Orator optimus
„Morgen ist da“: Navid Kermanis Auswahl beeindruckender Reden
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFolgt man Marcus Tullius Cicero, einem der Lehrmeister der Rhetorik, so ist ein wahrer, wirklicher oder glänzender Redner äußerst selten. Umfassende Bildung – neben Rhetorik gehören, so Cicero, Ethik und Dialektik genauso dazu wie Geschichte, Naturphilosophie und Recht – und Redefähigkeit sind basale Voraussetzungen für den orator optimus und seine Rede als Gesamtkunstwerk. Es sei daher nicht zu verwundern, heißt es zu Beginn von de oratore, dass es so wenige gute Redner gebe, „da die Beredsamkeit aus der Gesamtheit der Dinge besteht, die selbst einzeln für sich mit Glück zu bearbeiten eine sehr schwierige Aufgabe ist“. Neben den genannten Bildungsvoraussetzungen zeichnet einen guten Redner auch seine Gestik, Mimik und Stimme aus, wodurch die Sache noch komplizierter wird.
Wenngleich die Species des orator optimus oder zumindest des fast optimalen Redners naturgemäß selten ist, so gibt es sie doch auch noch in unseren Tagen, etwa in Gestalt des Kölner Schriftstellers, Islamwissenschaftlers und Journalisten Navid Kermani – auch wenn dieser eine solche Einschätzung aus Bescheidenheit vermutlich ablehnen würde oder erst gar nichts mit ihr anfangen könnte. Wer etwa seine Rede im Bundestag zum 65. Jahrestag der Verkündigung des Grundgesetzes oder die Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehört und gesehen hat, weiß, welch beeindruckender Redner Kermani in Wort, Gestik, Mimik und Stimme ist.
Nun legt Kermani unter dem Titel Morgen ist da, der zugleich die Standardantwort seines Kölner Buchhändlers Ömer Özerturgut auf eine Buchbestellung Kermanis ist, dreißig Reden-Texte vor. Und um es gleich vorweg zu sagen: Es sind berührende, bewegende, zum Denken anregende, aufrüttelnde, aber auch witzig-humorvolle Reden, die so meilenweit von jeder Talkshow-Phrase entfernt sind wie Kermanis geliebter 1. FC vom Gewinn der Champions League. Hier findet einer stets treffende, jedenfalls die richtigen Worte, pointierte Sätze, gelungene Bilder und überraschende Vergleiche. Neben der von Cicero geforderten umfassenden Bildung, die dem Redner eigen sein muss, lassen seine Texte auch in der nur schriftlich vorliegenden Form jenes Moment spüren, in dem deutlich wird, „dass ein Mensch andere Menschen um so eher erreicht, je näher er bei sich selbst ist, je mehr also die Aussage einem inneren Anliegen entspricht“, jenes „hier stehe ich und kann nicht anders“.
Der Band beginnt mit einer „Laudatio auf den iranischen Schriftstellerverband bei der Verleihung des Sonderpreises zum Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis“ im Juli 1999 und endet mit dem Epilog, einer Erinnerung an den verstorbenen türkischen Buchhändler, bei dem Kermani 28 Jahre lang Bücher gekauft hat. Dabei betont Kermani einleitend:
Dass ich manche Aussagen, so überzeugt ich von ihnen seinerzeit war, im Nachhinein anders treffen würde und mich immer wieder mal auch schlicht geirrt habe, liegt in der Natur der Sache. (…) Lediglich bei den Reden, die nicht öffentlich aufgezeichnet worden sind, habe ich mir die Freiheit genommen, kleinere sprachliche Retuschen vorzunehmen, ansonsten muss ich die eigenen Irrtümer und Unzulänglichkeiten aushalten, die mir verständlicherweise selbst am unangenehmsten sind.
So hielt Kermani seine Dankesrede zum Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis vor dem iranischen Schriftstellerverband zu einer Zeit, als es „Hoffnung auf den Reformprozess“ gab, dabei erinnert er an die schwierigen Anfänge des Verbandes im Jahre 1967, an die verschiedenen Phasen der Hoffnung und der Repression, die der Verband bislang erlebt hat, aber auch an die Widerstandskraft, die Literatur wecken kann, um mit dem hoffnungsvollen Ausblick zu schließen:
Aber am Ende – mag es noch weitere dreißig Jahre dauern –, am Ende werden die Schwerter, die heute noch gezückt sind und morgen wieder morden können, am Ende werden sie schmelzen in der glühenden Geduld auch jener Menschen, die an die Literatur glauben, an die Bilder, Rhythmen und Geschichten, an das Staunen, die Zwischentöne und die Vieldeutigkeiten des Lebens.
Berührend etwa Kermanis Trauerreden auf den eigenen Vater, auf den Verleger Egon Ammann, zum Tod von Rupert Neudeck oder „Zum Tod der ungeborenen Sofia“, wenn dort so tröstliche und zeitlos schöne Sätze zu lesen sind wie:
Wohl alle Kulturen kennen Engel: Sie sind jene Wesen, die das Jenseits verlassen können, ohne ihm anzugehören. Engel verkörpern die Möglichkeit eines Dazwischen. Mit dem einen Flügel berühren sie den Himmel, mit dem anderen Flügel streifen sie unsere Seelen.
Verbindend in Kermanis Reden ist auch immer wieder die europäische Perspektive, beispielsweise in der Dankesrede zum Jahrespreis der Helga und Edzard Reuter-Stiftung (2004), wenn er das „Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen, Ethnien und Sprachen“ in Isfahan in den Blick nimmt oder wenn er auf den Sturz Saddam Hussseins oder auch auf den Krieg in Afghanistan zu sprechen kommt:
Europa sollte eine eigene Vision entwickeln, wie auch in anderen Städten die Tyrannenstatuen stürzen, ohne dass deren Staaten in Chaos und Krieg versinken. Was immer Ihnen westliche Experten und muslimische Fundamentalisten wortgleich einreden wollen: Die Anziehungskraft von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit ist auch in der islamischen Welt um ein Vielfaches größer als die Anziehungskraft der Terroristen. Das Entscheidende dabei ist: Diese Anziehungskraft beruht nicht auf dem Wunsch nach Verwestlichung, sondern auf dem Wunsch nach Selbstbestimmung.
Auch in seiner Ansprache im Jahr 2005 auf der Konferenz „Dialog mit der islamischen Welt“ hebt Kermani auf die europäische Perspektive ab:
Die Bedeutung des jüdisch-muslimischen Erbes für Europa intellektuell und künstlerisch zu unterstreichen, ist gerade mit Blick auf die aktuellen Diskussionen um die europäische Identität von Bedeutung. Europa ist ein säkulares Projekt, das sich nicht zuletzt in seinen selbstverschuldeten historischen Katastrophen zu seiner jetzigen Gestalt und Anziehungskraft herausgeschält hat. (…) Europa hat Zukunft nur in der religiösen, nationalen, sprachlichen Vielfalt. Das bedeutet mit Blick auf seine Geschichte und Gegenwart auch, dass Europa nur Zukunft haben wird mit dem Judentum und dem Islam.
Dabei nimmt Kermani schon seit Jahren Europa in die Pflicht, wenn er etwa „Zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burgtheaters“ (2005) nach einer Erinnerung an „Literaten für Europa“ wie Heinrich Mann, Stefan Zweig oder auch Joseph Roth feststellt:
Viel wäre allerdings schon gewonnen, wenn Europa wenigstens jene Probleme Afrikas zu lösen begänne, deren Ursachen in Europa selbst liegen. Das beginnt bei den Subventionen der Europäischen Union, die die Baumwoll- oder die Zuckerindustrie in Afrika zerstören (…), und hört bei der Unterstützung speziell der nordafrikanischen Diktaturen noch lange nicht auf. (…). Erst wenn Europa menschlich ist zu denen, die nicht zu Europa gehören, wird es zum ‚übernationalen Reich des Humanismus‘, an das Stefan Zweig glaubte wie an ein Evangelium. Der europäischen Idee im emphatischen Sinne, der Idee einer säkularen, transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Welt, wie sie aus der Aufklärung und der Französischen Revolution erwachsen ist, ist die Universalität wesenseigen.
Sätze, die vermutlich nicht allzu viele bei der Bewältigung der Finanz- bzw. Bankenkrise 2008/2009 oder der Flüchtlingskrise spätestens ab dem Herbst 2015 hören wollten – ein Agieren, das nun während der Corona-Pandemie durchaus Schatten bis in unsere Gegenwart wirft.
Empathische Aufrufe zum Miteinander, zu den Grundwerten der Französischen Revolution finden sich auch in der „Allianz-Lecture über Europa“ im Deutschen Theater in Berlin 2011. Und auch Kermanis Dankrede für den deutsch-polnischen Samuel-Bogumił-Linde-Literaturpreis ist ein Plädoyer für Europa.
Mit seinen Reden unterstreicht Navid Kermani immer wieder – ganz gleich, ob er beim Weltkongress der C.G.Jung-Gesellschaft in Köln (2019) eine so beeindruckende wie überzeugende Spurenlese der Beziehungen der islamischen Poesie vom 13. Jahrhundert bis zur Religionsphilosophie C.G. Jungs vollzieht und dabei seine eigene sufitische Prägung offenbart, oder ob er „Zum siebzigsten Geburtstag des 1. FC Köln“ spricht, Nachrufe und Grabreden hält – wie sehr dabei auch „die Literatur ein Weg (ist), mit dem Schatten zu leben, der aus der Vergangenheit oder dem Jenseits auf uns fällt.“
Kermani erweist sich mit seiner Reden-Auswahl einmal mehr als einer der bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit, oder wie Gerd Ueding bei der Verleihung des „Cicero“-Rednerpreises 2012 über ihn gesagt hat: „In die rhetorische Linie, die von den großen antiken Rednern bis in die Zukunft eines wirklich geeinten Europa reicht, gehört Navid Kermani an prominenter Stelle.“
„Die höchste Kunst der öffentlichen Rede“, so Kermani in seinem Vorwort der ausgewählten Reden, „wäre es im Namen von vielen zu sprechen, aber so, wie es nur ein einzelner Mensch sagen kann, literarisch zu sein und zugleich repräsentativ“. Seine Reden, die in Morgen ist da zusammengestellt sind, kommen dieser höchsten Kunst zumindest sehr nah. Die Sammlung von „öffentlich vorgetragenen Texten“, die Kermani so von den einmal gehaltenen Reden unterscheidet, zeigt einen glänzenden Stilisten und – ja dann doch – auch authentischen Redner, der ganz bei sich ist, mithin einen orator optimus oder zumindest einen orator propemode optimus.
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