdiskussionen manifestieren sich zwei wegweisende Perspektiven für die „Heldinnen von heute und morgen“: Da ist erstens das Matriarchat, das ganz besonders Frau Holles Reich prägt, woraus sich vielfältige mythische Bezüge ergeben, die sich um die Macht der weisen Frau ranken. Auch wenn in Publikationen unterschiedlicher feministischer Couleur hier der Hang zu Übertreibungen besteht, ist es schade, dass Felicitas Hoppe ausgerechnet Frau Holle ausgespart hat. Die zweite Perspektive geht aus von den Frauen, die ab dem 17. Jahrhundert, zunächst in Frankreich, später auch in Deutschland, Märchen verfassten und sich damit nicht selten eine ökonomisch unabhängige Existenz sichern konnten (vgl. „Emanzipierte Märchenwelt“).
Kehrt man abschließend zu Hoppe und Loy zurück, zu den im Essay-Text evozierten Heldinnen, die schön, klug und mutig sind, aber angeblich vor allem ihr persönliches Glück suchen, zu jenen in Loys Illustrationen, deren nahezu aufdringlich-provozierende Bildlichkeit weibliche Ermächtigung hervorzurufen scheint, dann sollte man vor dem Hintergrund dieser Reibungsfläche noch einmal auf das Verbindende, das „missing link“ des Archetypischen hinweisen. Hoppes und Loys Märchenbuch ist zuallererst schön. Das gilt für das Gesamtpaket, das gilt in sprachlicher Hinsicht für Hoppes Essay, das stilistisch ausgewogen daherkommt, mit vielerlei Antithesen arbeitet und angenehm zu lesen ist. Das gilt ebenso für die blendende Schönheit von Loys Aquarellen und natürlich für die Märchentexte als solche. Nur inhaltlich hätte man sich bei Hoppes Begleittexten etwas mehr Weit- und Tiefblick gewünscht.
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