Ihre Werke galten als Inbegriff „weiblicher Kunst“
„Verrückt nach Angelika Kauffmann“ – Neues über die Ausnahmekünstlerin des 18. Jahrhunderts
Von Klaus Hammer
Sie hat 1778/1780 vier Deckengemälde für die Royal Academy of Arts im Somerset House in London – es sind überhaupt ihre einzigen Wand- und Deckengemälde – geschaffen. Diese stellen die allegorischen Personifikationen von Erfindung, Farbe, Zeichnung und Komposition dar, sozusagen die Verbildlichung der vier Arbeitsschritte bis zum fertigen Kunstwerk. Aktiv sind die praxisorientierten allegorischen Frauenfiguren der Zeichnung und der Farbe. Die eine zeichnet konzentriert den antiken Torso von Belvedere ab – hat sich hier die Künstlerin selbst gemeint? –, die andere nimmt Farbe aus dem über ihr erscheinenden Regenbogen auf. Die Komposition mit der in Nachdenklichkeit versunkenen Figur erinnert an Dürers Kupferstich „Melencolia I“ und spielt auf die geistige Regsamkeit an (die neben ihr aufgestellten Figuren eines Schachbretts verlangen kluge Überlegung), während die offene Geste der Erfindung andeutet, dass ihr eine göttliche Eingebung vermittelt wird.
Angelika Kauffmann, die gebürtige Schweizerin, die in London und Rom eine gefeierte Künstlerin wurde, verzichtete auf eine komplizierte barocke Perspektive und jegliche illusionistischen Effekte, sie ließ ihre Figuren nicht auf Wolken schweben, sondern diese stehen fest auf dem Erdboden. Nach der Überführung in die heutigen Räumlichkeiten im Burlington House wurden die Deckengemälde im öffentlichen Raum der Eingangshalle zur Akademie angebracht. Jetzt werden sie erstmals außerhalb Londons im Kunstpalast Düsseldorf gezeigt und sind das „Herzstück“ der großen Düsseldorfer Kauffmann-Schau (bis 24. Mai, danach in London; gegenwärtig musste sie aber wegen der Virus-Pandemie zunächst bis zum 19. April geschlossen werden, Besichtigungen können allerdings digital unternommen werden).
Wer war dieses „Weib von wirklich außergewöhnlichem Talent“, wie Goethe mit etwas männlicher Arroganz sagte, denn Genie wollte er einer Frau nun doch nicht zubilligen? Goethe ehrte sie dennoch als die erste Malerin des Jahrhunderts, Herder sprach von ihr als die „kultivierteste Frau Europas“. Wie Zeitzeugen berichteten, schien damals die ganze Welt „angelicamad“ – verrückt nach ihren Werken.
Das Ausstellungs- und Publikationsprojekt profitiert von Forschungsergebnissen des Angelika Kauffmann Research Projects, das 1990 von Bettina Baumgärtel ins Leben gerufen wurde. Sie ist auch die Kuratorin der Ausstellung, die dieser einzigartigen Malerin gewidmet ist, die als Pionierin und Identifikationsfigur für nachfolgende Künstlerinnen weit über ihre Epoche hinaus wirkte. Es werden Schlüsselwerke – Selbstbildnisse, Porträts, Allegorien, Historienbilder und religiöse Darstellungen – aus ganz Europa präsentiert. Der im Hirmer Verlag erschienene Katalog – er hat den Charakter einer Monografie – versteht sich als eine Untersuchung zur Aktualität dieser „vielgereisten, weltoffenen Frau“, die „ein neues, europaweit vernetztes Künstlertum“ vertritt und „mit ihrem vielfältigen Oeuvre wesentliche Aspekte eines internationalen Klassizismus im Zeitalter der Aufklärung und Empfindsamkeit“ repräsentiert, so betont die Herausgeberin Bettina Baumgärtel.
Kauffmanns Werke galten als Inbegriff „weiblicher Kunst“ und die Künstlerin selbst als Inbild von Weiblichkeit. Von der Kunst von Frauen erwartete man Graziöses, Anmutiges, Gefälliges oder Harmonisches, idealisierende Schönheit, und so wurde auch dieser Künstlerin die Rolle der „schönen Seele“ zugewiesen. Weil sie eine Frau war, konnte sie im Zeitalter der Empfindsamkeit zur Leitfigur eines moralischen Künstlertums stilisiert werden, zumal sie von diesem Leitbild selbst durchdrungen war. Sie griff verschiedene Idealisierungstendenzen auf, um die Interpretation ihrer Person und ihres künstlerischen Könnens auf intellektuelle Art und Weise zu lenken und mit scheinbar charmanter Leichtigkeit die Richtung dafür vorzugeben.
Bereits der Titel ihres „Selbstbildnisses als Zeichnung, inspiriert von der Muse der Poesie“ (1782) ist Programm: Der Austausch der beiden Freundinnen, der Muse Malerei und Poesie, ist hier als Metapher der sich selbst inspirierenden Künstlerin und ihrer künstlerischen Autonomie zu lesen. Das Eigene als Verdoppelung des Ichs. Im „Selbstbildnis als Imitatio“ (1771) ist sie Malerin und inspirierende Muse in einem. Gerade in ihren allegorischen Selbstporträts greift Kauffmann den – männlichen – Topos des Malers mit seinem Modell auf. Die Muse wird als eine göttliche Vision verstanden, die Künstlerin zugleich zur göttlichen Gestalt erhoben.
Bettina Baumgärtel weist darauf hin, dass die Funktion der idealisierenden Selbstbildnisse Kauffmanns nicht erkannt wurde. Es sind „mehrschichtige Selbstentwürfe als professionale und geniale Künstlerin, als selbstbewusste Dame der höheren Gesellschaft, als alterslose Schönheit und göttliche Muse“. Da heute zudem weibliche Bildnisse oft als versteckte Selbstbildnisse oder -einschreibungen gedeutet werden, ist hier von einer mangelnden Distanz zwischen Autor-Ich und Werk zu sprechen – oder hat man das nicht auch als image-making, als gezielte Werbemaßnahme zu verstehen?
Helen Valentine fragt: Wie ist es zu den „Elementen der Kunst“, den vier Deckengemälden der Kauffmann für die Royal Academy of Arts, gekommen? Welches Programm verkörpern sie? Woher bezog Kauffmann ihre Anregungen? Über die Künstlerfreundschaft zwischen Angelika Kauffmann und dem 16 Jahre jüngeren Bildhauer Antonio Canova berichtet Johannes Myssok. Sie hat ihn porträtiert (um 1795), als Halbfigur zusammen mit seiner jüngsten Schöpfung, einem Modell der Herkules und Lichas-Gruppe, verhalten, fast scheu, ganz anders, als sich der Bildhauer drei Jahre später selbst als Maler an der Staffelei dargestellt hat. Beide lernten sich schon 1782 in Venedig kennen, die 40-jährige erfolgreiche Malerin und der 24-jährige, noch unbekannte Bildhauer. Seine Theseus und Minotaurus-Gruppe aber war der Wendepunkt in seiner Karriere und stellt das Gründungwerk der klassizistischen Skulptur dar. Ihre Beziehung drückt Verbundenheit wie auch geheimen Wettstreit aus. Und es war Canova, der nach ihrem Tod 1807 die außergewöhnliche Trauerfeier in der Kirche Sant’Andrea delle Fratte veranstaltete, in der sie auch beigesetzt wurde.
Zwei Gemälde („Agrippina trauert über der Urne des Germanicus“, 1793, und „Bildnis der Stegreifvirtuosin Teresa Bandettini Landucci“, 1794) aus der Sammlung des Kunstpalastes Düsseldorf hat Inken Maria Holubec untersucht und die individuellen Stilmerkmale von Kauffmanns Malerei in einem farbintensiven Lokalkolorit, im expressiven Duktus sowie in pointierten Licht- und Farbakzenten herausgestellt.
Der von Betttina Baumgärtel bearbeitete Katalog breitet dann das opulente malerische und auch zeichnerische Werk der Künstlerin aus: Zwischen Selbstinszenierung und Historienmalerei, Gruppen- und Einzelporträts, Frauen als „neue Heldinnen“ und schönen Jünglingen als beau idéal, dem Parnass der Musen mit seinen Maskeraden und Rollenspielen, mit Rom als Residenz der Künste und Kauffmanns internationalen Auftraggebern. Ein offensichtliches Wechselspiel zwischen Kunst und Leben bieten ihre Attitüdenporträts, Huldigungsbilder auf die Kreativität von Frauen, in den Topos der Künstlerin als Muse gekleidet. Die Bildnisse der berühmten Attitüdenkünstlerin Emma Hamilton, der Fortunata Fantastici oder der Teresa Bandettini sind „Lebende Bilder“, bühnenhafte Inszenierungen, in denen die Dargestellten Posen vorspielen, die als Posen auch erkennbar sein sollen. Mit anderen Worten: Die Künstlerinnen feiern sich selbst. Mit jedem neuen Porträt einer ihrer Künstlerfreundinnen, wie der Stegreifvirtuosin Fantastici als Terpsichore, der Muse der chorischen Lyrik, der Sängerin Sarah Harrop als Erato, der Muse der Hymne, des Liebesliedes und Tanzes, oder der Lady Hamilton als Thalia, der Muse der Komödie, und der Cornelia Knight als Kalliope, der Muse des heroischen Gesangs und des Epos, vervollständigte sich ihr Reigen der neun Musen des Parnass. Und der Kardinal de Bernis bezeichnete Kauffmann dann selbst als „die zehnte Muse Roms“.
Ihr wichtiges „Selbstbildnis am Scheideweg zwischen Musik und Malerei“ (1792), die Malerin zwischen ihren beiden Talenten, Musik und Malerei, gestellt, ergibt eine kühne Formulierung ihrer eigenen Lebensgeschichte. Dem ikonografischen Schema des Herkules am Scheideweg zwischen Tugend und Laster folgend, nimmt sie selbst die Stelle des Herkules im Bild ein, beansprucht damit das Inbild potenter Männlichkeit für sich und demonstriert Stärke in der Wahl des richtigen Weges.
Das „Bildnis Johann Joachim Winckelmann“ (1764), der heute als der Begründer der deutschen Kunstwissenschaft und Archäologie gilt, malte die 22-Jährige als typisches Gelehrtenporträt: Der Porträtierte hält kurz vor der Niederschrift inne, also im Moment der Inspiration, in der rechten Hand die Schreibfeder, und stützt sich auf ein aufgeschlagenes Buch, Sinnbild der Gelehrsamkeit, das wiederum auf einem antiken Relief mit der Darstellung der Drei Grazien liegt. In der Geste des melancholischen Denkers stellt sie ihren Künstlerkollegen Joshua Reynolds 1767 dar. Es ist, als horche dieser auf die Einflüsterungen der Büste Michelangelos zu seiner Seite, bevor er mit der Arbeit auf der noch leeren Leinwand im Hintergrund beginnt. Ein ungewöhnlich lebendiges und in der psychologischen Auffassung frisches Bildnis des berühmten Schauspielers und Shakespeare-Darstellers David Garrick (1764) machte Kauffmann noch vor ihrer Ankunft in England bekannt: „Ein Schauspieler, der alles Schauspielerische abgelegt hat“, so Oscar Sandner, „Garrick spielt sich selbst“. Dieser hat sie auch als erster zu vielen Shakespeare-Szenen angeregt.
Das Gruppenbildnis der Familie Leveson-Gower (1772), die zu Kauffmanns wichtigen Auftraggebern der frühen Londoner Jahre zählt, erscheint in einem großen Tableau in freier Natur. Es ist keineswegs ein höfisches Porträt, sondern eine sehr familien- und gefühlsbetonte ländliche Szene geworden, das auf alle Herrschaftsinsignien oder Pathosformeln verzichtet. Nicht nur der europäische Hochadel stellte sich bei Kauffmann mit Porträtaufträgen ein, sondern sie hat auch zu bedeutenden Malern, Dichtern und Literaten eine Herzensfreundschaft fast kultisch zelebriert und dies in einer ganzen Freundschaftsgalerie festgehalten. Hier sollte vor allem das Gesicht als Spiegel der Seele sprechen, und so zeigen die Freundschaftsbildnisse nichts als den privaten Menschen. Damit erwies sich die Künstlerin als eine typische Vertreterin des aufklärerischen Gedankenguts.
Die „schöne Seele“ in Rom war auch der Liebling des Weimarer Kreises. Sie schenkte Goethe sein Porträt (1787, es befindet sich im Goethe-Nationalmuseum Weimar) als Freundschaftsgabe, ein wertherisches Jünglingsporträt – während Goethe mehr die Überhöhung wollte, die ihm dann Johann Heinrich Tischbein mit seinem monumentalen Gemälde „Goethe in der Campagna“ (1787) anbot. Diesem Inbegriff eines empfindsamen Porträts stellte sie als Pendant dann das ebenfalls verjüngte Porträt Herders (1791) entgegen. Sie schuf auch Illustrationen zu Goethes Werken, die Goethe hoch geschätzt hat. Einige sind als Titelkupfer in die Göschen-Ausgabe der Goetheschen Schriften eingegangen. In mehreren Porträts zeigte sie die Dargestellten in antikisierendem Gewand und umgeben von Requisiten à la Pompeji („Weibliches Bildnis als Vestalin“, vor 1780).
Kauffmann malte als eine der ersten Künstler Englands Nationalhistorien zur alten englischen Geschichte, um der Gattung Historie neue Aktualität zu geben. Dabei räumte sie Frauen eine tragende Rolle ein, der Trauernden an der Grablege oder Urne Shakespeares (1772), Eleanora von Kastilien („Eleanora saugt Gift aus der Wunde ihres Mannes, des Königs Edward I.“, 1776) oder der aus Liebe wahnsinnig gewordenen Hirtin aus Laurence Sternes „Yoricks empfindsame Reise“ („Die irre Marie“, 1777); die römischen oder griechischen Heldinnen wie „Cornelia, Mutter der Gracchen“ (1785), die Figuren der ohnmächtigen Julia und Oktavia oder Alkeste („Alkestes Tod“, 1790) sind für sie die Bewahrerinnen der Menschlichkeit.
Ihr letzter großer Porträtauftrag war ein lebensgroßes Bildnis des bayrischen Kronprinzen und späteren Königs von Bayern, Ludwig I., dessen Faszination von Roms Altertümern und historischer Landschaft sie durch das einsam dastehende Kolosseum und die fernen blauen Ausläufer der Albaner Berge im Hintergrund Ausdruck verlieh. Da war sie schon sterbenskrank und konnte nicht einmal mehr ihre Signatur anbringen.
Diese Monografie bringt nicht nur für die Angelika-Kauffmann-Forschung Neues und Wissenswertes, sondern sie lädt zugleich als illustrierter Prachtband zum genussvollen wie anregenden Blättern ein.
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