Fundierte philosophische Reflexionen zu einer Gefühlstheorie

Marica Bodrožić erkundet „Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe“

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Walter-Hasenclever-Literaturpreisträgerin 2020 der Stadt Aachen, Marica Bodrožić, hat im Sommersemester 2017 Poetikvorlesungen an der TU Braunschweig gehalten, die im Rahmen der „Ricarda-Huch-Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt“ stattfanden. Die seit 2015 durch Stadt und Hochschule verliehene Auszeichnung im Gedenken an die 1864 in Braunschweig geborene Huch umfasst neben einem Preisgeld auch einen dotierten Lehrauftrag. Der daraus resultierende Band mit dem Titel Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe. Essays setzt mit der Veröffentlichung in der sehr renommierten Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ des Matthes & Seitz Verlags aber einen klaren Akzent auf die Philosophie.

So sind zwar Ricarda Huch-Lektüren in diesem Werk vorhanden und es werden auch starke Frauen als Künstlerinnen vorgestellt, wie zum Beispiel die bildende Künstlerin Louise Bourgeois und die Musikerin Patty Smith, aber der Schwerpunkt liegt mit dem Haupttitel „Poetische Vernunft“ auf einer Gefühlstheorie. Bodrožić bedient hier allerdings kein neumodisches Terrain wie die „Affect Studies“ als Pendant zu Gender Studies oder wie die „ästhetischen Gefühle“, die das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik nach Mess-Skalen der statistischen Psychologie erforscht. Die Autorin arbeitet vielmehr an einer verbindlichen philosophischen Grundsatzreflexion, eben einer „poetischen Vernunft“, keiner theoretischen, praktischen, zynischen, logozentrierten, anderen, weiblichen, schwarzen oder Ähnlichem. Ihre Methode ist sprachkritisch-zeitreflexiv, wie es der Untertitel „Zeitalter gusseiserner Begriffe“ benennt.

Diese Formulierung fordert heraus: Ist es die „Zeit der gusseisernen Lerchen“, wie Peter Huchel die politische Funktionalisierung der DDR-Literatur 1956 nannte? Der Chefredakteur der Kulturzeitschrift Sinn und Form, der das Ende seiner liberalen Gestaltung des Organs mit dem Tod Bertolt Brechts kommen sah, kritisierte eine politische Vereinnahmung der Poesie zur Indoktrination, die durch die SED-Partei mit den Parolen und Pionier-Losungen von Frieden und Völkerfreundschaft vorgegeben war.

Die Metapher des alten Werkstoffes des Gusseisernen zielt auf die immergleichen Gedanken, die gleichsam durch die gusseisernen Mühlen als Gerätschaften des Funktionalismus gedreht werden und dann nur noch Schablonen, Klischees bilden. Peter Huchel verwendet das Attribut in Anspielung auf Heinrich Heines Beschreibung Georg Herweghs als „eiserne Lerche“ (1844), mit der im Vormärz eine politische Wachheit als Aufbruch gefordert wurde. Als „die gusseisernen Begriffe unsere Zeit“, die in großen Lettern die Medien- und Kulturlandschaft in Einheitsprägung abgenutzter Münzen bestimmen oder auch mit einem ewig gleichen Geläute gusseiserner Glocken in aller Grobheit verkündet werden, sieht Bodrožić „Gleichberechtigung oder Solidarität“. Diese Ziele sind für sie „entleert“, ‚geeicht‘, Demokratie unterwandernde „Suchtmittel“ aus dem „Bedürfnis nach billigem Glück“ und „falscher Geborgenheit“. Das „Gift der Parolen“ muss den Zielen entzogen werden durch eine „Reinigung in der Reise ins eigene Innere“, sie müssen dadurch wieder ins „Selbst-Denken“ und ‚‚Selbst-Empfinden“ zurückführen, ins politisch Lebendige, das sie mit Hannah Arendt unter Bezug auf die Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft im Erhalt der Pluralität sieht, womit sie gegen die Zerstörung dieser im fixierenden Festhalten an Begriffen kämpft.

In welcher Weise kann eine Gefühlstheorie diese Begriffe kritisieren, ihren Wahrheitsgehalt prüfen und ihre Aussagekraft durch die destruktive wie konstruktive Kritik der poetischen Vernunft in die richtige Richtung lenken? Nun hat Bodrožić mit ihrem in der breiten Lese-Öffentlichkeit erfolgreichsten Roman Kirschholz und alte Gefühle schon 2012 die Kindheit in Dalmatien als ein „altes Gefühl“ mit dem Leben in Paris und Berlin als „neues Gefühl“ gleichwertig aufs Tapet gebracht, symbolisch auf den Kirschholztisch, den Küchentisch der Großmutter, ein Familienerbstück, das mitwandert. Das Gefühl, eine Heimat zu haben, wird zum Gefühl, in der Sprache ein Zuhause zu gewinnen, darin ist sich Bodrožić mit Hannah Arendt im Statement von der Sprache als befriedigendem Verstehen wie ein „Heimatgefühl“ einig. Solche Sprache unter dem Blickwinkel „poetischer Vernunft“ erweist sich als theoriefähig. Bodrožić analysiert die Rationalität der Emotionalität wie in hochkarätigen Philosophieansätzen, z.B. dem von Ronald de Sousa (1987), auf den sich z.B. Martha Nussbaum beruft.

Das erste Theorem ist, dass Gefühle in einem empfindenden Körper entstehen, nicht durch ihn, wie bei William James (1892), aber im Wahrnehmungssensorium, das eine Wirklichkeit schafft, die vielleicht nicht von außen sichtbar und hörbar ist, aber von innen. Hier greift Bodrožić nicht nur in dem gleichnamigen Kapitel „der Körper als Erzähler“ eine Phänomenologie des Zitterns, der Ohnmacht, des Kopfschmerzes auf und rückt sie ins Zentrum einer Produktionsbedingung von Literatur. Darin liegt eine Nähe zu Siri Hustvedts Texten, z.B. Die zitternde Frau (2010), Bodrožić zitiert aus dem Essayband Hustedts Leben, Denken, Schauen (2015). Zerbrechlichkeit, Instabilität, Ambivalenz in Vexier-/ Kipp-Figuren sind darin Grunderfahrungen und Schreibanlässe. Vor allem untersucht Bodrožić aber auch das Wort „Wahrnehmung“ und entwickelt, im Gespräch mit Wahrigs Deutschen Wörterbuch, über die Bedeutungen „Wahrheitssinn“ und „Fähigkeit, etwas als wahr oder unwahr zu erkennen“, die literarische Bedeutung als „Gabe, die Wahrheit zu nehmen“. So wird ein „gusseiserner Begriff“ wie Wahrnehmung, Achtsamkeit oder Anerkennung der Berechtigung von Gefühlen zu einem lebendigen Akt der poetischen Vernunft.

Ein zweites Theorem liegt in der Antwort auf die Frage, ob Gefühle, wie der lateinische Name sagt, passiv sind (vgl. lateinisch „passio“) oder aktiv. Dass Gefühle eine Bewegung, eine Motivation initiieren und dass sie deshalb für das menschliche Handeln entscheidend sind, formuliert schon Aristoteles als Begründer einer Gefühlstheorie gegenüber Platons Trennung von Kopf und Körper. Für den politisch „gusseisernen Begriff“ ‚Frauenbewegung‘ wählt Bodrožić differenziert die poetisch vernünftige Kapitelüberschrift „In Bewegung – die erwachenden Frauen“, eine kleine, feine Differenzierung, die hilft, Vorurteile abzustreifen. Vor allem in diesem Kapitel entfaltet die Autorin ihre Gefühlstheorie im Wortfeld des Inneren als eines ‚genauen Gefühls‘: „Fühlung“, „ausgestattet mit einem hochsensitiven Sensorium“, „Empfindungsfähigkeit“, „seelische Intelligenz“, „mittels Sprache erlangte Rückeroberung unserer Innenwelt“.

Schließlich liegt im dritten Theorem der Höhepunkt: Gefühle sind symbolisch vermittelt. Hier ist die Literarizität herausgefordert, die Kunst des Schreibens über die Lebendigkeit der Gefühle. Dabei konkretisiert Bodrožić die Symbolbildung oder Symbolschöpfung durch das Verfahren der Synästhesie, da dabei der Zusammenhang der Wahrnehmungen und damit der Welt gewahrt bleibe. Synästhesie beschreibt die Autorin mit Walter Benjamin als Verknüpfung, Verflechtung, Verbindung, Verwandlung wie im Traum, eine „Innen-Bilder-Schau“, ein Sich-selbst-beim-Sehen-Zusehen oder -beim-Hören-Zuhören. Hochwertwörter für das Gelingen sind „vollständig selbstempfunden“, „tanzend-rhythmisch“ und „schönwild“ .

So ist der Weg bereitet, sich Bodrožićs poetischen Werken zuzuwenden, deren Literaturtheorie in diesen Essays bereitet ist. Wenn Bodrožić Walter Benjamins Empfehlung zum „Befragen der Sterne – selbst allegorisch verstanden“ aufgreift, liegt ihr Band Sterne erben, Sterne färben (2007, 2. A. 2016) parat, in dem die Autobiographie der Autorin mit ihrer „Ankunft in Wörtern“, in einem Prozess des Zur-Sprache-Kommens, einer der Lebensgeschichte chronologisch parallelen „Biographie der Wörter“, vorgestellt wird. Die Allegorie des Geburtssterns, Glücks- oder Unglücks-Sterns wird vertieft durch die Lebens-, Lese- und Schreib-Handlung – das ‚Erbe‘ zu ‚färben‘.

Jede Annäherung an das Leitmotiv „Stern“ im Doppelsinn von tradierter Herkunft und und literarisch bereits präsent imaginierter Ankunft in einer Zukunft ist sprach- und verstehenskritisch. Darin formuliert die Autorin das die aktuelle Philosophie umtreibende Konzept einer ‚Kognition der Emotion‘ in klassischer Form: „Der Verstand gibt auf. Alles auf einmal zu denken vermag er nicht. Aber das Herz, ein Organ der Seele, hält all den Widersprüchen, Widrigkeiten, aller Verlorenheit und Gegenwart, allem Gehenden und Kommenden stand.“ In beiden Essaysammlungen von 2007 und 2019 werden Problemkonstanten des biographisch-ideographischen Werkes sichtbar: „Sprechen war zu Hause immer ein Widersprechen gewesen.“ (2007) – „Jedes Wort konnte mir als Widerwort ausgelegt werden. Das Sprechen war für mich viele Jahre ein Synonym für das Aufbegehren.“ (2019)

In welchem Verhältnis steht diese Essay-Sammlung von 2019 zu Bodrožićs Betrachtungen unter dem Titel Das Auge hinter dem Auge von 2015 im Otto Müller Verlag? Auch hierbei handelt es sich um zwei Poetikvorlesungen, gehalten am 16. Oktober und 10. November 2014 an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. In diesen geht die Autorin vor allem auf das Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt ein, um aus der Tradition der Romantik und einer extensiven Rezeption europäischer Poetik, vor allem der französischen, den „Raum der Selbst-Erfindung“, der „Erinnerung“ als ‚innerer Landschaft‘, im „mäeutischen Nach-innen-Hören“ zu erkunden. In den Essays von 2019 tritt eher die äußere Wirklichkeit ins Blickfeld, die politische, historische, welthaltigere. Es sind aber nur zwei sich ergänzende Perspektiven des Ausbuchstabierens eines „Weltinnenraums“, den die Autorin als Europäerin in den Kulturorten als Lebensplätzen und den Sprachen Europas als konstanten Lektürebegleitungen bereist hat.

Wie genau Bodrožićs Kenntnisse ihrer Lektüren fundiert sind, zeigt sich an den Hannah Arendt-Bezügen. In Das Auge hinter dem Auge geht sie auf Arendts Auffassung der Methode des Verstehens ein, die Arendt im Vorwort der ersten englischen Ausgabe des Totalitarismus-Buches beschreibt, und fasst den Bezug folgendermaßen: „Wir widerstehen der äußeren Wirklichkeit nur, wenn wir sie genau kennen, ihr ‚ins Gesicht sehen und widerstehen‘.“ Das ist die Alternative zu ‚gusseisernen Begriffen‘, das ist Begreifen als Akt des Erkennens, als Vollzug im Schreiben und im daraus folgenden politisch-öffentlichen Gespräch darüber.

Wie Durs Grünbein kann auch Marica Bodrožić unter der Frage betrachtet werden, inwieweit sie, wie Grünbein gerade bei der Jurybegründung für den Internationalen Literaturpreis der Zbigniew-Herbert-Stiftung 2020 attestiert wurde, „eine lebendige Verbindung mit Kunst und Philosophie“ eingeht, „die Existenz ständig der Prüfung der poetischen Analyse“ unterwirft und „eine einst zerstörte Brücke zwischen Dichtung und Philosophie“ wieder aufbaut. Es gelingt ihr ohne Frage, entsprechend kann wie bei Grünbein auch die polarisierende Entscheidungsfrage zwischen einer als genial zu bezeichnenden, immer wieder erschlagenden Gebildetheit und einem nur bemühten und ermüdenden Angelesensein der Zitate beantwortet werden.

Ja, wenn schon Literatur, dann Poesie und Poetizität, die die Sprache erweitert, erfrischt, voranbringt und damit auch unser Denken, eben poetische Vernunft, wie die von Marica Bodrožić. Ja, diese Essays sind eine wirkliche Grundlagen-„Schrift“, die als philosophische Thesenschrift, in dieser renommierten Reihe exzellent platziert, rezipiert werden sollte, in aller Breite und deshalb zur Lektüre dringend empfohlen werden soll, gerade in Zeiten, in denen der Appell an die Vernunft nicht einen gusseisernen Begriff meint, sondern eine genau gefühlte Verantwortung jedes/jeder Einzelnen für die Pluralität des Wir, auf der Basis eines Sprache, die Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit klar benennt.

Titelbild

Marica Bodrožić: Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe. Essays.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
204 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577276

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