Verklungene Klänge innovativ erforscht
Martin Clauss, Gesine Mierke und Antonia Krüger machen mit „Lautsphären des Mittelalters“ historische Akustik wieder hörbar
Von Tina Terrahe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKlang, Lärm und Stille geraten als akustische Phänomene aktuell immer stärker in den Fokus der Forschung. Das dabei stets formulierte methodische Grundproblem, die Geräusche der Vergangenheit seien nicht erforschbar, weil sie bereits seit langer Zeit verklungen und somit nicht mehr hörbar seien, darf angesichts des hohen wissenschaftlichen Interesses und der inzwischen erzielten Ergebnisse getrost relativiert werden: Der Band Lautsphären des Mittelalters. Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille kann ein differenziertes Bild (spät-)mittelalterlicher Geräuschkulissen zeichnen und vor allem sehr konkrete Aussagen zu Funktion und Bedeutung verschiedenster Klänge treffen. Selbst wenn die Akustik vergangener Zeiten heute nicht mehr wahrnehmbar ist, zeigen die Analysen mit ihren kreativen Zugängen doch eine Vielzahl von Quellen und Methoden, mittels derer das Unhörbare rekonstruiert, analysiert und in seiner Relevanz für gegenwärtige Fragestellungen fruchtbar gemacht werden kann.
Der Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die im September 2016 an der Universität Chemnitz von den Herausgeber*innen veranstaltet wurde und sich zwar in eine Serie von Tagungen zum Thema des Klangs in der Vormoderne einreiht, mit dem geschichtswissenschaftlichen Zugang allerdings bisher noch nicht erforschtes Neuland betritt. Dementsprechend gründlich erfolgt daher auch die in der Einleitung unternommene Verortung in der aktuellen Forschungslandschaft, die es dem/der Leser*in erleichtert, sich im Bereich der sound-studies und des nun schon seit geraumer Zeit etablierten acoustic turns zu orientieren und tiefgreifender zu informieren.
Die anvisierte und in der Einleitung angekündigte Interdisziplinarität der Studien ist nur ansatzweise gegeben. Sieht man von kleinen Abstechern in die Theologie, Archäologie, Musik- und Kunstwissenschaft sowie Sound- und Akustikforschung ab, kommt neben den Geschichtswissenschaften lediglich die germanistische Mediävistik als zweite Disziplin explizit zu Wort, und besonders vermissen die Herausgeber*innen selbst zurecht Anknüpfungen an die Musikwissenschaften. Zeitlich bewegen sich die Analysen überwiegend im Grenzbereich zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit und behandeln zumeist Geräuschkulissen, die im Kontext der Städte und ihrer Umgebung auftreten.
Das Ziel des Bandes, neben neuen kulturgeschichtlichen Erkenntnissen auch „Ansätze begrifflicher Konsolidierungen für die ‚mittelalterliche Akustikgeschichte‘“ vorzulegen, ist ambitioniert und letztlich nur vom Leser selbst anhand des Registers zu leisten; erste Schritte zu einer Bestandsaufnahme der deutschen Mediävistik in einem neuen Forschungsfeld liefert der Band aber jedenfalls. Die Einteilung der Beiträge in thematische Sektionen gestaltet sich ebenfalls schwierig, da es großflächige Überscheidungen gibt, die ich im Folgenden herauszustellen versuche.
Die genuin altgermanistischen Beiträge behandeln sämtlich akustische Phänomene in literarischen Texten des Hochmittelalters, die sie auf Funktion und Semantik von Klang, Geräusch und Stille hin befragen. Während Christoph Schanzes Untersuchungsfeld im Minnesang dabei auch die noch schwieriger zu rekonstruierende Performanz mit einschließt und er aufgrund dieser Aporie den Fokus auf Klangeffekte des Textes zu richten gezwungen ist, stellen Gesine Mierke und Almut Schneider literarische Schilderungen des Hörbaren ins Zentrum ihrer Studien zur mittelalterlichen Epik. Aufgrund der Vielzahl von Darstellungs- und Rezeptionsmöglichkeiten plädieren beide Autorinnen in ihren Beiträgen – teils unter Berücksichtigung der antiken Wahrnehmungstheorie – für eine synästhetische Erweiterung der Forschungsperspektive. Hervorzuheben wäre dabei etwa der Zusammenhang zwischen der Stimme und dem seelischen Zustand der entsprechenden Person oder auch die differierenden Implikationen von Stille, die je nach Setting erheblich variieren können.
Mierke berührt mit ihrer Analyse von Lautsphären rund um den Auftritt des Herrschers dann ein zentrales Themenfeld, das sich auch durch die übrigen Beiträge zieht, nämlich den Zusammenhang von Klang, Macht und Performanz, den man verkürzt auf die Formel bringen kann: Wer öffentlich Klang produziert, besetzt einen akustischen Raum und inszeniert performativ die eigene Macht. Dies führt unweigerlich zu Konflikten, zum Wettstreit, zum Gefühl des Gestört-Werdens und somit zum Lärm – ein weiterer thematischer Schwerpunkt des Bandes, der anhand verschiedener historischer Perspektiven beleuchtet wird.
Das Agonale, den Konnex zwischen Musik und Ehre sowie dessen musikalische Inszenierung arbeitet Christian Jaser beispielsweise an Pferderennen heraus. Agonal wird das Klangliche in jeglicher Form auch dann, wenn es subjektiv als Störung empfunden wird. Unter dieser Prämisse untersucht Julia Samp den Briefwechsel des Willibald Pirckheimer und definiert Lärm als ein Medium sozialer Distinktion: Die Voraussetzung für die wissenschaftliche Tätigkeit, ein innerer Friede und die Muße des Gelehrten, wird durch die Geräusche des Hofes und der Stadt gestört; auf diese Weise gefährdet der soziale Raum der lebenserhaltenden Gewerbe, gefährden Bauern und Handwerker die schriftstellerische Tätigkeit.
Drei Beiträge zeichnen sich durch einen eher rekonstruktiven Ansatz aus, wobei die Quellengattung, die Achim Thomas Hack behandelt, mehr Fragen als Antworten aufwirft: sogenannte Tierstimmenkataloge, die in langen und „nackte[n] Listen“ von (teils onomatopoetischen) Lautverben klangliche Äußerungen von Tieren wiedergeben. Für eine Bestandsaufnahme des (in diesem Fall frühmittelalterlichen) akustischen Raums sind solche Quellen wesentlich, obgleich die Sinnhaftigkeit dieser „gleichförmigen Einträge“, die einerseits zwischen Buch- und Erfahrungsgelehrsamkeit, andererseits zwischen Wortkunst und -spielerei changieren, sich selbst dem Autor nicht unmittelbar erschließt. Der Beitrag zur ‚Listenwissenschaft‘ schließt selbst mit einer nackten Liste von 130 Lautverben und versteht sich als Auftakt für ein noch zu schreibendes Lexicon vocum.
Während die Kataloge eine Rekonstruktion mittelalterlichen Klangs durch lautes Vorlesen des geschriebenen Wortes nur potenziell ermöglichen, handeln zwei weitere Beiträge von ganz konkreten Nachahmungen historischer Akustik. Stefan Bürger nimmt die historisierende Burg-Baustelle im franz. Guédelon unter klanglichen Aspekten in den Fokus, um die Geräuschkulisse einer mittelalterlichen Stadt anschaulich zu machen, und Boris Gübele berichtet über die Rekonstruktion einer öffentlichen Redesituation in der Königshalle der karolingischen Kaiserpfalz in Ingelheim. Dieses tatsächlich interdisziplinäre Projekt konnte in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut Stuttgart nachweisen, dass eine gesprochene kaiserliche Rede in der voll besetzten Aula regina zu verstehen gewesen sein muss und das gesprochene Wort wirksam werden konnte.
Mit dem wichtigsten akustischen Element der Vormoderne, der Glocke, beschäftigen sich schließlich alle übrigen Beiträge. Als Medium der Massenkommunikation, als Machtinstrument und Mittel zur Vereinnahmung von Raum spielt die Glocke nicht nur im sakralen, sondern auch im politischen Raum und somit im Kontext von Macht eine essenzielle Rolle. Gerhard Dohrn-van Rossum gibt einen breit angelegten Überblick über jegliche Arten von Glockenklängen: vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit und im Hinblick auf Tradition, religiöse und pragmatische Funktionen. Besonders interessieren ihn Konstellationen, in denen „mehrere Religionen Anspruch auf die Gestaltung der Lautsphäre erhoben“, nämlich die Konkurrenz der christlichen Glocken mit den osmanischen Minaretten, womit die Studie nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch den sonst europäischen Rahmen des Bandes sprengt. Die im Gegensatz dazu eher kleinteilig angelegte Analyse von Gerald Schwendler stellt sehr anschaulich die gewiss auch überregional gültigen Funktionen von politischen Glocken im stadtbürgerlichen Kontext von Chemnitz und Braunsberg dar und schildert, wie in Konfliktsituationen mithilfe von Sturm- oder Ratsglocken sogar politische Aufstände herbeigeläutet werden konnten. Die basalen Funktionen von Glocken in der Vormoderne wiederholen sich naturgemäß in den zahlreichen Beiträgen zum gleichen Medium (Strukturierung und Rhythmisierung des Alltags, Vorgabe von Zeit und Norm).
Akustisch schlagen sich besonders die großen Umbruchsphasen im Laufe der Zeit nieder und hinterlassen klanglich veränderte Spuren – seien es die Reformation oder auch die moderne „Entglockung“ mithilfe von Gerichtsprozessen, an der die veränderte Wahrnehmung ablesbar wird: Glockenklang ist heute Lärm. Glockenklang setzt aber immer auch Wissen voraus, denn ohne die Kenntnis um die Bedeutung des akustischen Signals ist keine Deutung möglich. Dass Glocken auf diese Weise der „Vernetzung individueller Sinneserfahrungen im sozialen Kontext“ dienen und somit eine „Wechselbeziehung zwischen akustischem Ereignis und sozialem Gefüge“ herstellen, arbeitet Antonia Krüger am Beispiel der reformatorischen Veränderungen heraus. Arnd Reitemeier und Sabine Reichert zeigen an kirchlichen Prozessionen, wie der sakrale Raum durch klangliche Inanspruchnahme über die gesamte Stadt erweitert und damit die profane Sphäre sakralisiert werden konnte, wobei die Stille als Voraussetzung für diesen Vorgang besonders bedeutsam ist.
Ein nicht zu langes Register rundet den Band ab. Dieses ist zwar nützlich, doch sind einige Lemmata wie etwa „sprechen“, „hören“ oder „klingen“ aufgrund ihrer häufigen Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch nicht immer aufschlussreich. Die Vielfalt der zurate gezogenen Quellen hingegen ist beeindruckend: Neben Chroniken wurden Bildquellen, Literatur, Architektur, eine Baustelle und vieles mehr genutzt, um die verklungenen Klangkulissen wieder zum Leben zu erwecken und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zugänglich zu machen. Neben den eindrücklichen Studien zu einzelnen Lautsphären liefert der Band zumindest zur Funktion und Bedeutung der Glocke in der Vormoderne breit gefächerte Ergebnisse. Insgesamt zeigt er die mögliche Bandbreite der sound studies im historischen Kontext und gibt kreative Impulse für künftige Studien.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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