Hinter der roten Kordel

In Georg M. Oswalds Roman „Vorleben“ scheitert eine Beziehung an zu viel Neugier

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er, Daniel Keller, ist ein begnadeter Cellist an einem Münchner Symphonieorchester, sie, Sophia Winter, eine von Selbstzweifeln geplagte Journalistin, die beruflich schon bessere Tage erlebt hat. Ein Glück für sie, dass eine Freundin ihr einen interessanten und hervorragend bezahlten Auftrag vermittelt: Der weltberühmte Klangkörper benötigt für das Jahresprogrammheft der nächsten Saison noch einige gut geschriebene Texte, mit denen auch ein Nicht-Fachpublikum etwas anfangen können soll. Also unterdrückt Sophia den Gedanken, für diesen Job die Ungeeignetste zu sein – „Sie konnte kaum Noten lesen, es wäre ihr sehr schwergefallen, die Namen von mehr als zehn Komponisten aufzuzählen, und sie erinnerte sich kaum an das letzte klassische Konzert, das sie besucht hatte.“ –, und macht sich auf an die Isar.

Georg M. Oswalds achter Roman spielt in der Stadt, in der er selbst seit zweieinhalb Jahrzehnten hauptberuflich als Rechtsanwalt tätig ist. Seine Protagonisten tragen ihre Konflikte zwischen dem gentrifizierten Glockenbachviertel und dem Englischen Garten, der Philharmonie am Gasteig und dem Herkulessaal der Münchner Residenz, dem Szene-Klub „Pimpernel“ in der Müllerstraße und dem „Schumann’s“ am Odeonsplatz aus. Und es geht zunehmend vor allem um die Frage, mit der das erste der insgesamt neun Kapitel bereits anhebt: „Warum schöpft man Verdacht gegen jemanden, den man liebt?“

Im Falle von Sophia und Daniel, die schon bald nach der Ankunft der Journalistin ein Paar geworden und zusammengezogen sind, handelt es sich zunächst um ein paar verblichene Polaroids, die Sophia in einem Fotoalbum des Musikers entdeckt. Merkwürdig bekannt kommt ihr die Frau vor, mit der er zusammen auf ihnen posiert. Und obwohl ihr ziemlich schnell bewusst wird, dass ihr unerlaubter Blick in seine Vergangenheit zukünftiges Konfliktpotential enthalten könnte, macht sie die Unbekannte – „die Haare blau-schwarz gefärbt und wild abstehend […] tiefe Augenringe […] ein Nachtschattengewächs“ – über die Maßen neugierig.

Kurz darauf entdeckt sie in einem Münchener Reiseführer für Eingeborene das Porträt jener Nadja Perlmann, einer Münchener Nachtklubtänzerin und Sängerin, deren plötzliches Verschwinden im Sommer 1989 mit der spektakulären Entdeckung ihres abgetrennten Kopfes in einem Bahnhofsschließfach und weiteren über die ganze Stadt verteilten Leichenteilen ein furchtbares Ende fand. Aber was hat der aus einem gutbürgerlichen Haus stammende Daniel Keller, der sein Leben von Kindheit an ganz in den Dienst der Musik gestellt hat, mit dieser Aufsehen erregenden Mordgeschichte zu tun?

Schritt für Schritt nähert sich Oswalds Protagonistin der Vergangenheit eines Mannes, dessen einziger Ausbruch in eine Welt, die nie die seine war und deren Gesetze er nicht durchschaute, katastrophale Folgen zeitigte. Dass Sophias Neugier auf die Vergangenheit ihres Geliebten schlimme Vertrauensbrüche einschließt, zerstört schließlich ihre Beziehung. Was als Romanze beginnt – auch wenn die 38-Jährige dem scheinbaren Glück, das ihr mit dem um ein gutes Jahrzehnt älteren Mann, Vater einer Tochter aus seiner ersten gescheiterten Beziehung, scheinbar anstrengungslos in den Schoß fiel, nie zur Gänze vertraut hat –, endet schließlich als Tragödie.

Geschickt verbindet Georg M. Oswald in Vorleben eine Gegenwartserzählung mit einer Kriminalstory aus dem München der 1980er Jahre. Aus der personalen Perspektive der Journalistin Sophia Winter dargeboten, durchbricht die Geschichte die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit erzähltechnisch immer dergestalt, dass Sophia die von ihr recherchierten Fakten rund um den Mord an Nadja Perlmann als Teile eines eigenen, in Arbeit befindlichen Romanprojekts in die Gegenwartshandlung einfügt. Das wirkt gelegentlich, vor allem an den Übergangsstellen zwischen dem Heute und dem Damals, etwas holprig, funktioniert generell aber sehr gut.

„In Museen gab es manchmal original eingerichtete Arbeitszimmer bedeutender Persönlichkeiten zu besichtigen. Der Besucher durfte dann, hinter einer roten Kordel stehend, das Tischchen oder den wuchtigen Schreibtisch bewundern, an dem unsterbliche Werke komponiert oder gedichtet, politische Ideen ersonnen, wissenschaftliche Entdeckungen gemacht wurden.“ Indem Sophia Winter hinter die – unsichtbare – rote Kordel im Leben ihres Geliebten dringt, erfährt sie zwar die Wahrheit über dessen Vergangenheit, zerstört im selben Moment aber auch mehr als nur ihre Liebe.    

Titelbild

Georg M. Oswald: Vorleben.
Piper Verlag, München 2020.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492055673

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