Vom Wasserstandsmesser zum deutsch-tschechischen Brückenbauer

Zum Tod des tschechischen Historikers Jan Křen (1930–2020)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Als im Zuge der „Samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei unter der Federführung des charismatischen Dichterpräsidenten Václav Havel die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes einer grundlegenden Veränderung ausgesetzt waren, sollte das nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehungen zu den Nachbarstaaten bleiben. Eine der ersten wichtigen Entscheidungen nach dem Ende der kommunistischen Diktatur in der ČSSR stellte die Verabredung mit Deutschland bezüglich einer damals noch tschechoslowakischen Historikerkommission dar. Für die akademische Redlichkeit bürgten seinerzeit die Vorsitzenden Rudolf Vierhaus (Göttingen), Jan Křen (Prag) und Dr. Dušan Kováč (Bratislava).

Der 1930 in Prag geborene Jan Křen hatte in seinem Land zu jener Generation gezählt, die im Zuge des Protektorates Böhmen und Mähren Demütigungen und Verfolgung durch die Schergen des deutschen Nationalsozialismus erlebt hatten und sich in den späten 1940er Jahren der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zugewandt hatten, um einen derartigen Ungeist für alle Zeiten zu verunmöglichen. Nach seinem Studium für Geschichte an der Prager Karls-Universität hatte Jan Křen bereits in frühen Jahren seinen Forschungsschwerpunkt auf die historischen Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen gerichtet, welchem er sein weiteres Leben lang treu geblieben war.

Sehr bald hatte jedoch Jan Křen, wie viele seiner reformorientierten Kollegen und Freunde, die brutale Wucht des Stalinismus zu spüren bekommen. In der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 hatte das Bestreben, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, seine augenfälligste Niederlage erlitten. 

Wie Tausende anderer Historiker, Ökonomen, Philosophen, Soziologen und Schriftsteller war auch Jan Křen aus ideologischen Gründen untersagt worden, seine akademische Karriere fortzuführen. Da er das Bürgerrechtsmanifest CHARTA 77 unterzeichnet hatte, gab es für Křen zudem  keine Möglichkeiten mehr, im Lande zu publizieren. Während der bleiernen Jahre der sogenannten „Normalisierung“ hatte Jan Křen über nahezu zwei Jahrzehnte hinweg sein Auskommen als einfacher Arbeiter bei den Prager Wasserwerken gefunden. Trotzdem setzte er unter widrigsten Bedingungen seine Forschungsarbeiten fort.

Im nach wie vor aktuellen Sammelband Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler, herausgegeben von Doris Liebermann, Jürgen Fuchs und Vlasta Wallat, wird die intellektuelle Unbeugsamkeit kritischer Intellektueller während des „real existierenden Sozialismus“ lebhaft illustriert. Jan Křen berichtet hier von seiner „Deutschland-Forschung im Bauwagen“, die er als Wassermesser in der Provinz betrieben hatte.  Křen nutzte zusammen mit seinen Arbeitskollegen Václav Kural und Karel Pichlík, welche als Historiker ebenfalls einem Berufsverbot unterlagen, den erzwungenen Aufenthalt in einem Bauwagen zu ausgiebigen wissenschaftlichen Diskussionen. Über die Jahre hinweg schrieb er an seinem großen Werk, das 1986 maschinengetippt im tschechischen Samisdat erschien und seit 1996 auch in deutscher Sprache vorliegt: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918. Jan Křens Begriff der „Konfliktgemeinschaft“, mit welchem er die über Jahrhunderte hinweg bestehende Nachbarschaft der Deutschen und Tschechen in einem wechselnden Neben-, Gegen- und Miteinander beschrieb, hat längst Eingang in die einschlägige wissenschaftliche Diskussion gefunden.

Nach der „Samtenen Revolution“ war es Jan Křen wieder möglich, seine zahlreichen Aufsätze, Beiträge und Bücher zu veröffentlichen. Neben Gastprofessuren in Deutschland hatte Jan Křen jetzt auch in seinem eigenen Land die Möglichkeit, seine umfangreichen Kenntnisse einzubringen und höchste akademische Ämter und Funktionen auszuüben. Für seine Verdienste um die Erforschung deutsch-tschechischer Beziehungen in der älteren, aber auch jüngsten Vergangenheit wurde er sowohl in Deutschland wie auch in Tschechien mit hohen Auszeichnungen gewürdigt.

Jan Křen ist am 7. April 2020 im Alter von 89 Jahren verstorben. Sein Ableben wurde in den tschechischen Medien mit dem derzeit grassierenden Corona-Virus in Zusammenhang gebracht.