Mörder und Maigret, Mythos und Methode

Beobachtungen zu Georges Simenons Kriminalliteratur

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Figur des Kommissar Jules Maigret ist Georges Simenon (1903–1989) in die Geschichte der Kriminalliteratur eingegangen. Neben 28 Kurzgeschichten gibt es 75 Maigret-Romane, die zwischen 1929 und 1973 erschienen sind. Maigret steht für eine Spielart der Kriminalliteratur, die auf dem Typus des Detektivs aufbaut, ihm aber Züge verleiht, die bei den nüchternen und artifiziellen Logikmaschinen im Gefolge von Auguste Dupin und Sherlock Holmes kaum ausgeprägt waren. Zwar ist Maigret auch ein Ermittler, aber anders als etwa Dupin, Holmes, Hercule Poirot, Sam Spade und Philipp Marlowe kein Privatdetektiv, auch kein Agentur-Mitarbeiter wie Dashiell Hammetts „Continental-Op“. Er ist Polizeikommissar, und damit gehen Unterschiede einher, die für die Gattung des Detektivromans nicht trivial sind. Der Ermittler ist institutionell eingebunden, kein individuell agierender Sonderling. Er erhält einen bürgerlichen Hintergrund, der den bohèmehaften Künstler-Detektiven fremd sein muss. Der klassische Detektiv ist ein – in seiner literarischen Darstellung freilich meist professionell agierender – Amateur und Privatier ohne offiziellen Auftrag, der Polizist hingegen ein Vertreter des Staates. Er repräsentiert das System – im Guten wie im Bösen.

Auch der Soziologe Luc Boltanski, der Maigret in seinem sehr lesenswerten Buch Rätsel und Komplotte (2012) eine eindringliche literatursoziologische Analyse gewidmet hat, hebt hervor, dass „die Maigret-Figur […] als Gegenfigur zu Sherlock Holmes [und anderen Meisterdetektiven, MB] konstruiert“ sei, und im „Unterschied zu diesen ‚herausragenden‘ und in gewisser Weise […] ‚bindungslosen‘ ‚Amateur-Detektiven‘ ist Maigret ein gewöhnlicher Beamter und ein gewöhnlicher Mann“. Dass Maigret ein solcher Gegenentwurf ist, heißt aber auch: Es handelt sich gerade in ihrer Bürgerlichkeit und Bodenständigkeit weniger um ein tatsächliches Abbild der Wirklichkeit als um eine hochgradig artifizielle und durchweg konstruierte Figur in Reaktion auf andere literarische Figuren.

Durch die Einbindung in die institutionellen Abläufe verschiebt sich auch der Fokus des Erzählten: Die Polizei selbst, interne Abläufe und damit das „tägliche Einerlei“, wie es in der Erzählung Maigrets Pfeife heißt, wird Gegenstand der Erzählung. Zwar sind Simenons Maigret-Romane auf die Figur des Kommissars ausgerichtet, der nicht allein durch seine Körperfülle alle anderen in den Schatten stellt. Sie bieten aber doch eine Verschiebung von der Figur des exzentrischen Sonderlings hin zu einer großen Organisationseinheit und sind eine wichtige Stufe auf dem Weg vom Detektiv- hin zum Polizeiroman.

Maigret interessiert sich nicht allein für die Einzigartigkeit des Falles. Er sieht immer auch den Menschen dahinter. Er verbindet detektivische Gabe mit einer psychologischen Fundierung. Um 1930 war diese Figur nicht nur Ausdruck einer Modernisierung des Genres, sondern auch einer Reminiszenz an die juridisch-anthropologischen Fallgeschichten insbesondere des 18. Jahrhunderts. Hier wie dort steht der Mensch, dieses rätselhafte, zu Verbrechen neigende Wesen, im Mittelpunkt des Interesses.

Durch ihre Ausrichtung auf Bürgerlichkeit, Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit wirken die Maigret-Romane realistischer als die Golden-Age-Krimis – diesen Zug teilen sie wiederum mit dem sich gleichzeitig etablierenden Hardboiled-Subgenre, auf 
dessen schillernde Elemente sie allerdings weitgehend verzichten. Das Verbrechen ist bei Simenon kein Abenteuer und nur bedingt Ansporn zur Rätsellösung. Es ist teilweise von alltäglicher Banalität. Simenon tritt der weltfernen Überhöhung des Detektivs und seiner Lebensumstände entschieden entgegen. Sein Kommissar Maigret ist ein hart arbeitender Mann, der mäßig bezahlt wird, sein Privatleben vernachlässigen muss und sein Leben riskiert, sich mit bürokratischen Aufgaben herumschlagen muss und eine Gesellschaft beschützt, die seine Dienste nicht zu würdigen weiß.

Anlässlich der Neuedition sämtlicher Maigrets und der sogenannten „Großen Romane“ werden im Folgenden anhand einiger jüngst wiederveröffentlichter Romane essayistische Überlegungen zu Simenons Spielarten der Kriminalliteratur, zu den im Rahmen der Fiktion geleisteten Theoretisierungen des Genres und den methodischen Eigentümlichkeiten eines der berühmtesten Ermittler vorgelegt.

Maigrets Methoden?

Ein durchaus erstaunliches Merkmal der Maigret-Serie ist ihre Selbstreflexivität. Die späteren Texte spielen bereits mit dem popkulturellen Mythos Maigret. Ein Mythos ist der Kommissar auch in der erzählten Welt selbst. So kommt es in Mein Freund Maigret (1949), dem 31. Roman, den Simenon ihm widmet (den unlängst neu entdeckten „nullten“ Fall Maigret im Haus der Unruhe nicht mitgezählt), zu einer bemerkenswerten Ausgangssituation: Maigret wird von einem englischen Kriminalbeamten begleitet, da er auch jenseits des Kanals eine Berühmtheit ist und die „höheren Beamten der englischen Polizei […] sich für seine Methoden interessierten“. So kommt Inspektor Pyke nach Paris, um gewissermaßen als Beobachter zweiter Ordnung Maigrets Methoden zu studieren, sehr zum Missfallen des beobachteten Beobachters. Der Pariser Kommissar wird dadurch zur Selbstreflexion gezwungen und sieht sich gleichsam mit den Augen des Fremden: „Was mochte der Mann von Scotland Yard von ihm denken? Er war gekommen, um ‚Maigrets Methoden‘ zu studieren, aber Maigret hatte keine. So fand er lediglich einen dicken, etwas plumpen Mann vor, der ihm wie der Prototyp des französischen Beamten erscheinen musste.“ Wir sehen Maigret dabei zu, wie er dem englischen Inspektor zusieht, wie dieser wiederum Maigret zusieht.

Da der Fall, bei dem Pyke seinen Kollegen studiert, „völlig uninteressant“ und das Wetter in Paris gerade allzu verregnet ist, erweist es sich als günstige Fügung der Erzählstrategie, dass auf einer sonnigen Mittelmeerinsel ein interessanterer Fall zu lösen ist: Ein ermordeter Fischer hat behauptet, mit Maigret befreundet zu sein – und just diese behauptete Freundschaft scheint der Grund für seine Ermordung zu sein. Obschon sich die Tat außerhalb seines Zuständigkeitsgebietes vollzog, wird Maigret angesichts dieser etwaigen persönlichen Involviertheit hinzugezogen. Er macht sich auf die Reise, immer von Pyke begleitet und deswegen auch immer gedanklich damit beschäftigt, die Situation daraufhin zu befragen, wie sie dem englischen Gast anmuten mag. Das eigentlich Selbstverständliche gerät durch diese doppelte Optik auf den Prüfstand. Die Methode, die er vermeintlich gar nicht hat, gelangt nicht nur zur Vorführung, Pyke zwingt Maigret nolens volens sogar dazu, sie auf ihn anzuwenden, indem er, der Studierende, selbst zum rätselhaften Studienobjekt für Maigret wird: „Wenn er [Maigret] nur gewusst hätte, was sein Kollege dachte“ – was bald um eine Reflexionsstufe überboten wird von der Frage „Was würde Mr. Pyke denken, wenn er Maigrets Gedanken lesen könnte?“

Für Maigret nimmt die Ermittlung gar den Charakter eines Wettstreits an – aber nicht etwa mit dem Mörder. Es ist der Kollege, mit dem Maigret in ein agonales Verhältnis gerät. Diese Konstellation bringt es mit sich, dass der eigentliche Fall in den Hintergrund und der Ermittler selbst in den Fokus rückt. Derjenige, der mit seiner zurückhaltenden, sensiblen und empathischen Beobachtungsgabe wie kein literarischer Ermittler vor ihm ein Gespür für Milieus und Befindlichkeiten aufweist, muss genau diese Fähigkeit nicht nur bei einem Fall zur Anwendung bringen (was ihm schließlich dann doch souverän gelingen wird). Er muss auch damit umgehen, selbst beständig unter einer peniblen Beobachtung zu stehen, von Pyke, allen anderen Figuren und schließlich sich selbst. Muss sich Maigret beispielsweise schlecht fühlen, wenn er sich schon nach dem Frühstück ein Schnäpschen genehmigt, während der Kollege zuvor bekundet hat, „dass ein Englischer Gentleman niemals vor dem späten Nachmittag harten Alkohol trinke“?

Der Umstand, dass dem Publikum in Pyke eine Art Stellvertreterfigur beigegeben wird, durch die Maigrets Methoden besonders deutlich konturiert werden sollen, führt ironischerweise dazu, dass Maigret von seinen üblichen Methoden abweicht. Er würde lieber wie ein Flaneur umherstreifen oder auf dem Marktplatz sitzen, um möglichst intensiv die Atmosphäre der Insel auf- und wahrzunehmen, muss sich aber doch damit auseinandersetzen, „dass man zu Beginn der Ermittlung die Leute vernimmt“. Und während der englische Kollege tatsächlich methodisch geordnet vorgeht, Dinge in Erfahrung bringt und dann seine Gedanken präzise auf den Punkt bringt, ist das bei Maigret „ganz anders“, da er weniger analytisch agiert als auf seinen „Instinkt“ vertraut (wodurch er ein anderes Klischee des Detektivs verkörpert): „Er witterte eher etwas. Er witterte vieles, wie immer zu Beginn einer Ermittlung, aber er hätte nicht sagen können, wann und wie sich dieser Ideennebel lichten würde.“ Auf diese Witterung ist grundsätzlich Verlass – allerdings geht der Kommissar nicht eben gründlich und gewissenhaft damit um. Beim Einschlafen stößt er auf eine „höchst bedeutsame Tatsache“, die „wie eine Erleuchtung über ihn gekommen“ war, er ist aber – was nur allzu menschlich ist – zu bequem, um aufzustehen und seinen Gedanken schriftlich zu fixieren, weshalb er am nächsten Tag nur noch weiß, dass er sich an etwas Wichtiges erinnern müsse. Einem strengen englischen Logiker wäre so etwas vermutlich nicht passiert. Doch dieses Malheur ist nicht entscheidend: Maigrets Methode – die gerade in der nicht regulierbaren „Witterung“ und der Fähigkeit zur Einfühlung besteht – wird zwar im Vergleich mit dem britischen Kollegen kritisch hinterfragt, letztlich aber bestätigt. Er agiert scheinbar ohne Plan und System, aber genau darin besteht seine Vorgehensweise. Die britischen Dandy-Detektive halten bei jeder Gelegenheit kleine Referate über ihre Methoden, die sie für erlernbar und intersubjektiv anwendbar halten. Maigret indes sagt noch nach der erfolgreichen Lösung des Falles entschuldigend zu seinem englischen Kollegen: „Sie sind nach Frankreich gekommen, um unsere Methoden kennenzulernen, und müssen feststellen, dass wir keine haben.“ Das ist nicht bloße Koketterie; am Ende ist zwar das Rätsel gelöst, aber keineswegs alles in Ordnung. Bei aller zelebrierten Gemütlichkeit und guten Konsumierbarkeit der Maigret-Romane bleibt doch häufig Resignation, Melancholie, Pessimismus und ein verschwommener Einblick in die Absurdität des menschlichen Daseins.

Maigret steht wie kaum ein anderer literarischer Ermittler für Empathiefähigkeit und menschliche Anteilnahme. Diese allerdings ist häufig genug Mittel zum Zweck. Maigret will den Verbrecher zwar verstehen, aber doch vor allem deswegen, weil er ihn so fangen und, man muss so es drastisch formulieren, unschädlich machen kann. Mitgefühl und Machtausübung gehen Hand in Hand: „Er hatte die Macht, sie [die Verdächtigen, MB] zu verhören, bis sie vor Angst winselten, sie einzusperren oder sie der Guillotine zu überantworten.“ Auch in Mein Freund Maigret tritt der Protagonist gewissermaßen als Psychologe in Erscheinung. Er kann aber nicht nur einfühlsam sein, sondern auch manipulativ (und dabei nicht immer gesetzestreu, zuweilen gar selbstgerecht). Der freundlich-gemütliche Kommissar eignet sich hervorragend für behagliche Lektürestunden, er ist aber von seinem Autor als durchaus abgründige und doppelbödige Figur angelegt. Er ist der rächende Arm des Staates, der die Welt wieder ins Lot zu bringen gedenkt, indem er die Bösewichte dieser Welt eliminiert. Maigret ist sich darüber auch im Klaren und räsoniert über seinen merkwürdigen Beruf, der ihn, einen Menschen wie alle anderen, in die Lage versetzt, „so viele Schicksale in seinen Händen“ zu halten.

Wie es zur Wahl dieses merkwürdigen Berufs und zu dieser eigentümlichen Macht über die Schicksale anderer Menschen kam, hat Simenon in diversen Maigret-Romanen eingeflochten. Am eindrücklichsten dürfte die Einlassung in dem 1948 vorgelegten Prequel Maigrets erste Untersuchung sein. Dort erfahren wir, dass Maigret keineswegs Polizist werden wollte, um Schurken zur Strecke zu bringen oder aus einem Gerechtigkeitsethos heraus. Der „Beruf, den er seit jeher hatte ausüben wollen, den gab es nicht“. Sein Ideal hat von einem Polizisten auf den ersten Blick sehr wenig: „Er stellte sich einen klugen oder vielmehr sehr verständnisvollen Mann vor, Arzt und Priester in einem, einen Mann, der das Schicksal eines anderen auf den ersten Blick erfaßte.“ Was Maigret vorschwebt, ist eine Art spiritueller Arzt, dem es aufgrund seiner verständnisvollen Art möglich ist, die Lebenswege anderer Menschen zu ordnen und zu korrigieren. „Man wäre zu diesem Mann gegangen und hätte ihn um Rat gefragt, so wie man einen Arzt aufsucht. Er wäre so etwas wie ein ‚Schicksalsflicker‘ gewesen. Nicht nur, weil er intelligent war. Vielleicht brauchte er gar nicht besonders intelligent zu sein. Nein, weil er sich in das Leben aller Menschen, die Haut aller Menschen versetzen konnte.“

Genau das ist es, wofür die Figur des Maigret so berühmt wurde: die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sich einzufühlen, um letztlich als eine Art kriminalistischer Arzt zu wirken. Das heißt aber auch, dass er nicht einfach ein Philanthrop ist, der sich mit Menschen um ihrer selbst willen beschäftigt. Der Ermittler wird zum Heiler, sowohl am metaphorischen Körper der Gesellschaft als auch an der Seele des Verbrechers. Maigret ist das auch selbst halb bewusst: Eigentlich geht er davon aus, nur aus Zufall bei der Polizei gelandet zu sein. „Oder war das etwa kein Zufall? Sind nicht gerade Polizeibeamte manchmal ‚Schicksalsflicker‘?“

Maigrets Mythenkorrektur

Allerdings sollten die treuen Maigret-Leser 1951 erfahren, dass das so alles nicht stimmt – als Simenon nämlich den metafiktionalen Roman Maigrets Memoiren vorlegte, in dem er seine Figur selbst erzählen lässt. Maigret nutzt die Gelegenheit, um mit dem eigenen Mythos kritisch ins Gericht zu gehen und allen klarzumachen, dass dieser Simenon seine Geschichten verfälscht habe. Die Figur wird zum (fiktiven) Autor, der Autor zur literarischen Figur. Simenon, dieser vermeintliche König der Trivialliteratur, reflektiert in diesem Roman augenzwinkernd und selbstironisch, auf fast schon postmodern zu nennende Weise, die popkulturelle Entwicklung seines bekanntesten Helden sowie das Verhältnis von Literatur und „Wirklichkeit“.

Weit entfernt von einem konventionellen Krimi lässt Simenon das vorgeblich reale Vorbild des literarischen Kommissars dessen Sicht der Dinge klarstellen. Der „echte“ Maigret nämlich ist ganz und gar nicht einverstanden mit dem Bild, dass dieser schriftstellernde Journalist, der sich anfänglich noch als „Georges Sim“ vorgestellt und ihn begleitet hat, in der Folge von ihm entwarf. Das ist über weite Strecken geistreich und vergnüglich (und zudem eine Reminiszenz an Sherlock Holmes, der wiederholt seinen Biografen Watson für dessen Übertreibungen und Verfälschungen tadelt). Georges Sim will Einblicke in die echte Polizeiarbeit erhalten, diese dann aber im Rahmen von Kriminalromanen abwandeln. Das tut er so gründlich, dass sich Maigret bald über die vorgenommenen Verzerrungen beschwert. Der Maigret in Sims beziehungsweise Simenons Romanen ähnle ihm „in etwa so, wie die Skizze eines Amateurkarikaturisten auf dem Marmortisch eines Cafés einem Menschen aus Fleisch und Blut ähnelt“. Nicht allein physisch fühlt der Kommissar sich nicht gut getroffen (er sei unter anderem in den Büchern dicker als tatsächlich), auch die geschilderten Methoden findet er „bestenfalls ausgefallen“. Die wesentlichen Merkmale dieser unverwechselbaren literarischen Figur werden von der literarischen Figur, die vorgibt, deren reales Vorbild zu sein, mithin als unzutreffend herausgestellt.

Maigret n’est pas Maigret. Doch dahinter verbirgt sich mehr als nur ein literarischer Scherz. Simenon legt Bausteine zum metafiktionalen Reflektieren vor, zum Nachdenken über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Die Schriftsteller-Figur betont, dass die Wahrheit niemals wahr wirke. Das bloß Authentische bedürfe der poetischen Nachhilfe. „Erzählen Sie irgendjemandem irgendeine Geschichte. Wenn Sie sie nicht frisieren, wird man sie unglaubwürdig und unecht finden. Aber wenn Sie sie frisieren, wird sie echter wirken, als sie eigentlich ist.“ Die poetischen Lizenzen, die sich Simenon nimmt, sind kein Selbstzweck. Er will die Dinge echter machen, als sie sind – was für den bedauernswerten Kommissar zur Folge hat, dass er sich im Vergleich mit der ihm nachempfundenen Figur plötzlich unechter findet. Die Poetik eines nicht zuletzt wegen seiner Authentizitätsfiktionen überaus erfolgreichen Kriminalschriftstellers wie Ferdinand von Schirach, der ebenfalls der Ansicht ist, Literatur müsse die Wahrheit verdichten und vereinfachen, um wahr und sogar wahrer zu wirken, ist in diesen Exkursen mehr als nur vorgeprägt.

In dem seltsamen Betragen des vorlaut auftretenden Journalisten sind weitreichende poetologische und anthropologische Implikationen zu entdecken: So will er, als der den Kommissar bei einem Rundgang durch das Polizeipräsidium begleitet, nicht mit einem Besuch des Erkennungsdienstes beginnen, sondern lieber mit dem Warteraum, da er den gleichen Weg gehen will wie diejenigen, die in Gewahrsam genommen werden. Die Gemütslage des Verbrechers ist für dieses kriminalliterarische Programm von ebenso großer Wichtigkeit wie die Struktur des Polizeiapparates. Aber nicht jeder Verbrecher ist für den angehenden Kriminalschriftsteller interessant. Er bekundet, dass ihn Berufsverbrecher nicht interessieren, da ihre Psychologie keinerlei Rätsel aufwerfe. Er erklärt dem verblüfften Kommissar, dass es „die anderen“ sind, die seine analytische Neugier erregen: „Menschen wie Sie und ich, die eines schönen Tages jemanden töten, ohne sich darauf vorbereitet zu haben.“

Doch auch Maigret selbst ist das Verbrechen weniger wichtig als die Geschichte des Täters. Er ermittelt weniger die Umstände der Tat als die Vergangenheit des Täters, wie er durchaus emphatisch im Rückgriff auf einen zentralen Begriff der Anthropologie der Aufklärung bekennt: „Ein Mensch ohne Vergangenheit ist für mich kein ganzer Mensch. Bei meinen Ermittlungen habe ich manchmal der Familie und Umgebung eines Verdächtigen mehr Zeit gewidmet als dem Verdächtigen selbst. Oft habe ich so den Schlüssel zu einem Geheimnis gefunden, das sonst vielleicht verborgen geblieben wäre.“

In Maigrets Memoiren wird diese Methode auf ihren Schöpfer selbst angewendet. Der Kommissar wird selbst zu einem Menschen mit Vergangenheit. Schon in zahlreichen früheren Romanen wurde die Leserschaft mit Informationen aus Maigrets Vergangenheit vertraut gemacht, doch diese müssen ja relativ zur Erzählstrategie als fragwürdig eingestuft werden. Nachdem auf anregend-vergnügliche Art geklärt ist, wie es überhaupt dazu kam, dass Simenon einen Kommissar Maigret nach dem Beispiel eines „echten“ Polizisten erschuf, wird der Text tatsächlich zu den Memoiren Maigrets, der sein Leben als Entwicklungsroman erzählt. Dieser wiederum ist als eine Mythenkorrektur angelegt, da das erzählende Ich darlegen will, wie es abseits der fiktionalen Verfremdung wirklich gewesen sei. So erfahren wir, wie und wieso er überhaupt Polizist wurde, wie er Madame Maigret kennenlernte oder von den beschwerlichen Anfangsjahren bei verschiedenen Abteilungen wie der Sitten-, der Bahnhofs- oder der Fremdenpolizei.

Obwohl der Roman selbst mit Nachdruck die Frage aufwirft, inwiefern die Gedanken des erzählenden Maigret mit denen übereinstimmen, die der literarische Maigret anstellt, ist er doch auch eine Art Grundlagenreflexion über die Ansichten und Methoden dieses Ermittlers. Vorgelegt werden Konfessionen einer kriminalliterarischen Zentralfigur. Unter anderem denkt Maigret darüber nach, dass es „ein Gefühl der Verbundenheit, so paradox dies scheinen mag“, zwischen Polizist und Verbrecher gebe. Man stehe zwar auf unterschiedlichen Seiten, übe aber aufeinander bezogene Tätigkeiten aus: „In gewisser Weise sitzen wir auch im selben Boot“. Sie wissen, dass sie Akteure im gleichen Spiel sind, hegelianisch gesprochen: Sie anerkennen sich als sich gegenseitig Anerkennende. Damit ist aber auch die Einsicht in die Absurdität des Spiels und letztlich der eigenen Existenz verbunden (wobei wir uns Maigret als modernen Sisyphos, mithin als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen): „Es ist eine Partie, die da gespielt wird, eine endlose Partie. Und wenn man einmal damit begonnen hat, ist es schier unmöglich, wieder auszusteigen.“ Das ist lesbar als poetologische Reflexion des seriellen Erzählens, das Simenon mit seinen Maigret-Romanen perfektionierte, und damit verbunden als Einsicht in den Umstand, dass das Spiel der Verbrechensbekämpfung nie enden wird, dass immer eine nächste Runde ansteht. Kein Fin de partie, nirgends.

Selbst Maigrets spezifischer Ansatz bietet keinen Ausweg. Zwar sei es so, dass man „versucht zu verstehen“, doch dabei gehe es „nicht um irgendein menschliches Geheimnis, das es zu lüften gilt. Diese Vorstellung gehört in einen Roman, und ich lehne sie mit aller Leidenschaft, ja geradezu zornig ab.“ Es gibt, frei nach Franz Kafka, keine Lösung, weil es kein Geheimnis gibt. Ohnehin ist die emphatische Ausrichtung auf das Verstehen (und damit die Aufwertung der Individualität des kriminellen Menschen) nicht mit reiner Menschenliebe zu verwechseln: „Wir befassen uns mit Menschen. Wir beobachten ihr Verhalten. Wir registrieren Tatsachen und versuchen, weitere festzustellen. […] Unsere Erkenntnisse sind sozusagen rein technischer Natur.“ Der anthropologische Ansatz erweist sich, so betrachtet, als Beobachtungstechnik zum Zwecke einer „Menschenregierungskunst“ im Sinne Michel Foucaults. Maigret wertet das Leben der infamen Menschen auf – um sie zu verhaften. Doch selbst dann ist die Verbindung von Jäger und Gejagtem nicht aufgelöst. Die Verbindung der Antagonisten reicht bis zur Schwelle des Todes: „Ich könnte hier mehrere nennen, die mich anflehten, ihrer Hinrichtung beizuwohnen und deren letzter Blick mir gilt.“ Die Legitimation der Todesstrafe wird dabei nicht in Frage gestellt. Das ist weltanschaulich für einen modernen Leser unbehaglich, folgt aber einer poetischen Logik: Das Spiel, das Verbrecher und Polizist spielen, bedarf eines existenziellen Einsatzes, ist eines um Leben und Tod.

Obwohl er selbst eine ganz und gar bürgerliche Existenz führt, kennt Maigret deren Kehrseite und betrachtet sie nüchtern. Er ist ein Nachfahre der literarischen Kriminalanthropologen der Aufklärung, die um Verständnis für den verbrecherischen Menschen und dessen Geschicke warben. „Ich will sie nicht entschuldigen, ihr Tun nicht billigen, sie nicht reinwaschen. Ich will sie auch nicht verklären, wie es einige Zeit lange Mode war. […] Ich sehe sie so, wie sie sind, betrachte sie mit dem Blick eines Menschen, der sich auskennt. […] Ohne Neugier, weil Neugier rasch verfliegt. […] Und ohne Hass natürlich.“ Für ihn steht außer Frage, dass man kriminelle Menschen, denen er solcherart, mit Verständnis, aber ohne falsche Großmut gegenübertritt, „um des Gemeinwohls willen […] in Schranken halten und sie bestrafen“ muss. Ein schlichtes Gut-Böse-Schema, wie es für Kriminalliteratur (und das moralische Empfinden der Leser) allzu oft bestimmend ist, lehnt Maigret hingegen ab. Er betont vielmehr, dass es nur wenige „durch und durch verdorbene Menschen“ gebe.

Wie sein literarisches Abbild verwehrt sich der erzählende Maigret gegen eine Überhöhung seiner vielgerühmten „Methoden“, dem „Gespür“ oder der „Intuition“ eines Polizeibeamten. Schließlich könne man ja auch das Gespür eines Bäckers oder Schusters rühmen, wendet Maigret nüchtern gegen ein kriminalliterarisches Klischee ein – diese seien ebenso wie ein Polizist jahrelang in die Lehre gegangen. Das methodisch unregulierbare Gefühl wird schlicht als Resultat langer Erfahrung begreifbar gemacht. Ein Polizist, so Maigret, sei nicht als romantisierter Abenteurer oder Logikkünstler vorzustellen. „Die Romanciers mögen es uns verzeihen: Ein Polizist ist vor allem ein Fachmann. Ein Beamter. Er spielt kein Ratespiel, begeistert sich nicht für Verfolgungsjagden.“ Sherlock Holmes bekundet in seiner bohèmehaften Manier, er spiele das Spiel um des Spiels willen – wenn ein Polizist wie Maigret an einem Fall arbeitet, „erfüllt er schlichtweg seine Pflicht“. Für Geniekult, einer geradezu unausweichlichen Begleiterscheinung des Detektivromans, ist Maigret nicht zu haben. Er betont dagegen die prosaischen Aspekte seines Berufs, die für den klassischen Krimi kaum von Interesse sind: „Wir sitzen in unserem Büro und schreiben Berichte […]. Ich möchte sogar sagen, wir verbringen viel mehr Zeit mit Verwaltungskram als mit der eigentlichen Ermittlungsarbeit.“ Da diese wenig aufregenden Abläufe in Polizeiromanen kaum auftauchten, seien diese allenfalls „halbwahr“.

Der Mörder als Leerstelle

Simenons Maigret-Romane sind auch ein Spiel mit und Ausdruck der Arbeit an Genre-Regeln. Wie weit er beispielsweise den Fokus der Ermittlungsarbeit von der Frage nach der Identität des Mörders zur Identität des Opfers verschoben hat, zeigt Maigret und die junge Tote von 1954. Der Mörder als handelnde Figur taucht überhaupt nicht auf, die Spannung richtet sich mithin nicht auf das für den klassischen Detektivroman gängige Whodunit-Schema. Vielmehr stehen die Frage „Wer ist sie?“ und die Rekonstruktion der Lebensgeschichte der zunächst namenlosen „jungen Toten“ im Zentrum. Ist im klassischen Detektivroman das Mordopfer vorrangig austauschbarer Anlass für ein Rätselvergnügen, ist es für das Ethos Maigrets signifikant, dass man der Toten eine Geschichte geben möchte (ein ganz ähnliches Muster findet sich im Übrigen bei Die Tote im Götakanal, dem ersten Roman des schwedischen Autorenduos Maj Sjöwall und Per Wahlöö, der den Auftakt zu einer Reihe bildet, die zu einem Genreklassiker wurde).

Eine weitere Besonderheit dieses Falles ist der Umstand, dass sich die Detektion ab einem gewissen Punkt nicht mehr nur auf die Tote selbst richtet. Über eine beträchtliche Strecke verfolgen Maigret und seine Mitarbeiter die Spur eines anderen Ermittlers, der seinerseits die Spur der unbekannten Toten verfolgte, nun aber verschwunden ist. Maigret ist gleichsam ein Spurendeuter zweiter Ordnung. Noch signifikanter allerdings für diesen Fall ist seine Fähigkeit, mittels seiner Einbildungskraft in die Welt des Opfers einzutauchen. Wenn er sich in einem Raum befindet, in dem das Opfer einige Zeit unter ärmlichen Bedingungen lebte, und der einstigen Vermieterin zuhört, lässt „jeder Satz in seinem Kopf ein Bild entstehen“. Auf dieser Grundlage rekonstruiert Maigret das Leben der unbekannten Toten in dieser Wohnung, um sich darauf aufbauend eine Vorstellung von ihrer Persönlichkeit zu machen. Als allmählich einige Information aus dem Leben und über den Charakter des Mordopfers zusammengetragen werden, entwickelt der Kommissar einen Verständnisentwurf. Zwar bleibt „das Gesamtbild verschwommen“, doch Maigret ergänzt im Stil eines Philologen, der ein schwer lesbares Manuskript vor sich hat, die Lücken. Die Tote wird für ihn nachgerade wieder lebendig und er ist imstande, im Geiste Situationen zu wiederholen, die sie erlebte. „Ich habe sie ziemlich gut kennengelernt“, wird Maigret am Ende sagen.

Seine Phantasie führt zu einer Verschmelzung mit dem Denken des Mordopfers. Der Kommissar betreibt eine Einfühlungshermeneutik, die sein ganz eigenes Markenzeichen ist und die in keine lehr- und erlernbare Technik münden kann: „In keinem Polizeikurs lernt man, wie man sich in die Haut eines Mädchens versetzt, das in Nizza bei einer halbverrückten Mutter aufgewachsen ist.“ Maigret aber ist in der Lage, auf der Grundlage weniger Lebenszeugnisse und der Aussage von Zeugen, sich in die Position des Opfers zu versetzen, so zu fühlen wie die Tote und ihre Handlungen zu antizipieren. Nur auf diesem Wege wird es ihm möglich, falsche Spuren zu durchschauen und den Fall zu lösen, ohne des Mörders je ansichtig geworden zu sein. Denn die Einfühlungsgabe bleibt nicht bei der geistigen Verschmelzung allein stehen, sie paart sich mit der semiologischen Fähigkeit, Zeichen und narrative Konstrukte zu deuten und als Lügen zu erkennen. Ebenso wenig bleibt der Autor bei einfühlsamem Zwischenmenschlichkeitskitsch stehen. In seiner knappen, reduzierten, anspruchslosen und allzu leicht als trivial misszuverstehenden Sprache bietet er eindrückliche Milieuimpressionen und präzise Menschenbeobachtungen, deren Knappheit von großer Kunstfertigkeit zeugt und die auszudeuten der Erzähler den Lesern überlässt.

Die Schwierigkeit, von Verbrechen zu erzählen

Das auf den Menschen hinter der Straftat gerichtete Erkenntnisinteresse ist das Verbindungsglied zwischen Simenons Maigret-Erzählkosmos und den „Großen Romanen“. In diesen steht meist die Sicht des Täters selbst im Mittelpunkt. Das psychologisch-anthropologische Interesse, das in den Maigret-Romanen immer mitschwingt, tritt noch deutlicher in den Vordergrund. Das gilt auch für den (aufgrund seines autobiografischen Fundaments ein wenig aus der Reihe fallenden) Roman Die Verbrechen meiner Freunde, der 1937/38 erstmals erschien, in deutscher Übersetzung aber lange Zeit vergriffen war. Ganz im Sinne des Titels erzählt Simenon, wie mehrere seiner realen Freunde zu Mördern wurden. Simenon bietet damit eine autobiografische Variation der Frage, die so viele seiner Romane leitet: Wie und aufgrund welcher Umstände wird ein Mensch zum Mörder? Nicht nur, dass diese Frage durch die realen Hintergründe besondere Dringlichkeit erhält; sie wird auch flankiert von der nicht weniger existenziell dringlichen Überlegung, wieso er, der doch als junger Erwachsener intensiven Kontakt mit den angehenden Verbrechern pflegte, die gleichen Interessen hatte und im gleichen Milieu verkehrte, nicht selbst auf die schiefe Bahn geraten ist. Dadurch wird die sichere und behagliche Ruhe erschüttert, mit der Kriminalautoren und deren Leser die Sphäre des Verbrechens behandeln und konsumieren, als sei sie vollkommen exotisch und fernab der eigenen Lebenswelt. Wer aufgrund welcher Umstände zum Verbrecher wird, erscheint als eine Frage des Zufalls, und wäre im Leben des Autors manches ein wenig anders verlaufen, dann wäre er womöglich nicht einer der erfolgreichsten Schriftsteller aller Zeiten geworden, sondern ebenfalls ein Mörder.

Auch die Form selbst wird Simenon zum Problem. Er habe seinen Text eigentlich „wie einen Roman beginnen lassen [wollen], mit dem Unterschied, dass er diesmal auf Tatsachen beruhen sollte“. Die ‚lebensfremde‘ Form des Romans erweist sich als problematisch, da er „das Leben nie wirklich wiedergeben kann, und zwar deshalb, weil er an einem Punkt anfängt und an einem anderen aufhört“. Bei Verbrechen indes könne man kaum sagen, wo sie anfangen, noch viel weniger plausibel sei es, dass die Erzählungen irgendwann aufhören, „obgleich die Personen der Handlung noch längst nicht tot waren“. Was Simenon bemängelt, ist ein gleichsam technokratischer Zugriff auf das Verbrechen als literarisches Sujet, der zum einen unberücksichtigt lässt, dass und wie die Taten aus dem Leben und den Lebensumständen der Täter resultieren, und zum anderen, dass die vermeintlich erzählenswerte Begebenheit abgeschlossen sei, wenn die Tat selbst verübt und aufgeklärt ist. Der – heuristisch und poetologisch notwendige! – Ausschnitts- und Konstruktionscharakter literarischer Texte wird als untauglich ausgestellt, um analytisch adäquat von Verbrechen, ihren Voraussetzungen und Folgen zu handeln. Doch auch jenseits der Fiktion ergeben sich darstellerische Schwierigkeiten (wie sie in ähnlicher Weise später die literarische Figur des Georges Sim zur Sprache bringen sollte). Es sei geradezu „unmöglich, die Wahrheit ordentlich und klar zu erzählen: Sie wirkt immer unwahrscheinlicher als ein Roman.“

Soll es doch gelingen, ein Verbrechen narrativ (sei es faktual oder fiktional) begreifbar zu machen, muss neben den „Seelenzuständen“ der Täter besonderer Wert auf die „Atmosphäre“ gelegt werden, in der sich die Disposition der Straftaten allmählich entwickelt. Indem Simenon diese Atmosphäre episodisch heraufbeschwört, zeichnet er zugleich ein Porträt des Künstlers als jungem Mann – es ist ein betont subjektiver Zugriff auf die Geschichte der Freunde, die zu Verbrechern wurden, wodurch die Schwierigkeit unterstrichen wird, aus geschützter Distanz und auf der Basis gesicherter Kenntnisse davon zu erzählen, wie sich Verbrecherbiografien entwickeln. „In den Romanen“, so reflektiert Simenon, sei „das alles sehr einfach, und der Autor, ein wahrer lieber Gott, beschließt, dass X aus diesem oder jenem Grund so und so gehandelt hat“. Die Frage nach dem „Warum?“ sei allerdings bei realen Mördern, die man persönlich gekannt hat, kaum zu beantworten, zumal sie unweigerlich die Frage nach sich ziehe, warum man nicht selbst ebenso gehandelt hat oder ob man unter den gleichen Umständen nicht ebenso agiert hätte.

Dieser „Bekenntnisroman“, wie Daniel Kampa in seinem informativen Nachwort den Text klassifiziert, tut indes gar nicht erst so, als könne er eine allgemeine Erklärung krimineller Entwicklungen bieten. Die Wissensausstattung des Erzählers Simenon ist lückenhaft, sodass auch die Geschichten und die Motive der Täter unvollständig bleiben. Immer wieder, und stets deutlich markiert, füllt der autobiografische Erzähler mittels seiner Vorstellungskraft Lücken im Tathergang divinatorisch auf. Er geht mithin ähnlich vor wie sein berühmter Kommissar; zugleich sind das deutliche Hinweise darauf, dass der Text mit einigem Recht die Gattungsbezeichnung „Roman“ trägt. Doch während Maigret letztlich verlässlich die Lösung findet, muss der Erzähler im Rückblick eingestehen, dass er nicht habe ahnen können, welche Folgen die beschriebenen Entwicklungen haben würden.

Dass auch authentische Dokumente wie die einer Anklageschrift entnommene Aussage eines Mörders eingeschaltet werden, ändert nichts daran, dass ein fiktional überformter Bericht vorliegt. Gleichwohl nimmt dieser Roman, der über weite Strecken scheinbar ohne erkennbares Telos Impressionen der gemeinsam mit den Tätern erlebten Vergangenheit vermittelt, durch derlei lebensweltlich verwurzelte Aussagen eine Dringlichkeit für sich in Anspruch, durch die er sich von Fiktion vermeintlich abhebt – wobei Simenons sonstige Verbrechensromane kaum weniger eindrückliche Einblicke in die Psyche von Kriminellen erlauben. Das ist in der Poetik des Autors auch so angelegt: „In meinen Romanen beschreibe ich, kaum verbrämt, dieselben Schauplätze, dieselbe Atmosphäre, dieselben Seelenzustände“ – Simenons genuin literarische Verbrecher sind nach dem gleichen Muster konstruiert wie die realen.

Jenseits von Vernunft und Wahnsinn

Wie virtuos Simenon es verstand, aus der Sicht von Mördern zu erzählen, zeigen etliche seiner Romane. Die Phantome des Hutmachers (1949) zählt fraglos zu den besonders verstörenden. Obwohl sich die Frage nach der Identität des Mörders nicht stellt – bereits im ersten Kapitel wird der Hutmacher als Täter entlarvt –, funktioniert der Text nach Art eines Rätselromans, da den Lesern mit kühl kalkulierter Informationsökonomie immer wieder kleine Wissensversatzstücke geboten werden, die diese dann selbst zusammenfügen müssen. Mag auch bekannt sein, wer die Mordserie an älteren Frauen in einer beschaulichen, aber vom wirtschaftlichen Strukturwandel betroffenen Kleinstadt begeht, das Motiv des methodisch vorgehenden Killers bleibt über weitere Strecken völlig unklar – und als es enthüllt wird, ist das erworbene Wissen keineswegs beruhigend. Die Klarheit über das Motiv lässt alles nur noch grotesker erscheinen. Nicht zuletzt deswegen, weil der Mörder selbst seine Taten vollkommen rational sieht, einordnet, plant und durchführt. Dieser Wahnsinn hat fürwahr Methode und bedient sich rationaler Überlegungen, und genau das ist das nachhaltig Erschreckende an diesem psychologisch meisterlich beobachtenden, wenngleich sich mit Wertungen und Erklärungen gänzlich zurückhaltenden Roman. Ein Rätselroman ist Die Phantome des Hutmachers also nicht, weil ein mysteriöses Verbrechen allmählich von einem Detektiv gelöst werden muss, sondern weil der Mörder, den wir bei fast all seinen Überlegungen begleiten, selbst das Rätsel ist. Immer wieder entstehen neue Fragen: Was treibt den Täter an? Wieso erklärt er fortwährend, seine Taten seien „notwendig“? Was hat es mit seiner kranken (überhaupt noch lebenden?) Frau auf sich? Zwar präsentiert der Roman einige Antworten, diese aber sind in ihrer nur dem Täter selbst einsichtigen Pseudologik nicht dazu angetan, die durch Verbrechen gestörte Ordnung wieder einzurenken, ganz im Gegenteil: Die titelgebenden Phantome des Hutmachers werden zu unseren eigenen, die uns über die Lektüre hinaus verfolgen.

Es ist nicht etwa die Drastik der Taten, die einen Verstörungseffekt erzielt, dafür ist Simenon viel zu diskret. Einige Morde werden zwar erzählt, aber sehr dezent, elliptisch und aus der Distanz. Weit mehr narrative Aufmerksamkeit als die Morde selbst erhalten die Lebensumstände des Täters und seine sozialen Verhältnisse – der Hutmacher ist ein angesehener, überall geschätzter Bürger, dessen bürgerlich-redliche Ordnungsliebe ihren Niederschlag noch in einer absurd anmutenden Mordserie findet. Er geht mit buchhalterischer Genauigkeit und Präzision vor – und gerät völlig aus den Fugen, als ein Plan nicht aufgeht. Wie in vielen Non-Maigret-Romanen erzählt auch Die Phantome des Hutmachers von einer voraussehbaren, unausweichlichen Eskalation, die hier allerdings nicht in den Verbrechen selbst besteht. Sie ist das Resultat eines Umschwungs von der nüchternen Selbstbeherrschung des Killers hin zu einer weitreichenden Zerrüttung seines vormals so stabilen Nervenkostüms. Er weicht von der Methode seiner Morde ab und geht dabei so vor, dass man nur zu dem Schluss gelangen kann, er wolle unbewusst von der Polizei gefasst werden – mit der er vormals so souverän Katz und Maus gespielt hat. Er war sich seiner Sache sogar so sicher, dass er sich bereitwillig von seinem Nachbarn bei einem Mord beobachten ließ und einen geradezu perversen Seelenfrieden in dem Umstand fand, einen Mitwisser zu haben, den er wiederum psychisch dominieren kann.

Dieser Nachbar, ein armer Schneider, ist wiederum der Protagonist der Novelle Der kleine Schneider und der Hutmacher, die ein Jahr vor dem Roman entstand, aber erst nach diesem veröffentlicht wurde und (mehr oder minder) die gleiche Konstellation aus der Sicht des unterdrückten Außenseiters erzählt. Es ist von besonderem Reiz, dass beide Texte erstmals in deutscher Sprache im gleichen Band vorliegen. Das psychologische Experiment, das Simenon mit seinen Figuren veranstaltet, kann gerade durch den Vergleich von Roman und Novelle nachdrücklich studiert werden. Zugegeben: Man merkt den Texten an, dass Simenon ein Schnell- und Vielschreiber war. Nicht jeder Handlungsstrang ist so konzise ausgearbeitet, wie es denkbar gewesen wäre. Gerade das grandios angelegte Herr-und-Knecht-Verhältnis des Hutmachers und des Schneiders hätte Potenzial für eine noch eindringlichere Traktierung geboten. Dennoch wird die Manie eines Mörders, der sich für vernünftig hält, außerordentlich anschaulich erzählt.

Dass er die beschriebenen Spielarten so meisterlich beherrschte, gewährt Simenon einen Platz im Pantheon der Kriminalliteratur. Aber mehr noch: Es gibt fraglos größere Sprachkünstler, klüger reflektierende raunende Beschwörer des Imperfekts und versiertere epische Baumeister als ihn, und doch zeugt es von großer Könnerschaft, wie Simenon gleichsam im perspektivischen Konjunktiv erzählt: Beständig malt sich der Mörder Szenarien und Reaktionen aus und imaginiert dabei ganze Dialoge mit und von anderen Figuren. Die Hölle, das sind die anderen, sogar dann, wenn man selbst es ist, der ihnen die Worte in den Mund legt. Die Selbstgewissheit des Mörders erweist sich als Kompensation einer tiefsitzenden sozialen Verunsicherung, die durch die gedankliche Polyphonie trefflich illustriert wird. Nicht weniger eindrücklich sind auch die tatsächlich geführten Dialoge, die deswegen so beklemmend sind, weil sie „dem Grauen, das in der Stadt herrschte“, bemerkenswert wenig Beachtung schenken. Simenon – und das gilt bei weitem nicht nur für Die Phantome – liefert Material für ein Psychogramm eines Verbrechers, aber auch einer ganzen Gesellschaft, aus deren Mitte der Täter kommt. Die Romane dieses erzählwütigen und bei aller Rastlosigkeit dennoch für jedweden menschlichen Makel so sensiblen Autors bilden in ihrer Gesamtheit eine menschliche Komödie des 20. Jahrhunderts.

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Georges Simenon: Mein Freund Maigret. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands.
Atlantik Verlag, Hamburg 2019.
235 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783455007350

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Georges Simenon: Maigrets Memoiren. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands.
Atlantik Verlag, Hamburg 2019.
189 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783455007404

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Georges Simenon: Maigret und die junge Tote. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Rainer Moritz.
Atlantik Verlag, Hamburg 2020.
208 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783455007527

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Georges Simenon: Die Verbrechen meiner Freunde. Die großen Romane.
Mit einem Nachwort von Daniel Kampa.
Übersetzt aus dem Französischen von Helmut Kossodo.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
160 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783455007091

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Georges Simenon: Die Phantome des Hutmachers. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Mirko Bonné und Juliette Aubert.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
285 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783311134206

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