Das erzählte Gefängnis

Aslı Erdoğan sucht in „Das Haus aus Stein“ nach einer widerständigen Literatur

Von Timo KrstinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Krstin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2009 veröffentlichte Aslı Erdoğan ihren Roman, der auf Deutsch Das Haus aus Stein heißt, zum ersten Mal in der Türkei. Das Buch entstand im Umfeld einiger Zeitungskolumnen über die Situation der kurdischen Minderheit. Es war eine Novelle über einen „A“ genannten Mann, durch dessen Augen Erdoğan – die Journalistin und Schriftstellerin – versuchte, einen Blick auf jene Verwüstungen zu werfen, die der Gefängnisalltag in einem Menschen anrichtet; Verwüstungen, die auch die Biographie, mithin die Erzählung von A betreffen: Wir erfahren nicht viel von ihm, außer, dass er täglich vor seinem früheren Gefängnis kniet wie vor einem Schrein, dass er ein Schaufenster zerstört und später ein weiteres Mal verhaftet wird. Die eigentliche Erzählung dagegen, der Blick durch seine Augen, löst sich von den Fakten und Details einer Geschichte und gerät zum assoziativen Metaphernstrom, mit dem sich die Schriftstellerin Erdoğan zum Medium für As Leid macht. 2009 konnte Erdoğan dieses Leid nur durch die von A „geliehenen“ Augen erfassen.

2019 veröffentlicht Erdoğan ihren Roman erneut, nun zum ersten Mal auf Deutsch. Im Vorwort zur Ausgabe des Penguin Verlags beschreibt sie einen Besuch in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Ihre Eindrücke aus dem winterkalten Gemäuer setzt sie in Korrespondenz zu den Gefängniserfahrungen von A, dessen Nicht-Geschichte wir im Folgenden noch einmal zu lesen bekommen. Außerdem erwähnt Erdoğan, fast en passant, den hinlänglich bekannten Grund für ihre Verbindung zu Deutschland: 2016, nach dem Putschversuch gegen Recep Tayyip Erdoğan, war sie als oppositionelle Journalistin verhaftet und für 132 Tage im Frauengefängnis Bakirköy festgesetzt worden, bevor man sie nach Deutschland ausreisen ließ.

Zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung lesen wir die Geschichte des Herren A also erneut. Doch wir lesen sie jetzt durch die Augen einer Schriftstellerin, die das Leid der Gefangenen am eigenen Leib erfahren hat, und die aus einem Land darauf zurückblickt, das sie selbst – da lässt das Vorwort aus Buchenwald keinen Zweifel – als ein Land der Täter wahrnimmt. Diese dreifache Verschachtelung ist es, durch die Das Haus aus Stein in der Neuausgabe von einem eindrücklichen Metaphernstrom zu einer in sich so geradlinigen und konsistenten Allegorie politischer Verfolgung wird, dass einem beim Lesen der Atem stocken kann.

Das erste, was einer Gefangenen widerfährt, so lautet der immer wieder beschworene Gedanke, ist der Verlust der eigenen Biographie. Wer zwischen Steinmauern festsitzt, bestimmt nicht mehr über das eigene Leben und kann im Umkehrschluss auch nicht die eigene Geschichte erzählen. Alles, was die Gefangene erzählen würde, wäre nicht ihres, wäre eine Bestätigung und eine Kapitulation vor den Täter*innen. Darum ist es sinnlos in Das Haus aus Stein nach einer Erzählung zu suchen, die sich an biographischen Fakten entlang bewegen würde. Fakten werden in diesem Buch von anderen geschaffen, sind nichts weniger als Gefängnismauern, die dem Ich gewaltsam Grenzen setzen. Aus diesem Gefängnis kann sich nur befreien, wer den Zwang zur Erzählung, zu Mauern und Häusern aus Stein, überwindet. Aus As Perspektive schreibt Erdoğan: „Er wollte die Geschichte nicht wirklich erzählen, sondern ihr nur endlich einmal eine Stimme, Worte, einen Körper verleihen.“

So abstrakt dieser Ansatz klingen mag, so ehrlich und direkt geht ihm Erdoğan in ihrem Text nach und stößt jenseits der Erzählung auf die erschütternde Kraft der Poesie. Denn es ist die Poesie, mittels derer sich die Autorin genau wie ihre Protagonist*innen – der Herr A und alle anderen mit der Buchenwaldreferenz Gemeinten – über ihre Peiniger*innen erheben. Sie ritzen Worte in Mauern, die mit ihrer poetischen Kraft, ja, mit ihrer Schönheit, den Gefängnisalltag stören. Schreiben wird so zur Unterbrechung der aufgezwungen Monotonie und damit zu einem Akt des Widerstands, der den Gefangenen nicht genommen werden kann, solange sie von Mauern umgeben sind. Wer sie gefangen hält, macht sie zu Poet*innen und gibt ihnen unfreiwillig den Schlüssel zu einer höheren Freiheit. Mit dieser Logik transzendiert Erdoğan die Mauern des Hauses aus Stein: Sie werden durchscheinend und fahl und in ihrer ganzen Erbärmlichkeit greifbar. Man spürt, wer die eigentlichen Gefangenen sind. Es sind jene politischen Potentaten und ihre Handlanger*innen, die Duckmäuser und Systemkarrierist*innen, die ihre eigene Macht nur erhalten können, wenn sie andere ihrer Freiheit berauben. Sie sind hohl und leer wie die unzähligen Häuser aus Stein, die sie im Laufe der Geschichte errichtet haben.

Poesie ist die Waffe, mit der Erdoğan ihren Peiniger*innen entkommt, noch bevor sie aus dem Gefängnis entlassen wird. Und Poesie schlägt zugleich eine Brücke zwischen allen Gefangen, egal ob in Deutschland oder der Türkei, ob heute oder vor achtzig Jahren. Was Erdoğan in der Neuausgabe von Haus aus Stein macht, das Leid der Buchenwaldhäftlinge unvermittelt neben die Zustände in den Gefängnissen der modernen Türkei zu stellen, könnte ihr als unzulässiger Vergleich ausgelegt werden. Doch Vergleich wäre es nur, wenn Erdoğan vergleichend erzählen würde. Das maßt sie sich nicht an. Stattdessen sucht sie in den unterschiedlichen und unvergleichlichen Leidensgeschichten nach einer ihnen allen gemeinsamen Sprache. Mit ihren poetischen Miniaturen, Bildern und Metaphern kommt sie dieser Sprache immer wieder erschreckend nahe, ohne den einzelnen Erfahrungen ihr Unvergleichliches zu nehmen. Was sich beim Lesen einstellt, ist das Gefühl einer tiefen Solidarität der Unterdrückten aller Epochen, die auch den privilegierten Leser, der nie politische Verfolgung erfahren musste, mitzunehmen vermag: nicht ausgrenzt, keine neuen Mauern errichtet. Damit bewegt sich Erdoğan literarisch auf den Spuren großer Vorbilder wie Paul Celan oder Samuel Beckett, dessen Der Verwaiser an zentralen Stellen des Textes sicher nicht unbeabsichtigt aufscheint.

Das Haus aus Stein steht in der Tradition einer Literatur, die aus bitteren Umständen den Ausdruck für etwas Unaussprechliches finden muss. Beim Lesen der Neuausgabe lässt sich das Gefühl schwer vermeiden, dass der Text erst durch Erdoğans Leidensweg zu sich selbst gekommen ist. Dieser Gedanke mag zynisch klingen, aber er ist es nur, wenn man Das Haus aus Stein gewissermaßen von außen betrachtet. Wer sich dagegen hinein begibt, wer es noch einmal liest, mit den geliehenen Augen von Aslı Erdoğan, von A und den ungezählten Opfern politischer Gewalt, spürt, dass sich die Literatur nicht aus menschlichem Leid speist, sondern Widerstand sein will. Dafür muss sie gelesen werden. Immer wieder.

Titelbild

Asli Erdoğan: Das Haus aus Stein. Roman.
Mit einem Vorwort der Autorin zur deutschen Erstausgabe.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Penguin Verlag, München 2019.
118 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600763

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