Das Lichtspiel einzufangen war für ihn ein Grundbedürfnis
„Monet. Orte“ wird als ein Standardwerk in die Impressionismus-Literatur eingehen
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs bildet zweifellos den Mittelpunkt der wunderbaren Claude-Monet-Schau im Museum Barberini in Potsdam (sie ist zwar wegen der Corona-Virus-Pandemie vorübergehend – zunächst bis zum 19. April – geschlossen, aber das Museum trägt täglich wechselnde Online-Angebote in den digitalen Raum): das Gemälde „Heuhaufen“ (1890) in der Sonne, das von Hasso Plattner, dem SAP-Gründer und Erbauer des Museums, im vergangenen Jahr für knapp 111 Millionen Dollar – der höchste Ertrag, den bisher ein Monet erzielt hat – ersteigert wurde. Jetzt können allein vier Variationen des berühmten „Heuhaufen“-Motivs vorgeführt werden. Monet hatte 1888 mit einem System begonnen, das das gleiche Motiv immer wieder von Neuem, in Serien, zeigte. Wahrscheinlich wurde er durch japanische Holzschnitte dazu angeregt, die unter Pariser Künstlern in Umlauf waren und ihnen eine Fülle von Motiven boten. Insgesamt 15 Ansichten von Heuschobern sind auf diese Art entstanden. Die runden Heuhügel waren so ziemlich das Formloseste, was Menschen hervorbringen konnten. Sie waren neutrale Motive in wechselndem Licht und damit genau das, was Monet wollte: die unendlich variierbaren Lichtwirkungen zeigen, die man einem Motiv zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichem Wetter abgewinnen kann. Jeder Heuschober sollte ein Beispiel für etwas gleichzeitig Alltägliches und immer Wiederkehrendes sein und alle Möglichkeiten ausschöpfen, die ein menschliches Auge erfassen kann.
Mit mehr als 100 repräsentativen Werken aus allen wichtigen Schaffensperioden ist die Ausstellung „Monet. Orte“ eine der umfangreichsten Retrospektiven, die je in Deutschland gezeigt wurden. Allein 34 Monets nennt die Stiftung Plattner ihr Eigen. In enger Kooperation mit dem Denver Art Museum, das seine große Monet-Sammlung zur Verfügung stellte, sind Leihgaben aus Privatbesitz und den großen Museen der Welt hinzugekommen. Monets impressionistische Bilder zeigen Orte, in denen sich der Künstler aufgehalten und aus denen er seine Inspiration bezogen hat: Paris, London, Zaandam in Holland, Amsterdam, der Pariser Vorort Argenteuil, das Seine-Dorf Vétheuil, Giverny in der Normandie, wo er seinen dauerhaften Wohnsitz nehmen sollte, der normannische Küstenort Etretat, Bordighera an der italienischen Küste, Antibes und Venedig, wohin er Reisen unternahm. Von Giverny begab sich Monet auch nach Rouen, um dort, bei wechselndem Licht, 26 Mal die Fassade der Kathedrale zu malen. Dieses Motiv wird in der Ausstellung jedoch nicht gezeigt. Es sind die Boulevards und lichterfüllten Parks von Paris, die Dunst- und Nebelschleier von London, die Brücken, Windmühlen, Kanal- und Hafenszenen in Holland, das Leben und Treiben auf der Seine, das Monet von seinem Atelierboot aus festhielt, die ländlichen Idyllen der Seine-Landschaft, die gewaltigen Küsten Nordfrankreichs, die Lichtstimmungen und mediterrane Atmosphäre des Südens, schließlich das selbst geschaffene „Paradies“ in Giverny, das wir bewundern können. Die Arbeiten reichen vom idealisierten Bild zu einer Darstellung, die auf dem genauen Studium der Natur beruhte. Das Gesehene sollte treu und wahrhaftig wiedergegeben werden und in das Porträt einer realen Landschaft münden. Monet etablierte die Naturstudie vor Ort mit einer Konzentration auf die Phänomene Licht, Schatten und Atmosphäre. Das Lichtspiel einzufangen war für ihn ein Grundbedürfnis. Deshalb malte er im Wandel des Lichtes auch Überschwemmungen, Eistreiben, Straßen im Schnee und winterliche Sonnenuntergänge als faszinierende Sondererscheinungen der Natur.
Die Essays des Begleitbandes beruhen auf Beiträgen zu einem internationalen Symposium, das im vergangenen Jahr am Museum Barberini stattfand. Welcher Platz kam Monet im heiß umkämpften Pariser Kunstbetrieb der 1860er Jahre zu?, fragt Paul Hayes Tucker. Er schildert die Strategien, die Monet anwandte, um sich in der Pariser Kunstszene durchzusetzen und sich innerhalb eines einzigen Jahrzehnts als ein führendes Mitglied der französischen Avantgarde zu behaupten. Monet hatte einen grenzenlosen Ehrgeiz, er griff sowohl die traditionelle Landschaftsmalerei auf, ließ aber auch das Stillleben, das Portrait oder die Genremalerei nicht aus. Ob im monumentalen „Frühstück im Grünen“, im Portrait seiner Geliebten „Camille im grünen Kleid“ oder im Stillleben „Das Pfirsichglas“ (alle 1866) – bei Monet präsentierte sich das moderne bürgerliche Leben ohne jedes imaginäre Arrangement.
Daniel Zamani untersucht die Pleinairmalerei, die eine entscheidende Rolle in Monets impressionistischer Bildsprache spielt. „Anstelle des kühl distanzierten Blicks auf die Natur und deren idealisierender Umgestaltung mit Hilfe der mathematischen Linearperspektive suchte Monet die direkte Begegnung mit dem Motiv – eine multidimensionale und experimentelle Erforschung realer Orte, bei der er auf unkontrollierbare Faktoren wie Witterungsverhältnisse und Licht reagieren musste“. Das Streben nach der subjektiven Wiedergabe des Ephemeren und Transitorischen macht die radikale Modernität Monets aus.
Während Monet in den 1870er Jahren an die 2000 Gemälde geschaffen hat, widmete er dem Zeichnen weniger Aufmerksamkeit. 1874, auf der ersten Impressionisten-Ausstellung, stellte er noch sieben Pastellzeichnungen aus, dann verzichtete er darauf, Arbeiten auf Papier öffentlich zu zeigen. Marianne Mathieu liefert in ihrer Untersuchung der Zeichnungen neue Einblicke in Monets Arbeitsweise als Maler und neue Aufschlüsse zu den Darstellungen bestimmter Landschaften und Topographien. Die meisten Gemälde schuf Monet ohne Vorstudien auf Papier. Stattdessen war das „innere Bild“, eine Art „mentale Entwurfszeichnung“ in der Vorstellungskraft des Künstlers, für ihn entscheidend. Monet leistete eine gedankliche Vorarbeit, und die verbreitete Auffassung vom Impressionismus als einer „schnellen“ Malerei ist zu überdenken. Seine Großformate, zu denen er bereits 1897 erste Entwürfe anfertigte, sind erst 20 Jahre später fertig gestellt worden.
Angelica Daneo wendet sich Monets erster Malreise 1884 in den Süden, nach Bordighera an der italienischen Riviera, zu. Hier herrschten völlig andere Lichtverhältnisse als bei seinen vorherigen Auslandsaufenthalten in London oder in den Niederlanden, und die intensiven Farben der Gegend adäquat wiederzugeben, bereitete Monet einige Schwierigkeiten: „Diese Palmen treiben mich in den Wahnsinn… Ich würde gerne Orangen- und Zitronenbäume vor dem Hintergrund des blauen Meeres malen, aber ich kann keine finden, die so sind, wie ich es mir wünsche. Das Blau des Meeres und des Himmels ist unglaublich“, schrieb er an seine Lebensgefährtin Alice Hoschedé. Bei unterschiedlichen Schauplätzen und Motiven nahm der Maler ein „Wechselspiel einzelner Bildelemente“ vor. Die systematische Herangehensweise an das Motiv zeichnet sein gesamtes Schaffen aus. Er war „stets auf der Suche nach einer authentischen Wiedergabe der Natur, die sich zugleich mit seinem künstlerischen Anliegen und Vorstellungen decken sollte“.
Dagegen geht George T.M. Shackelford der Auseinandersetzung Monets mit der Metropole Paris von seinen ersten Ansichten 1867 bis zu den überschwänglichen Bildern der Feierlichkeiten zum 30. Juni 1878 nach. Anfangs hatte Monet stets erhöhte Standorte gewählt. 1877 begann er mit einer Serie von Ansichten des Gare Saint-Lazare; er stellte seine Staffelei direkt in Gleishöhe auf und stattete die riesige Bahnhofshalle mit atmosphärischen Affekten aus. 1878 – zum Nationalfeiertag – schaute er wieder auf die Stadt herab – diesmal auf eine enthusiastisch bewegte Menschenmenge. Damit endeten seine modernen Großstadtsujets und Monet wandte sich ab 1880 ganz seinen zeitlosen ländlichen Motiven zu.
Richard Thomson geht von der These aus: Wenn man das Werk anderer Künstler betrachtet, die an den gleichen Orten wie Monet gemalt haben, können dessen künstlerische Entscheidungen besser nachvollzogen werden. Dieselben Aussichtspunkte und Ansichten, die er aussuchte, wurden bereits vorher und/oder gleichzeitig von anderen – auch von weniger herausragenden Zeitgenossen – verwendet. Tatsächlich muss Monet sich also viel intensiver mit seinen Malerkollegen auseinandergesetzt haben, als er vielleicht selbst bereit war zuzugeben. Unter Rückgriff auf Henri Bergsons Ideen zu Wahrnehmung und Erkenntnis hinterfragt James H. Rubin gängige Interpretationen des Impressionismus als Stilrichtung, die sich ausschließlich ans Auge richten würde. Monets ständige Ortswechsel und die Einnahme verschiedener Blickwinkel auch innerhalb eines relativ eng begrenzten Raumes, sind für ihn Beleg dafür, dass beim Betrachten der ganze Körper beteiligt ist. Monet sei zu Darstellungsformen vorgedrungen, die nicht etwa durch Momenthaftigkeit, sondern durch das, was Bergson als „Dauer“ kennzeichnete, körperliche Empfindungen hervorrufen. Das habe auch in der Literatur jener Jahre ihren Ausdruck gefunden, etwa im Werk von Marcel Proust.
Eine kommentierte Bildbetrachtung bietet der umfangreiche Katalogteil von Monets künstlerischen Anfängen, seinen frühen Erfahrungen beim Landschaftsstudium in der Normandie und dem südöstlich von Paris gelegenen Wald von Fontainebleau über die Paris- und London-Bilder, seine Holland-Studien, die ländlichen Idyllen in Argenteuil und Vétheuil bis zu seiner Hinwendung zu seriellen Darstellungen in Giverny, den Küstenansichten in Nordfrankreich, den Reisen nach Bordighera, Antibes und Venedig und seinem selbst angelegten Garten in Giverny.
Als sich Monet in den 1880er Jahren in dem Dorf Giverny bei Vernon, 80 km von Paris entfernt, niederließ und seinen Garten anzulegen begann, schien das wie ein Rückzug aus dem künstlerischen Leben. Die impressionistische Bewegung hatte längst ihren Höhepunkt überschritten, jüngere Künstler wie Seurat wollten die Vorherrschaft des Auges über den Verstand brechen und wieder Ordnung, Struktur und System in das Chaos des „Sehens“ bringen. Sein Garten in Giverny, den er von einem Blumengarten zu einem Wassergarten mit seinen Seerosen, den Iris, den Trauerweiden und der grünen glyzinienüberwucherten japanischen Brücke zu entwickeln begann, lieferte Monet die Motive für seine besten Bilder. Vorher entstanden eine Reihe von Pappelbildern; das Motiv ist auf flächige Farbstreifen reduziert, Himmel, Flussufer und Spiegelung im Wasser, die noch durch die leicht gewellten Vertikalen der Baumstämme im Wasser hervorgehoben wird. In den „Seerosen“ von Giverny wurde er dann noch flächiger. Sie entspringen einer langen Beschäftigung mit einer Unterwasserwelt, die sich spiegelt, in der kein Himmel zu sehen ist, außer seiner Spiegelung im Wasser, das die ganze Fläche ausfüllt. Monet hat die Realität mit einem Höchstmaß an Abstraktion eingefangen. Er, der einstige Begründer einer schon längst als überlebt geglaubten Bewegung, reihte sich selbst in die Schar der großen Anreger und Exponenten der Moderne im 20. Jahrhundert ein.
Seit etwa 1970 hatte auch die Kunstgeschichte begonnen, über das Alterswerk des Meisters von Giverny neu nachzudenken und ihn neben Cézanne als zweiten Patriarchen der Moderne einzuordnen. Die Potsdamer Ausstellung und ihr Begleitband sind eine Schule des Sehens und Erkennens, die die Bewunderung und den Respekt vor der bahnbrechenden Leistung dieses großen Meisters erheischt.
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